aus dem Kunstmuseum Hamburg
Die Stetigkeit der südamerikanischen Entwickelung wird häufig überschätzt. Es ist ja richtig, daß seit 20 Jahren, mit Ausnahme von Venezuela, keine großen Erschütterungen in dem festländischem romanischen Amerika zu verzeichnen waren. Aber gekriselt und revoluzzelt hat es doch an so manchen Orten. Bald ein kleiner Putsch in Uruguay, bald ein kleiner Bürgerkrieg, wie jetzt seit zwei Jahren in Peru, bald ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Argentinien und Chile oder Peru und Ecuador. Nicht zu vergessen, daß in Guatemala und Nicaragua die Unruhen permanent sind, wenn man das eben auch keine starken Erschütterungen nennen kann. Nunmehr hat sich gezeigt, daß selbst der Staat von Lateinisch-Amerika, der für den allerfestesten und allerbest regierten galt, dennoch vor Wirren nicht geschützt war. Nach dem Frieden eines Vierteljahrhunderts hat Mexiko wieder einen Bürgerkrieg erlebt, der noch andauert. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß die Yankees hier die Hand im Spiele haben. Aber das tut nichts zur Sache. Ein wohlkonsolidierter Staat muß auch gegen fremde Eingriffe gefeit sein. Präsident Diaz war jetzt 80 Jahre alt.
Porfirio Diaz wurde zum ersten Male im Jahre 1876 zum Präsidenten gewählt. Danach kam freilich eine Unterbrechung. Immerhin kann man sagen, daß der Generalpräsident seit 35 Jahren schon im Vordergründe der politischen Kämpfe steht. Kein Wunder, wenn jetzt die Zügel seinermüden Hand entglitten.
Die Unruhen an der Grenze und im Innern der Republik wollten schon seit langer Zeit gar nicht abbrechen. Nun drohte gar noch eine Einmischung von zwei Seiten zugleich, nämlich eine britische und eine nordamerikanische Dazwischenkunft. Damit ist die Geschichte des Freistaates in eine bedeutungsvolle Krisis eingetreten. Um eine ohnehin schon schwierige Lage noch verwickelter zu machen, sind außerdem japanische Pläne zu berücksichtigen. Es heißt, Diaz habe ein Bündnis mit dem Mikado vorbereitet. Es klingt abenteuerlich genug, aber ist durchaus nicht undenkbar.
Mexiko gehört im Grunde genau so wie sein nördlicher Nachbar zu der Kategorie der „Vereinigten Staaten“. Es zählt solcher Staaten nicht weniger als 27. Dazu drei Territorien und einen Bundesdistrikt. Jedes dieser einunddreißig Staatsgebilde hat das Recht, seine örtlichen Angelegenheiten vollkommen unabhängig zu verwalten. Es gibt einen Senat von 56 Mitgliedern, und ein Abgeordnetenhaus von ungefähr 280 Reichsboten. Die Gesamtbevölkerung beträgt beiläufig 13 Millionen. Davon ist noch nicht einmal ein Fünftel weißblütig; 38Proz. sind Rothäute, und 43 von gemischter Rasse. Alle Bewohner sind jedoch gleichberechtigt. Das ist eine Bestimmung, die schon auf das Jahr 1824 und die damals gegebene Verfassung zurückgeht; dabei sind zwei Millionen Indianer noch fast wild, und sprechen jedenfalls kein Spanisch. Die Ausländer zählen ungefähr 70000, davon stehen die Yankees mit 18000 an erster Stelle, während Briten und Deutsche, die sich ungefähr die Wage halten, durch weniger als je 3000 Köpfe vertreten. Die Stadt Mexiko hat weit über eine drittel Million Einwohner.
Eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes sind die Bodenschätze. Es gibt dort Gold, Silber, Kupfer, Blei und Quecksilber. Die Gesamtausbeute hat schon im Jahre 1902 nicht viel unter einer halben Milliarde Mark betragen, und dürfte jetzt bald dreiviertel Milliarden erreichen, also ungefähr so viel, wie die ganze Goldausbeute Südafrikas.
Es ist schon längst kein Geheimnis mehr, daß die Vereinigten Staaten bei den mexikanischen Unruhen tätig mitwirken. Es wäre das nicht das erste Mal. Die Zahl der Eingriffe ist vielmehr Legion. In zwei Fällen geschahen sie, um die Selbständigkeit Mexikos gegen Europa zu wahren, so 1823 durch die Monroe-Lehre, und 1865 gegen Louis Napoleon. In den meisten Fällen aber erfolgten die Eingriffe, um den Mexikanern ein Stück Landes abzuzwacken, und es an die Union anzugliedern. Am berühmtesten und erfolgreichsten waren die Eingriffe von 1837 und 1846, die zu der Einverleibung von Texas, ferner von Neumexiko, Arizona und Kalifornien führten. Weniger Erfolg hatte ein Raubzug von 1853.
Diaz hielt sich noch eine Zeitlang, dann ließ ersieh doch davon überzeugen, daß seine Abdankung für den Frieden des Vaterlandes notwendig sei, und schiffte sich im Frühjahr 1911 nach Spanien ein. Der Bürgerkrieg aberbrach aufs Neue aus, da auch der neue Präsident Madero nicht anerkannt wurde.
Text aus dem Buch: Männer, Völker und Zeiten, eine Weltgeschichte in einem Bande, Verfasser: Wirth, Albrecht.
Siehe auch:
Männer, Völker und Zeiten – Anfänge
Der alte Orient und Griechenland
Arier und Chinesen
Juden und Phönizier
Feudalherrschaften in China, Indien, Vorderasien und Hellas
Homer
Assyrer und Perser
Religionsstifter und Philosophen
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Peloponnesischer Krieg
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Politischer Niedergang Athens
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China und Rom
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Der Staatsbegriff im Altertum
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