Die Arbeiterturnbewegung hat in Deutschland schon Ende der 70er Jahre im vergangenen Jahrhundert eingesetzt. Zur Begründung des Arbeiterturnbundes kam es erst am 18. September 1892 in Berlin. Eine erstmalige allgemeine Heerschau hat das Leipziger Fest geboten, das in den Tagen vom 22. bis 27. Juli ds. Js. abgebalten wurde. Schon allein die Teilnahme von über 11,000 Ausländern zeigte, welch weite Kreise die Arbeiter-Turn- und -Sport – Bewegung zieht. Ausserdem etwa 80,000 Teilnehmer aus rein sportlichen Arbeiterorganisationen. Mit den Arbeiterorganisationen Leipzigs verbunden, war dieses Fest das grösste für den Arbeitersport, das bisher in Deutschland gezeigt worden. Als Vorläufer kann nur das süddeutsche Arbeiterturnfest 1912 angesprochen werden, das aber in der Gesamtbeteiligung und in der umfassenden Durchführung gegen Leipzig zurückblieb.
Die offizielle Eröffnung des Festes erfolgte am Sonnabend.
Die Hauptproben am zeitigen Nachmittag für die Glanzpunkte des Festes — die allgemeinen Festübungen der Turner und der Turnerinnen, die Massenvorführungen der Sportler in zweifacher Darbietung als Nacktturner — erbrachten schon an diesem Tage den Beweis, dass ihre Gesamtwirkung nur eine günstige sein kann. Der Festsonntag hat dies in hohem Masse erfüllt.
Die turnerische Arbeit setzte an beiden Tagen immer schon frühzeitig ein. Die sportlichen Einzel- und Mehrkämpfe wurden am Sonnabend vormittag durchgeführt. Inzwischen er folgte die Eröffnung der mit dem Feste verbundenen Turn- und Sportausstellung. In pietätvoller Weise gedachte man auch der in Leipzig verstorbenen Bundesvorstandsmitglieder durch Kranzniederlegung auf dem Südfriedhofe. Mit grossem Geschick veranstalteten die Spielmannschaften am späten Nachmittag auf 85 Leipziger Sportplätzen Fussball-Propagandaspiele! Begrüssungsfeiern in 36 Lokalen der Stadt und der Vororte beschlossen den ersten Festtag.
Der Festsonntag machte am zeitigen Morgen ein mürrisches Gesicht. Es batte über Nacht geregnet. Später brach aber doch noch die Sonne durch. Die turnerische Arbeit begann zeitiger, als am Vortage. Vereinsturnen, sportliche Wettkämpfe, Sieben-, Zehn-und Mehrkämpfe, sowie Ausscheidungsspiele, füllten das Programm. Um 9 Uhr erfolgte der Abbruch aller turnerischen und sportlichen Tätigkeit, um in der Stadt die beiden Festzüge zu stellen, die für Leipzigs Einwohnerschaft zweifellos das Hauptereignis des Festsonntags bildeten.
Die grossen Schaugerüste um den Festturnplatz füllten sich aber schon kurz nach Mittag wieder, um den Einzug der Festzüge zu beobachten. Ausserdem boten die Radfahrer Sondervorführungen, Korso und Massenreigenfahren bei etwa 2000 Teilnehmern. Später folgten Turnspiele und sportliche Wettkämpfe bis Uhr die Massenvorführungen der Turner und Turnerinnen beginnen konnten. Freilich grollte der Himmel mit Blitz und Donner und liess das Schlimmste befürchten.
Unter leichtem Regen mussten schon die 16,000 Turner auf dem Uebungsplatze einziehen. Ungestört gingen sie ans Werk, und der Einmarsch fesselte das Interesse aller Festbesucher. Noch mehr aber der gemeinsame Vormarsch in 43 Säulen, jede mit 91 Viererreihen, voran der Fahnenwald. Nach gemeinsamen Gesänge des Sturmliedes der freien Turner begannen die allgemeinen Freiübungen, die eindrucksvoll auf die grosse Menge wirkten, wie die Beifallsstürme bezeugten. Aber von Uebung zu Uebung steigerte sich der Gewitterregen. Mannhaft hielten die Turner aus und führten Freiübungen und Abmarsch restlos durch.
Die Turnerinnen wetteiferten mit den Männern. Mutig hatten sie während des zunehmenden Gewitterregens unter freiem Himmel auf dem Stellplätze ausgeharrt. Völlig durchnässt, aber unter Gesang zogen sie auf den entgegengesetzten Enden des Festplatzes ein, während die Turner abmarschierten. Einmarsch und Aufmarsch gelangen noch trotz des immer wilder tobenden Gewitterregens. Schon bei der ersten Freiübungsfolge bemächtigte sich der Turnerinen Unruhe. Bald leerten sich die Tribünen, und jeder suchte Unterschlupf wo er sich nur irgendwie darbot.
Wohl hatte das Unwetter die Festordnung gestört, und der Festplatz glich mehr einem See als einem grundsicheren Spielplatz, der sobald der Regen vorüber war, setzte nach echter Turnerart die Vorführungen wieder ein. Die Nacktturner führten ihren Still auf durch Pfützen und Schmutz aus und schlossen daran ihre Trainingsübungen.
Sondervorführungen als Schaustellungen hervorragender Art wurden ausserdem an verschiedenen Plätzen geboten. Als solche waren auch die Vorführungen der Turnerinen und Turner aus der Tschecho-Slowakei auf dem grossen Turnplatz zu beurteilen, rhythmisches Turnen der Frauen und Hammerschwingen der Männer, beide in ihrer Aufmachung ausserordentlich wirkungsvoll, erhöht durch die bunte Gleichtracht der Aufführenden.
Der Festmontag brachte am zeitigen Morgen schon die Fortsetzung der Wettkämpfe der Turner und Turnerinnen. Von 8 Uhr ab Radwettkämpfe, das Ringen der Athleten und ein grossen Programm der Wassersportler dessen Erledigung bis zum Montagabend die Freunde des Wassersportes im Lunapark wahren, fesselte. Auf dem Festplatz führten Nachmittags 2 Uhr 8000 sächsische Turner Nacktfreiübungen vor. Von 3 Uhr ab zeigen die Schweizer, Belgier und Finnen ihr können. Der böhmische Turnverband markierte mit 2000 Turnern auf.
Der Dienstag gehörte in erster Linie den Kindern. Der Kinderfestzug gestaltete sich wie die Festzüge am Sonntag zu einer Demonstration der Jugend. Der Deutsche Arbeiterturnerbund der Tschecho-Slowakei ihrte auf dem Festplatz trotz des Regens eine eigenartigen Freiübungen durch, die ihren Uebungsstoff dem Tauziehen, Schleuderballwurf, Freiringen, Steinstossen u.s.w. mitnehmen. Die tschechischen Turnerinnen führten zu Paaren Springreifenübungen vor, verbunden mit Hüpf- und Haltungsübungen, während des grossen Einmarsches der Schulknaben zeigten noch 5 Italiener Turnen am Barren und Pferd.
Das Leipziger Knabenturnen war stilvoll im Aufbau und prächtig in der Ausführung, dazu gab der bekannte Leipziger Turnfestmarsch den richtigen Schwung, wie ihn die männliche Jugend zeigen soll. Ein entsprechendes Seitenstück dazu war das moderne Mädchenturnen. Rhythmisch in der Aufmachung allen neuzeitlichen Anforderungen recht. Eine Arbeitsleistung, die bei so grossen Massen jugendlicher Turnerinnen volle Anerkennung verdient.
Am Mittwoch entführten 76 Turnfahrten die Gäste der Pleissestadt in die nähere oder weitere Umgebung, die meisten nach dem Harz und in die Sächsische Schweiz.
Im Anschluss an das über alle Erwartungen erfolgreiche Fest der sozialistischen Turner und Sportfreunde Schreiben die bürgerlichen „Leipziger Neuesten Nachrichten“:
„Das Arbeiter-Turn- und Sportfest ist beendet. Es hat einen Verlauf genommen, der selbst hochgespannte Erwartungen erfüllte. Die Tage haben gezeigt, dass die Arbeiter-Turn- und Sportbewegung in Deutschland mächtig erstarkt ist. Selbst wer nicht im sozialistischen Lager steht, muss das anerkennen. Forscht man nach den Gründen, so ist klar, dass die Arbeiter-Turn- und Sportbewegung nur in diesem Masse wachsen konnte, weil sie sich restlos in der Organisation der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften verankerte. Während die Deutsche Turnerschaft ebenso wie auch die deutschen Sportverbände politische Neutralität um jeden Preis übt, fühlt sich der beiter Turn- und Sportbund als Wächter sozialistischer Gesinnung. Er nimmt einen Standpunkt ein, der sich in schärfsten Gegensatz zu allen nichtsozialistischen Turn-und Sportkreisen stellt. Der Grund? Er liegt in der Hoffnung auf parteipolitischem Vorteil. Man will die heranwachsende Jugend im sozialistischen Geiste erziehen und ihnen die sogenannten bürgerlichen, politisch neutralen Turn- und Sportvereine und damit den Umgang mit anders Denkenden verleiden; man will alles in die Parteischablone, alles hinter die Zaunspfähle einer aprobierten wohl gedrechselten sozialistischen Gesinnung pressen. Aber erziehen, die Jugend restlos gewinnen, kann doch nur, wer im Strome des Lebens zu schwimmen gelernt hat, nicht aber, wer, von parteipolitischen Zaunspfählen beschützt, dem Schwimmenden nur mit dem Auge folgt.
„Gewiss, es fehlt auch innerhalb der deutschen Arbeiter – Turn- und Sportbewegung nicht an Kräften, die auf eine Versöhnung hinarbeiten und die Turnen und Sport neural gestalten möchten; aber sie sind in der schwindenden Minderheit, und ihre Ansichten spielen keine Rolle. Strenges Parteiregiment und sozialistisches Machtwort lähmt alle freien Regungen. Das geht sogar soweit, dass man bewährte Anhänger der deutschen Arbeiterbewegung, die schon im Menschenalter in der ihnen liebgewordenen Deutschen Turnerschaft mitwirken, heftig bedrängt und die ehrlichen Absichten derer verdächtigt, die, zur Versöhnung geneigt, bereits ein Menschenalter Seite an Seite mit Arbeitsgenossen kämpfen, bloss weil sie es nicht übers Herz bringen können, aus der Deutschen Turnerschaft aus und in den Arbeiter Turn- und Sportbund einzutreten.
Während die Deutsche Turnerschaft sich len reinen und klaren Hauch nationalen stolzes nicht nehmen lässt, gefällt sich ein Teil der Mitglieder des Arbeiter-Turn- und sportbundes in radikalen politischen Reden, prophezeit die Diktatur des Proletariats und verabscheut den demokratischen Gedanken an Grund und Boden. Ehrliche Volksfreunde und aufrichtige Führer der alten guten Turn- und Sportbewegung, die es mit dem deutschen Volke ernst meinen, haben sich leidenschaftlich und mit Hingabe bemüht, eine Brücke über diesen tiefen, klaffenden Riss zu schlagen. Und wie vor 100 Jahren Fichte den Sehnsuchtsruf ertönen liess nach dem Zwingherrn zur Deutschheit, so erhob sieh bis vor kurzem in immer weiteren Kreisen der deutschen Turner der Ruf nach einem Zwingherrn sportlicher und turnerlicher Einigkeit. Vergebens! Die Aussichten, dass es einmal zu einem Zusammen gehen der beiden grossen, sich bisher feindlich gegenüberstehenden Turn- und Sportverbände kommen wird, sind jetzt zu gering, so dass man an eine Verwirklichung glauben könnte. Denn selbst ein Mann, wie Oberbürgermeister Dr. Rothe, musste es sich gefallen lassen, dass ihm heftigster Widerspruch entgegenscholl, als er bei der Begrüssungsfeier der Delegationen dem Wunsche Ausdruck verlieh, in absehbarer Zeit möge ein grosses Sportfest bürgerliche und Arbeierturner vereinen.
„So wird noch jedem der zischende Pfeil des Unmutes, der Abneigung treffen, der vom ehrlichen Willen zur Versöhnung gefangen, dem Arbeiter-Turn- und Sportbunde die Hand zur gemeinsamen Zusammenarbeit entgegenstreckt. Die Gegenseite will nicht. Sie lehnt politische Neutralisieung des Sportes und Turnens ab, weil sie eine wirkliche Volksgemeinschaft auch auf diesem Gebiete nicht ausnutzen kann für parteipolitische Sonderinteressen. Jetzige Führer des Arbeiter-Turn- und Sportbundes und sonstige Chorführer der sozialistischen oeffentlichen Meinung erhoffen noch immer aus den Wässern der Turn- und Sportbewegung Angelbeute für bewegtere politische zeiten. „Oben brennt es im Dach und unten rauchen die Minen. Aber mitten im Haus schlägt man sich um den Besitz“. Dieses Hebbel-Wort trifft auch hier zu. Und harte Zweifel senken sich ins Herz, ob das jemals anders werden kann. „Trotz alledem blüht stolz und selbstbewusst am Leipziger Volkshause. „Trotz alledem“ möchten auch wir sagen und uns den Wunsch des Leipziger Oberbürgermeisters zu eigen machen, dass noch einmal in absehbarer Zeit ein grosses Sportfest bürgerliche und Arbeiterturner vereinen möge. Das ist der gute Wille aller derer, die es mit der Volksgemeinschaft auch auf dem Gebiete des Turnens und des Sportes ernst meinen. Bis dieser Wille siegt, wird das deutsche Volk allerdings wohl noch durch schwere Zeiten des Kampfes wandern müssen.“
Siehe auch:
Wir Deutsch-Amerikaner
Deutsch-Amerika
Die Deutsch-Amerikaner und das Kaiserreich
Gedanken über die Zukunft des Deutschtums in Amerika
Wie das alte Österreich starb
Wie das alte Österreich starb II
Die Deutschen in Amerika
Die Deutschen in Amerika II
Eine Audienz bei Richard II. (Richard Strauss)
„Deutsch-Amerikas“ Mission
Schundromane auf dem Scheiterhaufen
Lincoln und das deutsche Element
Die Geschichte der Revolution
Der Aufbau Palästinas
Deutschland und der Weltfriede
Vaterland vor der Wiedergeburt
Das Schicksal der deutschen Kolonien
Der letzte Zar im Kreise seiner Familie
Krupp-Werk in Friedens-Arbeit
Die Wolkenburgen der neuen Welt
Deutschlands chemische Industrie in der Nachkriegszeit
Jerusalem die Heilige Stadt
Die Schwarzen Truppen in Deutschland
Schiffsmodelle als Zimmerschmuck
„Bismarck“-„Majestic“- der Meeresriese
Quer durch das neue Deutschland
Quer durch das neue Deutschland II
Quer durch das neue Deutschland III
Klein-Amerika in Ostpreussen
Die Hallo-Mädchen
Nach Palästina
Eine Hamburger Überseewoche
Kinder aufs Land
August Thyssen-Der Senior der Grubenbarone
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Das Deutsche Haus in St. Paul – Ein Denkmal deutschen Strebens
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