von Kunstmuseum-Hamburg.de
Während seines zweiten, mehrfach unterbrochenen Aufenthalts in Florenz zwischen den Jahren 1500 und 1507 hatte Leonardo seine künstlerische Tätigkeit noch einmal mit ungewöhnlichem Eifer wieder aufgenommen. Freilich auch hier, wie in Mailand, wieder infolge äußerer Anregung und unter starkem Druck von verschiedenen Seiten. Wie in der Zeit seines ersten Aufenthaltes in seiner Vaterstadt auch die meisten Kunstwerke schon vorbereitet oder wenigstens erdacht wurden, die der Künstler in Mailand ausführte, so entstanden jetzt in Florenz, außer den Werken, die er an Ort und Stelle ausführte, auch bereits die Pläne oder selbst die Entwürfe zu den wenigen Werken, die ihn nach seiner Rück-kehi nach Mailand und bis zu seinem Tode in Frankreich noch beschäftigten. In Florenz vollzieht sieh jetzt die letzte Wandlung des Künstlers, die bereits eine neue Entwicklung der italienischen Kunst vorbereitete, als die vom Meister ungebahnte und durchgeführte Umgestaltung, die wir mit dem Namen der Hochrenaissance bezeichnen, in Italien erst allmählich zur Geltung kam. In dem Wettkampf mit dem jungen cholerischen Michelangelo, der dem friedfertigen Leonardo in der Aufgabe der Schlachtenkartons zur Verherrlichung eingebildeter kriegerischer Taten der Stadt Florenz aufgezwungen wurde, ein Wettkampf, an dem ganz Italien lebhaften Anteil nahm, vollzog sich der Sieg der neuen Kunst und entwickelten sich schon die Keime zu der letzten großen Blüte der italienischen Kunst im Barock. So erscheint in Leonardo die Entwicklung der Kunst Italiens, wie sie sich im Laufe von ein paar Jahrhunderten darstellt, gewissermaßen zusammengefaßt. Seine lugendwerke sind die letzte und höchste Entfaltung der Ouattrocento-kunst; in seinen bekannten Meisterwerken der Mailänder und der zweiten Florentiner Zeit gibt er der Kunst des Cinquecento ihre Richtung, und in seinen spätesten Werken bereitet er die letzte Phase der neueren Kunst, den Barock, schon vor. Die außerordentliche Bedeutung Leonardos als Künstler, die sich in seiner Einwirkung auf die Kunst noch stärker bekundet als in seinen Kunstwerken, namentlich in den wenigen, meist schadhaften Werken, die auf uns gekommen sind, kann man nur voll würdigen, man kann seine Entwicklung und seine Werke nur erkennen und richtig verstehen, wenn man diese seine Stellung zwischen so verschiedenen Epochen der Kunst und sein Verhältnis zu ihnen im Auge behält.
Während der junge Leonardo als Schüler und dann als Gehilfe bei Verrocehio tätig war, also durch einen Zeitraum von fast einem Jahrzehnt, ist er ganz Quattrocentist, war er Mitarbeiter in einer Werkstatt, in der hauptsächlich Bildwerke ausgeführt wurden. Wie sein Lehrer vor allem Bildhauer war, so wurde auch er zugleich zum Plastiker ausgebildet; daher haben auch seine Gemälde einen ausgesprochen plastischen Zug, der sich im Streben nach geschlossener Gruppierung, kräftiger Rundung und subtilster Durchmodellierung deutlich ausspricht. Michelangelo betrachtete sich als Bildhauer und fühlte sich nur wohl, wenn er den Meißel handhabte; aber seine Plastik, ja selbst seine Architektur ist eine ausgesprochen malerische. Gerade seine plastischen Hauptwerke, sein Juliusdenkmal und die Mediceergräber sind durchaus malerisch erfunden, hätten nur als Malereien vollendet werden können. Das Herrlichste, was er geschaffen hat, bleiben gerade seine großen malerischen Schöpfungen, die Deckenmalereien der Sixtinischen Kapelle und das Jüngste Gericht. Dagegen haben wir in den großen plastischen Werken Leonardos, die zerstört wurden oder nicht zur Ausführung gekommen sind, zweifellos den Verlust von hervorragendsten Bildwerken der Renaissance zu beklagen: das beweisen uns sowohl die Studien zu diesen großen Werken wie die kleineren plastischen Arbeiten des jungen Künstlers, die er noch in Verrocchios Werkstatt ausführte.
In diesen Jugendwerken, die entstanden, bis sich der Künstler ganz selbständig machte, zeigt sich bei allem frühreifen Können noch eine gewisse befangene Abhängigkeit vom Modell, während er seinem Lehrer gegenüber von vornherein besonders selbständig erscheint. Mit außerordentlicher Sorgfalt stellt er in der Verkündigung der Uffizien seine Figuren, modelliert sie in allen Einzelheiten durch, legt ihre Gewänder aufs sorgfältigste und charakterisiert sie nach Stoff und Farbe aufs peinlichste. Er kann sich nicht genug tun in der Ausführung der Blumen, die den Boden bedecken, und in den Einzelheiten der reichen Landschaft; er entwirft den Lesepult mit seinem reichen Ornamentschmuck wie ein selbständiges plastisches Dekorationsstück. Dabei gelingt es ihm aber noch nicht, den Aufbau zu einer ganz geschlossenen Gruppe zu gestalten. Platte die kleine skizzenhafte Anbetung im Louvre bereits den Ansatz dazu gezeigt, so boten die einfacheren Darstellungen, die ihm in den frühesten erhaltenen Madonnenkompositionen gestellt wurden, eine leichtere Lösung. Schon in der Münchener Madonna weiß er diese Aufgabe glücklich zu lösen; der Aufbau im Dreieck ist hier streng und doch anscheinend unabsichtlich durchgeführt. In der mehrere Jahre späteren „Madonna Benois“ ist die Komposition noch freier, ist die Gruppe feiner bewegt und plastisch meisterlich durchgearbeitet.
Noch weiter vorgeschritten in der künstlerischen Anordnung ist der Künstler in den Bildnissen, die in der letzten Zeit seiner Mitarbeit mit Verrocchio entstanden, sowohl in der köstlichen Marmorbüste der jungen „Dame mit den Primeln“ im Bargello wie in dem wenig späteren Bildnis der Ginevra de’ Benci, wie wir es nach der Kopie uns vervollständigt denken müssen. So meisterlich und stilvoll diese Madonnen und Bildnisse schon im Aufbau und in der Bewegung sind, verrät sich der junge Künstler — stand er doch damals erst im Anfang der zwanziger Jahre — noch im Ausdruck der Köpfe, die durch den fest geschlossenen Mund einen auffallend ernsten, fast mürrischen Zug haben. Das „süße leonardeske Lächeln“, das man mit Unrecht als sicherstes Kennzeichen für alle Werke des Meisters betrachtet, fehlt den Köpfen in den Werken der ersten Florentiner Zeit fast ganz, oder cs ist — wie in der Münchener Madonna nur ganz schüchtern angedeutet oder selbst — uTie in der Madonna Benois — noch nicht geglückt und erscheint fast karikiert. Der mit Recht so bewunderte holdselige Ausdruck im Kopf von Leonardos Engel auf dem Bilde der „Taufe“ wird weniger durch den auch hier noch geschlossenen Mund als durch dessen Form und den begeisterten Aufschlag der Augen hervorgerufen.
Gleichzeitig mit jenen durch ihre gemessene Ruhe und den strengen Aufbau ausgezeichneten Frauenhildnissen entstanden in den letzten Jahren von Leonardos Werkstattgemeinschaft mit Verrocchio die drei Bronzercliefs, deren Kompositionen gerade durch den Reichtum ihrer Figuren und die außerordentlich dramatische Belebung charakterisiert sind, die auch in der wenige Jahre später entstandenen „Anbetung der Könige“ und stärker noch in den frühen Entwürfen zu der nicht ausgeführten „Anbetung der Hirten“ und im „hl. Hieronymus“ zur Geltung kommt. Es drängte den jungen Meister, während er Bilder des klassischen Aufbaues und gemessenster Ruhe schuf und sich in ihrer Durcharbeitung gar nicht genug tun konnte, auch der Fülle seiner Gesichte und der inneren Erregung in reichen, stark bewegten Kompositionen freien Lauf zu lassen.
ln der „Anbetung der Könige“ wie im „hl. Hieronymus“ ließen die Schwierigkeiten der Ausführung und die Ablenkung durch immer neue Aufgaben und Probleme den Künstler nicht zum Abschluß kommen: in den Wachsmodellierungen für die wenig umfangreichen Bronzereliefs konnte er dagegen seine Fertigkeit im Bossieren in ähnlich freier Weise zeigen wie gleichzeitig in den Skizzen und Studien zu jenen reichen Anbetungsdarstellungen, ln der freien Arbeit mit dem Modellierholz, das er meisterlich zu handhaben wußte, konnte er mit ähnlicher Leichtigkeit wie mit der Feder seine Gedanken zum Ausdruck bringen; aber während ihm die Federskizzen immer nur als flüchtige Niederschrift eines Gedankens, als Vorbereitung zu den Bildern oder Bildwerken dienten und nicht Selbstzweck waren, gelangen ihm hier in raschem Wurf die reichsten und schwierigsten Kompositionen. Dadurch haben diese Reliefs für die volle Würdigung Leonardos ganz besondere Bedeutung.
Die Schwierigkeiten, die sich dem Künstler bei der Ausführung einer so großen Altartafcl wie die „Anbetung der Könige“ durch die Fülle der Figuren, die er darauf angebracht hatte, und die starke Bewegung und Frregung, die er in ihnen zum Ausdruck zu bringen suchte, entgegenstellten, und die ihn von der Weiterarbeit abschreckten, werden mit der Grund gewesen sein, daß er in der folgenden Zeit seine Kompositionen vereinfachte und dafür nach den Gesetzen der Symmetrie und Abwechslung, wie er sie jetzt auch theoretisch festzulegen suchte, noch gründlicher durcharbeitete. Die „Madonna in der Grotte“ ist das erste und geradezu klassische Beispiel dafür; in der „Auferstehung“ hat er diese Gesetze des Aufbaues in Form und Farbe noch stärker zum Ausdruck gebracht, um schließlich im „Abendmahl“ einen höchsten, wieder neuen, der Darstellung angemessensten Ausdruck zu finden. Auch der Londoner Karton der „Anna Sclbdritt“, die erste Arbeit nach seiner Rückkehr nach Florenz, deren Entwurf vielleicht schon in Mailand entstand, ist noch nach denselben klassischen Gesetzen aufgebaut. Dagegen erscheint in dem Gemälde des gleichen Motivs, das er m Florenz entwarf und erst in Frankreich bis zu einem gewissen Ende führte, die Kunst des Meisters wieder wesentlich gewandelt Dieser Wandel vollzog sich hauptsächlich bei der Arbeit am Karton zur „Schlacht bei Anghiari“ Und durch die Konkurrenz mit Michelangelo, in die er dabei hineingedrängt wurde. Auch die dürftigen Erinnerungen, die uns davon erhalten sind: verschiedene kleine, meist flüchtige Zeichnungen und Rubens’ große Kohlezeichnung der Mittelgruppc mit dem Kampf um die Fahne, lassen deutlich erkennen, daß das Hauptstreben des Künstlers auf Anordnung in eng geschlossenen Gruppen ging, auf eine Massierung und Verschränkung, neben der die strengen Aufbauten im hochgestellten Dreieck in seinen Bildern der ersten Mailänder Zeit noch fast locker erscheinen. Dasselbe Prinzip bekundet sich ebenso stark in dem Pariser Gemälde der „Anna Sclbdritt“ und ähnlich in den verschiedenen Entwürfen zu seinen Ledadarstellungcn. ln fast plastischem Sinne sind diese Kompositionen zu einem Block zusammengeballt, aus dem sich der Beschauer die einzelnen Gestalten mühsam herausmodellieren muß. Diese Blockwirknnjg der Komposition wird noch verstärkt durch das kräftige Helldunkel, in das die Gruppen eingehüllt sind und die größere 1 rille und Kraft in den Formen seiner Gestalten, wie sie sich im „Abendmahl“ und namentlich in der „Schlacht“ schon vorbereiten.
Diesem Aufbau, der komplizierten Linienführung und den Kontrasten in den Bewegungen entspricht stärkste Belebung im Ausdruck, der in der h Schlacht“ als Ausbruch wildester Kampfeswut, in der „Anna Selbdritt“ dagegen als Zusammenklang inniger Liebesgemeinschaft sich ausspricht. So verschiedenartig sich also die innere Belebung in ihrer Richtung äußert, so gleichartig ist sie doch im Grunde. Im Aufbau wie in Bewegung und Ausdruck liegen hier schon die Keime zur Entwicklung des Barocks. Es ist daher erklärlich, daß wir gerade dem größten Barockmaler, Peter Paul Rubens, die beste Nachbildung wenigstens der Mittelgruppe des Schlachtkartons, des Kampfes um die Fahne, verdanken, und daß der starke Einfluß dieser Komposition sich in verschiedenen seiner Bilder deutlich geltend macht. Ebenso erklärlich ist es auch, daß Leonardos neue Auffassung und Kompositionsart auf seinen Konkurrenten in Florenz, auf Michelangelo, so ablehnend dieser sich gegen den älteren Meister verhielt, doch wesentlich einwirkte. Sein damals entstandenes Rundbild der hl. Familie steht in der gesuchten Verschränkung der Figuren und ihrer starken Bewegtheit unter dem unmittelbaren Eindruck des Annenkartons, als eine Art von Konkurrenzarbeit , mit der Leonardo übertrumpft werden sollte, wie sich Wölfflin ausdrückt. Die Blockkomposition wird für Michelangelos plastische Gruppen hinfort die Regel. Dieser empfing aber auch sonst noch wesentliche Anregungen von Leonardo; so haben die Gefangenen am Grabmal Julius’ II., zu dem die ersten Pläne in das Jahr 1505 fallen, ihre \ orbilder in den Gefesselten an Leonardos Entwürfen für das Sforza- und Trivulzi-Monument, ln ganz anderer Richtung hat Leonardo durch den starken Gesichtsausdruck, wie er sich schon in der „Gioconda“ und später 111 den Entwürfen zu den Halbfiguren des „Bacchus“ und des „jugendlichen Johannes“ bis zur Karikatur gesteigert ausspricht, auf die Entwicklung von Correggio eingewirkt; er hat dadurch wieder in anderer, eigentümlicher Weise die Ausbildung des Barocks vorbereitet.
Leonardos Kunst steht dem, was sich heute Kunst nennt, völlig fern. Ein Maler, der als Leitsatz ausspricht, daß die Modellierung die Seele der Malerei sei, der in der Durchführung seiner Gemälde so weit ging, daß er sie nie als vollendet betrachtete und daher nicht aus der Hand geben wollte, der dabei gründlichstes Studium der Natur als Vorbedingung aller Kunst erklärte, kann bei den modernen Künstlern, die in ihren Malwerken über das flüchtigste Andeuten nicht hinausgehen und die Natur als Basis für die Kunst nicht mehr anerkennen wollen, kein Interesse mehr erwecken, geschweige sie erwärmen. Schon dem Impressionismus standen Leonardos Werke fern. Daß diese Gleichgültigkeit gegen den Meister seitens unserer modernen Künstler auch in der Kunstkritik, die doch mehr oder weniger von der gesamten Kunstrichtung der Zeit abhängig ist, trotz der jahrhundertelangen uneingeschränkten Bewunderung, einmal zum Ausdruck kommen würde, war vorauszusehen. Nach einzelnen früheren Anspielungen, die keine sonderliche Begeisterung für den Meister erkennen ließen, ist kürzlich einer der betriebsamsten und vielfach verdienstlichen artcritics, B. Bc-renson, in einem langen Aufsatz, auf den ich schon in der Einleitung hin gewiesen habe, gegen Leonardo vorgegangen; er gipfelt darin, daß er ihn als Manieristen, der den übelsten Einfluß auf die spätere Kunst gehabt habe, an den Pranger stellt. Es ist nicht unsere Sache, Leonardo dagegen zu verteidigen; es wird vielmehr Sache der Freunde Berensons sein, diese sagen wir: Entgleisung zu erklären; wohl aber lohnt es sich zum Schluß, aus einem kurzen Überblick über die Eigenart des Künstlers anzudeuten, welche Eigentümlichkeiten zu einer so schroffen Ablehnung führen konnten. Denn Fehler und Schwächen hat auch der größte Genius; wo Licht ist, ist auch Schatten.
Leonardo war ausübender Künstler und zugleich wissenschaftlicher Forscher, Erfinder und Ingenieur; dies war er sogar in einem Maße und Umfang, daß seine Betätigung als Künstler dadurch stark beeinflußt und zum Teil auch beeinträchtigt wurde. Seiner Phantasie hat er nur ausnahmsweise freien Lauf gelassen; auch in seinen Zeichnungen nicht, da er diese nicht —- wie etwa Rembrandt — als in sich abgeschlossene Kompositionen, sondern fast ausnahmslos nur als flüchtige Studien und Vorbereitungen zu Bildern entwarf, zu deren Ausführung er, wenn überhaupt, oft erst nach langer Zeit gelangte, und die er fast nie treu benutzte. Volle Beherrschung der Natur galt ihm als Vorbedingung für jedes Kunstwerk; strenge Gesetzmäßigkeit und liebevollste Durchführung waren ihm oberste Grundsätze bei seinen Arbeiten. Er glaubte sich nie genug tun zu können, weder in der Vorbereitung noch in der Ausführung; für beides fühlte er sich nur seinem künstlerischen Gewissen verantwortlich. Während er an der Arbeit war, vergaß er fast den Auftraggeber, wollte er das Kunstwerk erst abgeben, wenn cs ihn selbst voll befriedigte. Das war aber nie der Fall; da bei ihm eine Idee die andere drängte und daraus immer neue Aufgaben an ihn herantraten, stellte er die alten Arbeiten zurück, in der Hoffnung, sie allmählich fertigzustellen. Daher gab er sie nur aus der Hand, vollendete sie oberflächlich — wie er meinte , wenn er dazu geradezu gezwungen wurde. Wenn ein solcher äußerer Druck nicht auf ihn ausgeübt wurde, so begleiteten ihn wie wir von der „Gioconda“ und von der ,,Anna Selbdiitt“ wissen seine Bilder durch Jahrzehnte selbst auf seinen weiten Wanderungen; und doch erklärte er auch diese Bilder me für vollendet. Wenn man von der Mona Lisa behauptet, sie sei verputzt, so sind die „fehlenden Lasuren“, die man auf Rechnung des Restaurators setzt, vielmehr auf den „unfertigen“ Zustand des Bildes zu setzen, obgleich heute unserer modernen Empfindung das Bild überfertig erscheint.
Leonardo geht auch in seiner Kunst von schärfster Naturbeobachtung aus, und aus der Erkenntnis, die er dadurch gew innt, zieht er ganz bewußt und streng seine Folgerungen nach allen Richtungen. Wie von der Natur überhaupt geht er auch vom Individuum aus, schafft aber Abstraktes, schafft einen Typus daraus. Die naive Freude an der Natur und ihre schlichte Wiedergabe mit allen Zufälligkeiten, wie sie uns in den Werken des Quattrocento so ergötzt und erquickt, können wir nur noch in Leonardos ersten Jugendwerken entdecken: aus der vollsten Kenntnis der Natur heraus schafft er für ihre künstlerische Wiedergabe eigene Gesetze, welche die Blüte der Kunst in der Hochrenaissance heraufführen und sie beherrschen, und die zum Teil bis in unsere Zeit als maßgebend galten. An die Stelle der Zufälligkeit setzt er die Gesetzmäßigkeit. Im Aufbau verlangt er Ebenmaß und strenge Geschlossenheit, ln der Bewegung der Figuren gibt er dem Kontrapost, den gleichzeitig wTenig ältere Quattrocentokünstler gelegentlich und naiv schon gehandhabt hatten, gesetzliche Form und verschafft ihm in der Ponderierung der Bewegungen das notwendige Gegengewicht. In seinen Gestalten kopiert er nicht etwTa Modelle, die sich ihm zufällig boten, sondern er schafft Typen der Jugend und des Alters, Typen der verschiedenen Geschlechter und bildet sie nach den von ihm wissenschaftlich aufs gründlichste studierten Formen in möglichter Vollendung, namentlich auch in der Gesichtsbildung. Selbst im Ausdruck, auf den er womöglich noch höheren Wert legt als auf Formenschönheit, strebt er eine gewisse Typisierung an, die namentlich in seinem faszinierenden Lächeln als Ausdruck beseligter Ruhe zu Geltung kommt. Die Schönheit seiner Gestalten entspringt aus der Erkenntnis der Gesetze des Körperbaues; die Entartung desselben zeigt er in seinen Karikaturen, in denen er zugleich die Veränderung der schönen Form durch den Ausbruch der Leidenschaften zum Ausdruck bringt. In bewegten Darstellungen bekundet sich seine außerordentliche Beobachtungsgabe, indem er den Ausdruck mannigfaltigster Erregung und wildester Leidenschaft doch auf bestimmte Regeln der Mimik zurückführt, die er in seinen bekannten, von seinen Zeitgenossen, namentlich auch diesseits der Alpen, viel bewunderten Karikaturen aufs eingehendste studiert und versucht. Auch in der Wahl der Farben, in ihrer Zusammenstellung und Abtönung, in der Belichtung und im Helldunkel, wie in der Technik seiner Kunst sucht er nach leitenden Gesetzen und führt danach seine Kunstwerke aus. Aber er beweist andrerseits gerade in seinen Werken, daß seine Vorschriften keine starre Schablone sind; in jeder Schöpfung ist er neu, hat er seine neuen Anschauungen regelmäßig dem Motiv angepaßt. Untergeordnete Nachfolger haben ihm sklavisch nachgeahmt, aber geniale Zeitgenossen hat er aufs stärkste beeinflußt und in neue Bahnen gewiesen: einen Raphael, einen Correggio, selbst einen Michelangelo — der beste Beweis, daß seine Vorschriften keine starren Schranken setzen, sondern in hohem Grade anregten und belebten.
Dieses regelmäßig bis zum Äußersten durchgeführte Streben, auch in den Gemälden die Ursachen der Erscheinungen zu ergründen und ihre Gesetze nach allen Richtungen zur Geltung zu bringen, hat zur Folge gehabt, daß die große Mehrzahl von Leonardos Bildern nicht fertiggemalt sind. Seine Entdecker- und Erfinderfreude, der wir seine treffliche Technik der Ölmalerei verdanken, hat aber auch verschuldet, daß sein größtes Meisterwerk, das Abendmahl, infolge seiner Behandlung in einer neuen Technik nur als Ruine auf uns gekommen ist. Seine außerordentliche Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, die ihn immer wieder von neuem an die Umarbeitung und Durchführung seiner Gemälde gehen ließ, bewirkte, daß diese, obgleich teilweise noch unvollendet, in anderen Teilen übermäßig durchgeführt erscheinen. Dies tritt besonders stark hervor in dem Bestreben, die innerste Beseelung bei jugendlichen Gestalten durch ein eigentümliches, in seinen späteren Werken immer stärker hervortretendes Lächeln zum Ausdruck zu bringen, was namentlich beim jungen Johannes im Louvre als ein für den Wüstenprediger wenig passendes, fast grimassierendes Lächeln wirkt. So haben einzelne Werke des Künstlers durch ihren unvollendeten Zustand oder durch übertriebene Durchführung einzelner Teile gewisse Schwächen, die namentlich der modernen Kunstrichtung unangenehm auffallen mögen, aber diese verschwinden neben ihren außerordentlichen Schönheiten. Dadurch daß Leonardo die Kunst aus den verfahrenen Geleisen des Individualismus und Naturalismus des Quattrocento in ganz neue Bahnen führte, daß er die von ihm gefundenen Gesetze im Aufbau, in Bewegung, Ausdruck, Farbe und Helldunkel in seinen Lehren wie in seinen Werken aufs gründlichste und ausdrucksvollste verdeutlichte, hat er zugleich eine neue Blüte der Kunst heraufgeführt, die nur in der griechischen Kunst ein Gegenstück besitzt; er hat aber zugleich die Keime gelegt zur weiteren Kunstentwicklung bis auf unsere Tage. Der Eifer und die Gründlichkeit, mit der die 1 eonardo-Forschung und die Veröffentlichung seines gesamten künstlerischen und literarischen Nachlasses in neuester Zeit in Angriff genommen ist, wie noch nie das Werk eines Künstlers, ist der beste Beweis, daß auch die Jetztzeit, trotz grundverschiedener Kunstrichtung, noch anerkennt, was Leonardo geleistet hat, was die Kunst ihm für alle Zeiten verdankt.
Aus dem Buch “Studien über Leonardo da Vinci” aus dem Jahr 1921, Autor Wilhelm von Bode.
Hier geht es zum Ersten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 1. Leonardo als Gehilfe in der Werkstatt Verrocchios)
Hier geht es zum Zweiten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 2. Loanardo da Vincis Anteil an der Porträtplastik Verrocchios und sein Bildnis der Ginevra de´Benci)
Hier geht es zum Dritten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 3. Leonardos Altartafeln aus seiner mittleren Zeit)
Hier geht es zum Vierten Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 4. Leonardos Bildnise aus der Zeit seines ersten Aufenthalts in Mailand)
Hier geht es zum Fünften Teil (Studien über Leonardo da Vinci – 5. Leonardos Florakomposition und ihr Einfluss auf das weibliche Halbfigurenbild der italienischen Renaissance)
Texte über ander Künstler können hier eingesehen werden.
Siehe auch: Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten – Vorwort, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten – Die Technik des Bilddruckes, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten – Das fünfzehnte Jahrhundert – Der Holzschnitt in Deutschland, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten – Der Kupferstich in Deutschland und in den Niederlanden, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten – Der Holzschnitt in den Niederlanden.
Auch interessant: Rembrandt und seine Zeitgenossen, Rembrandts Handzeichnungen, Rembrandts Radierungen, Rembrandts Verworfene Blätter, Rembrandts wiedergefundene Gemälde, Rembrandts Zweifelhafte Blätter.