von Kunstmuseum-Hamburg.de
Zu den beliebtesten Werken der italienischen Renaissance gehören die venezianischen „Existenzbilder“, jene schönen Frauengestalten in Halbfigur, die nur geschaffen zu sein scheinen, durch ihre herrlichen Formen den Beschauer zu fesseln. Sie besitzen den vollen Zauber des venezianischen Novellenbildes, mit dem sie gleichzeitig im ersten Viertel des Cinquecento entstanden sind und dem sie recht eigentlich mit angehören. Die Florentiner Kunst kennt diese süßen, verträumten Geschöpfe nicht, und doch ist ein Florentiner, ist Leonardo auch der Erfinder dieser Gattung idealer Frauenbüsten. Freilich sehen die jugendlichen Frauenbilder des großen Florentiners wesentlich anders aus als ihre venezianischen Gegenstücke ; teils sind es Bildnisse vornehmer Frauen mit zurückhaltendem Wesen wie unter den uns noch erhaltenen die „Dame mit dem Hermelin“ in der Sammlung Czartoryski und die Mona Lisa im Louvre, die der Künstler durch kunstvolle Anordnung und zauberhaften Ausdruck zu typischen Bildern keuscher junger Frauen umgeschaffen hat, teils sind es Entwürfe zu wirklichen Idealgestalten, wie wir sie jetzt nur noch aus Nachbildungen seiner Schüler kennen: die Bilder der „Eitelkeit und Bescheidenheit“, der „Caritas“, der „Flora“ u. a. m. Mit diesen idealen Bildnissen hat Leonardo die Anregung zu den mannigfachen idealen Frauengestalten gegeben, die wir unter den hervorragendsten und anziehendsten Schöpfungen der großen Meister in Venedig und der Lombardei bewundern; aber auch die Darstellung des Porträts überhaupt hat er dadurch auf eine neue, höhere Stufe erhoben, hat sie erst zu voller Freiheit geführt.
Die Darstellung des Einzelbildnisses, die in Italien erst gegen die Mitte des XV. Jahrhunderts, ein oder zwei Jahrzehnte später als in den Niederlanden, beginnt, hatte sich bis auf Leonardo so gut wie ganz auf das knappe Brustbild beschränkt. Wenn ausnahmsweise eine Hand mit angebracht ist, pflegt sie nur wenig und ungeschickt über den Bildrand hervorzuragen, falls das Porträt nicht als Flügel einer Altartafel bestimmt war und die Hände dann in Anbetung zusammengelegt sind. Auch hierin wie in der Einführung eines Ausblicks in die Landschaft im Gründe des Bildes wurden die Italiener durch das Vorbild der älteren niederländischen Bildnisse angeregt. Wir sehen freilich, wie gerade der bahnbrechende Meister im Norden, Jan van Eyck, von vornherein seine Bildnisse gern mit beiden Händen zu geben sucht, und wie ihm kaum zwei Jahrzehnte später der eigentliche Schöpfer des Einzelporträts in Italien, Fra Filippo Lippi, darin nachfolgt. Von Jan van Eyck ist eine verhältnismäßig größere Zahl solcher Bildnisse bekannt, vom Frate sind erst in neuester Zeit zwei Porträte nachgewiesen worden, in denen der Künstler gerade auf die Anbringung beider Hände der Dargestellten besonderen Nachdruck gelegt hat. In dem Profilporträt der Berliner Galerie ist die Rechte wie beteuernd an die Brust gelegt, während die Linke preziös in den weiten Ärmel des rechten Armes greift. In einem Doppelporträt des Metropolitan-Museums, worin jeder der jungen Ehegatten mit beiden Händen dargestellt ist, kommt in diesen der Ausdruck der Dargestellten fast stärker zur Geltung als im Profil der gar zu starren Köpfe. Doch ist bei Fra Filippo wie bei Jan van Eyck Haltung wie Zeichnung der Hände noch ungeschickt und schüchtern. Die jüngeren Künstler, die auf ihren Schultern stehen, folgen ihnen daher nicht, wo sie ausnahmsweise eine Hand in ihren Bildnissen mit anbringen, tun sie es nur zögernd. Mögen sie auch die unbestimmte Empfindung gehabt haben, daß der Ausdruck des Kopfes, wenn die I lande nicht mit wiedergegeben wurden, voller und wirksamer zur Geltung käme: vorwiegend war doch gewiß das Gefühl bestimmend, daß sic einer freien Gestaltung des Bildnisses mit den Händen noch nicht gewachsen waren, war doch auch bei Fra Filippo die Zeichnung gerade der Hände, was schon seine Zeitgenossen tadelten, auffallend schwach. Selbst Giorgione, der zuerst den Dargestellten fast in Lebensgröße gibt, und seine unmittelbaren Nachfolger in ihren frühesten Porträten zeigen von den Händen meist nur die eine, die dann über eine Alt Rampe oder einen Tisch schüchtern herüberragt oder darauf aufliegt.
Erst Leonardo gibt in seinen Bildnissen auch beide Hände als wesentlichen Teil der Persönlichkeit. Damit verbindet er, bei seiner gründlichen Art der starken Betonung und meisterhaften Durchbildung der I fände, eine neue Auffassung und dementsprechend auch einen veränderten Ausdruck des Kopfes, ja des Oberkörpers überhaupt, den er als Ganzes erfaßt, um so auch in Anordnung und Bewegung den Cha~ rakter des Dargcstellten voller zum Ausdruck zu bringen. Wie der Künstler von vornherein in seinen Bildern — in den beiden Verkündigungsbildern , in den Frühen Madonnen usf. einen Hauptwert auf feine, mannigfaltige Zeichnung der Hände legt, so war w ie wir sahen • auch schon im Bildnis dei Ginewa de’ Benci in der Liechtenstein-Galerie, das noch in den siebziger Jahren entstand, und in der wenig früher in Ver-rocchios Werkstatt gemeißelten Marmorbüste die Anordnung der Arme und Hände eine Haupt sorge des jungen Künstlers. Etwa zwölf oder fünfzehn Jahre nach der Ginev ra de’Benci malte Leonardo in Mailand das Bildnis der „Dame mit dem Hermelin“, jetzt im Museum Czartoryski zu Krakau. Hier verstärkt er die Schwierigkeit in der Anordnung noch dadurch, daß er der jungen Frau, zum Ausdruck ihrer keuschen Gesinnung, ein weißes Hermelin in die Arme gibt. Leider ist der untere Teil des Bildes, namentlich der linke Unterarm mit der Hand, unfertig und kaum angedeutet, so daß uns der Meister über die volle Lösung dieses neuen Problems im unklaren läßt; was aber fertig ist, die rechte Hand, ist höchst eigenartig und vortrefflich m ihrer Zeichnung und Verkürzung, in der Art, wie dadurch zugleich die schlanken, zierlichen Formen der jungen Dame charakterisiert sind und ihr Bemühen, das Tierchen auf ihrem Arm zu Schutzen, ausgedrückt wird. In dem vollendetsten Werke unter den Bildnissen Leonardos — gleichfalls leider nicht ganz beendet -, in der „Gioconda“ des Louvre, kommt der Künstler dann zu einer neuen, zu der abschließenden Lösung des Problems der Einbeziehung der Arme und Hände in die Darstellung des Bildnisses. Es Ist von jeher besonders bewundert w orden, wie der Künstler dadurch die ganze Erscheinung und die Charakteristik der dargestellten Persönlichkeit noch verstärkt, ein Bestreben, das in der „Sprache der Hände“ auf Leonardos Abendmahl in S. Marin delle Grazie seinen vielseitigsten und gewaltigsten, unübertroffenen Ausdruck gefunden hat. Durch diese und andere uns nicht erhaltene Bildnisse, durch die Entwürfe und Studien dazu, namentlich durch das Bild der Mona Lisa, das er in Floren? um 1503 begann, in Rom und in Mailand und bis nach Frankreich mit sich führte, wie durch die Kopien und Nachbildungen seiner Schüler erhielt das Porträt in ganz Italien neue Form und reicheren Inhalt. Raphael entwirft das Porträt der Maddalena Dom um 1505 nach dem Verbilde der Mona Lisa; wenige Jahre später begann in Florenz wie in Mailand und in Venedig Leonardos neue Kunst auch in der Porträtmalerei ihre grundändernde Wirkung zu äußern; sie wird in jedem dieser großen Kunstzentren eigenartig weiterentwickelt.
Im Bildnis der Mona Lisa geht Leonardo weit über das hinaus, was er in seinen älteren Bildnissen, namentlich in dem „Musiker“ und im weiblichen Profilbildnis der Ambrosiana, gegeben hatte. Das Bild ist mehr als das bloße Porträt einer vornehmen italienischen Dame; diese erscheint hier vielmehr als der vollendete Ausdruck edler Weiblichkeit, wie sic dem Meister vorschwebte, als der Typus einer idealen Frauengestalt. Von da bis zum reinen weiblichen Existenzbild, wie es bald darauf zum Lieblingsvorwurf der oberitalienischen Malerschulen wurde, war nur noch ein Schritt.
Auch diesen Schritt hat der Meister selbst schon getan. Freilich ist kein eigenhändiges Original der Art mehr auf uns gekommen, aber da von solchen Kompositionen fast übereinstimmende Wiederholungen in größerer Zahl von den verschiedensten seiner Schüler und Nachfolger erhalten sind, die meist über die ängstliche Nachahmung ihres Meisters nicht hinauskamen, so dürfen wir den Schluß daraus ziehen, daß sie dabei Originale Leonardos, wenn auch nur in Entwürfen und unvollendeten Bildern, vor sich hatten. Das gilt für Luinis „Eitelkeit und Bescheidenheit“, für Pedrinis Halbfiguren der Elora, Caritas, Abundantia und seine ewig wiederholte Magdalena, für die sogenannte Colombine oder Flora unter Melzis Namen in der Eremitage, für die in fast einem Dutzend Wiederholungen von den verschiedensten Händen bekannte Gioconda, früher richtiger als Flora bezeichnet, und für die Flora in Hampton Court, lauter Bilder, die früher meist Leonardo selbst zugeschrieben wurden. Am häufigsten begegnet uns darunter eine Frauengestalt, die durch Blumenschmuck als Flora charakterisiert ist; jene als Gioconda bezeichnete Flora, die Bilder in Hampton Court und in der Eremitage wie die Elora im Besitz von Mr. Morrison in Basildon Park sind unter sich so ähnlich, daß sie wie freie Nachbildungen nach einem und demselben Vorbild Leonardos erscheinen, von dem vielleicht verschiedene Entwürfe vorhanden waren. Unter diesen Nachbildungen ist das jetzt meist Abb. 61 Pedrini zugewiesene Bild in Basildon Park, das zur Zeit des „Florastreits“ viel genannt wurde, wohl eine der schwächsten, aber da sie mit unserer weit überlegenen Wachsbüste fast genau übereinstimmt, so hat sie die Bedeutung, daß wir daraus die fragmentierten Arme der Wachsbüste ergänzen können. Dadurch erkennen wir noch deutlicher, welchen außerordentlichen Einfluß gerade diese Komposition der Flora, von der Amoretti noch ein Original Leonardos(?) gekannt haben will, nicht nur auf seine Werkstatt und seine Nachfolger in der Lombardei, sondern auf ganz Oberitalien, und zwar gerade auf die hervorragendsten Künstler ausgeübt hat.
Über diese Wachsbüste der Flora hier nur wenige Worte. Daß sie jemals für modern erklärt worden ist, wird man kaum noch verständlich rinden, wenn die Nachwirkungen des Streites, der mit einer Heftigkeit und Gehässigkeit, wie nie über ein anderes Kunstwerk, in den Jahren 1909 und 1910 über die Echtheit der Büste geführt worden ist, einmal überwunden sein werden. Noch heute sieht man, wie die damals wahrscheinlich im Besitz von Lord Palmerston oder noch von Lord Cowper befindliche Büste von unnützen Knaben durch Schüsse aus Zimmerpistolen schwer beschädigt und dann durch den Restaurator Lucas um 1845 bei dem Versuche, jene Beschädigungen zu beseitigen, den alten Schmutz zu entfernen und die nackte Gestalt durch Bekleidung salonfähig zu machen, im Gesicht mit heißem Spatel geglättet und dadurch teilweise modernisiert worden ist. Da diese üble Restauration aber zum Glück den größten Teil der Büste nicht berührt hat (die Abbildung nach einer Photographie mit Lucas eigenhändiger Aufschrift : The Flora of Leonardo da Vinci zeigt den Zustand der Büste Abb. 5q vor der Restauration), läßt die Arbeit den alten Meister um so deutlicher erkennen, wie auch Leonardos Erfindung selbst in den geglätteten Zügen des Gesichts noch unverkennbar sich ausspricht, mag nun er selbst, mag ein Schüler die Büste ausgeführt haben Das Alter der Büste und ihre Entstehung in Italien zur Zeit der Renaissance ist nach dem übereinstimmenden Urteil der, dank ihrer langjährigen Restaurationsarbeiten an alten Wachsbossierungen besten Kenner der Wachsplastik, M. Edouard Bouet in Paris und Frau Annette von Eckardt in München, ebenso zweifellos, wie das Alter der Farben; unser erster Farbenchemiker und Kenner der alten Malmethoden, Prof. E. Raehlmann, hat die Farben der Bemalung einige kleine ausgebesserte Stellen ausgenommen — als Farben nachgewiesen, die nur im späten Mittel-alter und in der Renaissance angewandt wurden. Daß die Erfindung der Florabüstc auf Leonardo zurückgehen muß, daß sie in engster Verbindung mit der Gioconda steht und schon nach den kräftigen Formen und dem faszinierenden Lächeln um 1504 8 entstanden sein muß, ist seinerzeit von verschiedenen Seiten so ausführlich dargelegt worden, daß ich auf die Xufsätze, die darüber 1909,10 im ,,Jahrbuch“ und in den „Amtlichen Berichten“ erschienen sind, verweisen kann. Als einer der zwingendsten Beweise für die Bedeutung, weiche gerade diese Florakomposition Leonardos auf die Malerei Oberitaliens gehabt hat, erweist sich die vielfache, zum Teil fast sklavische Benutzung der Büste selbst durch hervorragende Maler, wovon wir im Folgenden eine Reihe besonders charakteristischer Beispiele zusammenstellen.
Die Schwierigkeit, die den Künstlern des Quattrocento die Anordnung der Hände bei ihren Porträten bereitete, und die Scheu, die sie daher \or der Anbringung der Hände bei Bildnissen hatten, ist uns kaum verständlich, wenn wir sehen, wie geschickt schon wesentlich ältere Künstler, namentlich die Bildhauer, in ihren Madonnen \ielfach Arme und Hände zu stellen, wie individuell sie diese zu bilden imstande waren, welche Meister darin ein Dona-tello und Luca, aber auch einzelne Maler, wieMantegna und Gian Bellini waren. Sobald die Künstler aber bei einem Porträt vor dergleichen Frage standen, waren sie befangen und gingen daher der Schwierigkeit möglichst aus dem Wege. Mit um so größerem Interesse verfolgten sie Leonardos Studien auch nach dieser Richtung und suchten sich seine Erfolge bei jedem neuen Bildnis oder idealen Frauenbild, das er schuf, zunutze zu machen. Keines hat aber so sehr auf seine jüngeren Zeitgenossen gewirkt wie jene Flora-komposition sowohl durch ihren bestechenden Liebreiz wie durch ihre schöne Bildung und Bewegung und reizvolle Anordnung der Arme. Sie hat eine Reihe trefflicher Maler fast gleichzeitig zu ähnlichen Floradarstellungen mit mehr oder weniger starkem Anschluß an Leonardos Vorbild veranlaßt und hat dadurch zugleich den Anstoß gegeben zu jenen anmutigen weiblichen Idealporträts, die, nach der Zahl der noch erhaltenen Gemälde zu schließen, das Publikum damals mit Begeisterung aufnahm.
Begreiflich ist dieser enge Anschluß an Leonardos Vorbilder bei der Mailänder Schule, war diese doch seit seinem zweiten Aufenthalt in Mailand, zumal seit der Vollendung des Abendmahls, fast ganz unter seinen Einfluß geraten, unter dem sie zum Teil in schwächlicher Nachahmung seiner Werke aufging. Eine bloße Kopie, und zwar eine Abb. 61 schwache, nach dem Original oder einem der Entwürfe Leonardos zu dieser Flora, ist, wie erwähnt, das Florabild in Basildon Park, das früher dem Meister selbst zugeschrieben wurde. Es ist zwar fast sklavisch treu kopiert, aber ohne jedes Leben und selbst für Pedrini gering. Daneben finden wir in beglaubigten Bildern dieses Künstlers die Pose der Flora, namentlich die 1 laltung der Arme mehrfach benutzt, so in verschiedenen seiner eintönigen Madonnen- und Magdalenakompositionen. Ziemlich genau an Leonardo lehnt sich wieder der Meister der anmutigen „Flora“ der Galerie zu Hampton Court, die dem Bernardo Luini Abb. 62 am nächsten steht. Die Abweichung beruht im wesentlichen nur darin, daß der Künstler die Komposition umgedreht und die Brust mit einem dünnen, durchsichtigen Stoff bedeckt hat. Ein dritter Nachfolger des Meisters, in dem man seinen Lieblingsschüler Francesco Melzi vermutet, der ihn nach Frankreich begleitete und in dessen Armen er starb, verarbeitete Leonardos Vorbild schon in freierer, aber doch noch befangener Weise zu seiner unter dem Namen der „Colombina“ Abb. 63 bekannten Flora in der Galerie der Eremitage. Auch in der augenscheinlich von der gleichen Hand stammenden „Pomona“ der Berliner Galerie, die im XYII1. Jahrhundert noch als „Flora“ bezeichnet wurde, hat dieser Künstler zum nackten Oberkörper wieder Leonardos Florastudien benutzt. Dem Melzi wird auch in der Galerie Borghese in Rom (N. 470) ein Florabild zugeschrieben, das aber wesentlich geringer ist. Die Wachsbüste ist darin fast treu kopiert, nur sind die beiden Arme in der Haltung umgekehrt, und der Kopist hat seiner Gestalt Blumen in beide Hände gegeben. In sehr gezierter Weise verwendet der sonderbare spanische Künstler Francesco Napoletano, der in seinen wenigen erhaltenen Bildern fast ganz von Anleihen bei Leonardo lebt, bei seiner Madonna in der Brera die Haltung der Arme und Hände der Flora. Stark von ihr beeinflußt erscheint auch Luini in einem seiner schönsten Bilder, „Bescheidenheit und Eitelkeit“ in der Sammlung A. Rothschild zu Paris, das sich früher in der Galerie Sciarra zu Rom unter dem Namen Leonardos großer Berühmtheit erfreute. Hier ist die Eitelkeit, die früher nach ihrer Kostümierung auch als Flora bezeichnet wurde, in Haltung, Blick und Ausdruck unter dem starken Eindruck von Leonardos Flora entstanden. Auch die wunderbare Gruppierung der schönen Hände der beiden jungen Frauengcstalten in Zeichnung und Modellierung deutet auf ein Vorbild des großen Meisters. Eine besonders anmutige Umgestaltung von Leonardos Vorbild ist die Magdalena Luinis bei Marquis of Lansdowne.
Wenn bei der Abhängigkeit, in der die lombardische Malerei in den ersten Jahrzehnten des XVI. Jahrhunderts von Leonardo befangen ist, die Ausbeutung einer so neuen und anmutigen Komposition, v\ ie es die Flora Leonardos ist, seitens seiner Schüler und Nachfolger in Mailand nicht wundernehmen kann, so erscheint es um so auffallender, daß gleichzeitig auch auf eine so selbständige Schule, wie es die venezianische gerade in dieser Zeit war, in der sie sich zu ihrer höchsten Blüte entfaltete, Leonardos Florakomposition so starken Eindruck machte, daß sie ihre größten Meister zu ganz verwandten Frauendarstellungen anregte und auch hier zur Ausbildung des weiblichen Existenzbildes recht eigentlich den Anstoß gab. Am auffälligsten und mit zuerst ist dies bei Palma Vecchio der Fall, dessen ideale Frauen-bilder in Halbtigur noch in reicher Zahl erhalten sind und zu seinen vollendetsten Leistungen zählen. Gerade die Berliner Galerie besitzt in der jungen Schönen, die mit beiden 1 binden das Gewand über den Schoß zieht, eines der frühesten Werke dieser Art, um 1510 oder schon 1 509 entstanden, das in der Auffassung und vor allem in der Anordnung der Arme und Hände wie in der Modellierung von I lall und Brustansatz so auffallend Leonardos Floradarstellung verwandt ist, daß es nicht ohne direktes oder indirektes Vorbild derselben entstanden sein kann.
Dieser Einfluß klingt auch sonst noch in verschiedenen seiner Gemälde nach, nicht nur in solchen idealen Frauenbildern. Auch das herrlichste Bild dieser venezianischen Frauenschönheiten, Fi zians „Floral in den Uffizien, wohl nur wenig später als jene Palmasche Schöne der Berliner Galerie, um 1515 entstanden, verrät im Motiv wie in der ganzen Formenbehandlung und in dei Haltung der linken Hand das gleiche Vorbild, an das entfernter auch die verwandten Bilder aus der gleichen Zeit: die „Toilette“ im Louvre, die „Vanitas“ in der Pinakothek, die „Herodias“ der Galerie Doria erinnern. Die ganz ähnliche Haltung der Arme und Hände finden wir bei Tizian auch später noch, so bei seinen Magdalenen und bei ein paar Porträten venezianischer Kurtisanen. Auffallend ist, wie treu der Künstler in seiner frühen, um 1515 entstandenen Verkündigung im Dom zu Treviso bei der Bewegung der Arme und Hände der Maria sieh an das Vorbild der Flora hält.
Während bei Giorgione ein Einfluß Leonardos überhaupt nicht zu bemerken ist – seine Plände sind bei seinen Brustbildern meist noch recht befangen —, zeigt sich sein Schüler Sebastiane del Piombo eine Zeitlang um so stärker von Leonardos Vorbildern, insbesondere von seiner Florakomposition beeinflußt. Schon die Judith vom Jahre 1510, die mit der Sammlung Salting in die National Gallery gekommen ist, und die gleichzeitige Magdalena der Sammlung Cook zu Richnrond, neben ein paar ähnlichen Bildern Palmas wohl die frühesten weiblichen ldealportäts der venezianischen Schule, zeigen die Abhängigkeit von den weiblichen Halbfiguren Leonardos und seiner Schüler. In höherem Maße ist dies aber nach seiner Übersiedlung nach Rom der Fall, trotz dem Einfluß, den Michelangelo hier schon nach wenigen Jahren auf ihn ausübte. Dies zeigen namentlich die sogenannte Fornarina der Uffizien vom Jahre 1512 und die etwa ein oder zwei Jahre später entstandene „Junge Römerin“ der Berliner Galerie. Dieses früher gleichfalls als Fornarina bezeichnete und, wie das Uffizienbild, dem Raphael zugeschriebene Bild ist nach dem Fruchtkorb in ihrer Rechten wohl als Dorothea oder auch als Flora gedacht. Das Berliner Bild hat fast genau die Haltung der Florabüste von links gesehen. Der Künstler, einer der größten Meister als Kolorist und in stilvoller Auffassung der Persönlichkeit, beweist einen auffallenden Mangel an Kompositionssinn selbst in der Gleichmäßigkeit der Anordnung seiner weiblichen Bildnisse, so daß er gelegentlich für einen neuen Auftrag ruhig die Komposition eines älteren Frauenporträts fast unverändert übernimmt. Auch sonst ist die Anordnung der Hände bei seinen Frauenbildnissen \ielfach sehr ähnlich, dem Dorotheenbilde der Berliner Galerie verwandt. Andere gleichzeitige oder wenig jüngere Venezianer Meister haben zwar solche weiblichen Idealbilder in Halbfigur nur ausnahmsweise gemalt, aber doch sehen wir in ihren Porträten gelegentlich fast die gleiche Anordnung, die offenbar für etwa zwölf oder fünfzehn Jahre die große Mode in Venedig geworden war. Dies gilt für Bernardino Licinio, für Catena in seiner späteren Zeit und für Lorenzo Lotto.
Zur Beantwortung der Frage, wie und wann Leonardo auf die venezianischen Maler diesen Einfluß geübt haben kann, läßt sich der Aufenthalt des Künstlers in Venedig im Jahre 1 500 kaum in Betracht ziehen, da die Entstehung und Ausbildung des weiblichen Idealbildes in Venedig sich nur wenig vor das Jahr 1510 verfolgen läßt. Aber als Leonardo 1507 wieder auf längere Jahre nach Mailand zurückgekchrt war, werden Künstler wie namentlich Palma, der in dem Mailand nahe-gelegenen Bergamo beheimatet war, Leonardo selbst oder doch Werke des Meisters und seiner Werkstatt zweifellos kennengelernt haben. Es bedurfte aber nur einer Anregung, um in Venedig, wo der Boden und die Kunst für die Schöpfung solcher formenschönen Frauengestalten wie in keiner andern Stadt Italiens vorbereitet war, diese eigenartige Gattung des genreartigen Porträts rasch zu reicher und blühender Entfaltung zu bringen. Hier w urde sie erst wirklich lebendig, erhielt volles Fleisch und Blut, während die ähnlichen Darstellungen der Mailänder Nachfolger Leonardos meist über eine kühle, schemenhafte Nachahmung der Vorbilder ihres Meisters nicht hinausgekommen sind. Dieser selbst hat aber in seiner Mona Lisa wie in der Flora und in den Studien und Versuchen dazu und zu ähnlichen Schöpfungen nicht eine durch Fülle und prächtige Farben verlockende Sinnlichkeit, wie die Venezianer, sondern die durch feine Zurückhaltung und hohe Anmut durchgeistigten schönen Formen des Frauenkörpers wiedergeben wollen. Seinen jüngeren Florentiner Landsleuten, auch denen, die ihre Kunst auf seine Lehren und nach seinem Vorbild aufbauten und nicht gleich Michelangelos Richtung folgten, lag die Darstellung solcher idealer Existenzbildet ferner; die dumpfe, halb melancholische, halb dekadente Gesinnung, welche die Revolution Savonarolas und die Wirren der folgenden Jahrzehnte bis zur Gewaltherrschaft der Mediceischen Herzoge hervorgerufen hatten, ließ in Florenz eine Begeisterung für ideale Frauengestalten kaum noch aufkommen. Dagegen lag dem jungen lebensfrohen Urbinaten Raphael solche Empfindungsweise fern; als er daher im Anfänge seines Florentiner Aufenthalts mit Leonardo in Berührung kam, wirkten dessen Frauenbilder besonders stark auf ihn ein.
Wie er für sein Porträt der Mad-dalena Doni eine Skizze mit Benutzung von Leonardos Mona Lisa anfertigte, so hat er auch noch um 1513 sein malerisches Meisterwerk, die „Fornanna“ in der Galerie Barberini, und später die „Donna Velata“ in der Pitti-Galcrie in Auffassung und Anordnung mit deutlicher Anlehnung an solche Leonardosche Kompositionen, die sogenannte Joconda, die Flora u. a. geschaffen. Kr gestaltet sie aber ganz in seiner Weise, die ebensosehr von Leonardos Bildern der Art wie von den venezianischen Existenzbildern abweicht Diese idealen Frauenbilder sind in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum in Italien entstanden; vor 1509 10 wird sich kaum eines nachwcisen lassen, und späterals 1 528, dem Todesjahr \ on Palma, w ird sich höchstens noch ein Nachzügler linden. Aber wie sich der Einfluß Leonardos auch auf die niederländischen Maler, die mit der italienischen Kunst in Beziehung kamen, gelegentlich m den ersten Jahrzehnten des XVI. Jahrhunderts nach dieser Richtung hin nachweisen ließe, so hat das Vorbild jener Existenzbikler auch sehr viel später noch ein Echo geweckt; selbst nördlich der Alpen, wohin namentlich eine Reihe der Palmaschen Frauenschönheiten ihren Weg fanden, vor allem in die Sammlung des Statthalters der Niederlande, Erzherzogs Leopold Wilhelm. Hier greift Rembrandt, der ähnlich wie vor ihm Shakespeare, mit Vorliebe und unter vollster Wahrung seiner Eigenart ältere, auch italienische Vorbilder für seine Zwecke benutzte, das Motiv auf, und behandelt es zu verschiedenen Zeiten: am häutigsten in der Zeit seiner Brautschaft mit Saskia, aus der noch vier solcher „Floorac“, wie er selbst sie nennt, bekannt sind. Welchen Anklang er damit fand, beweist eine kurze Abrechnung von seiner Iland, die sich auf der Rückseite einer Zeichnung erhalten hat; er quittiert darin über drei Kopien dieser Floradarstcllungen von drei verschieden enseiner Schüler. Sehr viel reizvoller wie in diesen phan tastischen, uns barock anmutenden Schüfcr-mädchen, den „Juden-brauten“, wie man sie früher nannte, ist die un Jahre 1641 gemalte „Saskia mit der Blume“, das letzte Bild, welches er bei Lebzeiten seiner Fräu nach ihr malte.
Noch einmal, etwa fünfzehn Jahre später in einem Gemälde, das vom Earl Spencer nach Amerika verkauft worden ist, sehen wir Hendrikje Stoffels vom Meister als Flora ausstaffiert. Beide Bilder sind offenbar, wenn nicht durch ein Original so durch einen Stich nach einer der oberitalienischen Florabilder angeregt worden, vielleicht durch Persyns Stich nach Tizians Flora. Die durchaus eigenartige \\ eise, in der der holländische Altmeister solche fremden, ihm in der Empfind uni sehr fern stehenden Vorbilder sich aneignete, läßt uns diese nur schwer herauserkennen. Um so treuer und banaler verwertet, um noch ein Beispiel zu nennen, wenige Jahre später Pierre Mignard das Vorbild gerade der Leonard#? schen Florakomposition für sein Bildnis der Maria Mancini in unserer Galerie. Auch die italienischen Akademiker hatten das weibliche Idealporträt sich wieder zu eigen gemacht, aller nicht mehr im Sinne oder unter dem Einfluß Leonardos. In ihrem Streben auf Wiedergabe von großer Erregung und starkem Pathos sind es jetzt Halbfiguren der Judith, der Magdalena, von Sibyllen usf., deren Auffassung und Anordnung mit Leonardo nichts mehr zu tun hat. Wie das weibliche Existenzbild schließlich im X\ 111 Jahrhundert, namentlich in Greuzes allegorischen Mädchengestalten der „Unschuld“, der „Jugend“, der „Freundschaft“ usf. sich auslebte, zeigt es das, was Leonardo anstrebte, in süßlicher oder selbst perverser Ausartung.
Unser Versuch, nicht nur die Anregung zum weiblichen Existenzbild, wie es sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des Cinquecento in Italien zu rascher, wenn auch kurzer Blüte entwickelte, sondern selbst die Anordnung, namentlich in der Haltung der Arme und Hände, hier wie im Bildnis überhaupt, auf das Vorbild eines einzelnen Meisters, und sei er so groß und einflußreich wie Leonardo, zurückzuführen, widerstrebt unserer gewohnten Anschauung, da wir sehen, wie die Meister der Portnitmalerei seit der Hochrenaissance ihre Bildnisse mit und ohne Hände in der freiesten und mannigfaltigsten W eise zu geben wissen. Aber die Anfänge der Porträtmalerei, wie wir sie vorstehend gerade nach dieser Richtung skizziert haben, zeigen uns, mit welchen Schwierigkeiten die Künstler beim Porträt in der Anordnung der Hände zu kämpfen hatten, und daß erst Leonardos Vorbilder sie zu freier Auffassung und Wiedergabe führten. Wir sahen, daß diese Befreiung von der alten Befangenheit nur langsam vor sich ging, daß selbst hervorragende Künstler sich deshalb möglichst eng an die Leonardoschen Vorbilder hielten, bis :hnen die neue Auffassung der Formen und Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen war. ln diese Zeit des Überganges und des Leinens gehören aber gerade diese weiblichen Idealbildnisse; in ihnen zeigt sich die Abhängigkeit und zugleich das Ringen nach eigenartiger Verwertung besonders stark Dadurch widerlegt sich zugleich der naheliegende Einwand, daß die ähnliche Haltung der Arme und Hände, wie sie eine Reihe dieser w’eiblichen Idealbildnisse aufweisen, ganz natürlich sei, und daß jeder Künstler selbständig darauf habe kommen können. Zudem ist sie keineswegs so ganz natürlich. Wie die Rechte neben der Brust aufliegt, ist freilich eine gerade für eine Frau naheliegende Haltung, aber die Art, wie die Linke die Enden des von den Schultern herabgleitenden Gewandes zusammenrafft und wTie dabei die Finger gelegt sind, ist ungewöhnlich, ja erscheint in der Kopie von Pedrini fast gesucht. Wenn dies Motiv trotzdem in jenen weiblichen Existenzbildern der lombardischen und venezianischen Meister mehr oder weniger treu nachgebildet ist, was Palma in seinem Berliner Frauenbild geradezu zu einer gezierten 1 Ialtung verleitet hat, so ist dies ein Beweis mehr, wie bereitwillig die Künstler einem großen Vorbild folgten, das sie durch seine Neuartigkeit und Kühnheit überraschte, durch seinen Geschmack und Schönheitssinn begeisterte.
Aus dem Buch “Studien über Leonardo da Vinci” aus dem Jahr 1921, Autor Wilhelm von Bode.
Hier geht es zum Ersten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 1. Leonardo als Gehilfe in der Werkstatt Verrocchios)
Hier geht es zum Zweiten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 2. Loanardo da Vincis Anteil an der Porträtplastik Verrocchios und sein Bildnis der Ginevra de´Benci)
Hier geht es zum Dritten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 3. Leonardos Altartafeln aus seiner mittleren Zeit)
Hier geht es zum Vierten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 4. Leonardos Bildnise aus der Zeit seines ersten Aufenthalts in Mailand)
Texte über ander Künstler können hier eingesehen werden.