Seit unvordenklichen Zeiten ist man darauf bedacht gewesen, der entbindenden Mutter Hilfe und Erleichterung zu verschaffen. Diese Hilfe beschränkte sich natürlich zunächst auf die wenigen Handgriffe, die man ohne besondere Kenntnisse vom Bau und den Verrichtungen des Körpers der Gebärenden gewähren konnte. Jahrhunderte lang hat die Geburtshilfe ausschliesslich in den Händen unwissender Weiber oder höchstens männlicher Quacksalber gelegen.
Im Jahre 220 n. Chr. verfasste Moschion das erste Lehrbuch für Hebammen, das sich auf die Anatomie, die nötige Raterteilung zur diätischen und ärztlichen Behandlung der Schwangeren, Gebärenden und des Neugeborenen und Angabe der bei der Geburt erforderlichen Handgriffe beschränkte.
In Deutschland ist die Hebammenfrage lange ein wunder Punkt gewesen. Allgemein bedauerte man es, dass die Hebammen durchschnittlich auf einer so tiefen Bildungsstufe standen. Immer wieder hat man es erfolglos versucht, Töchter der gebildeten Stände dazu zu bewegen, diesen Beruf zu ergreifen. Das gebildete Mädchen wiederum wurde namentlich durch die soziale Missachtung, mit der der Hebammenstand zu kämpfen hatte, von der Wahl dieses Berufes, selbst wenn es zur Ausübung desselben grosse Lust und Liebe verspürt hätte, abgehalten.
Der Krieg hat auch darin eine grosse Aenderung vollzogen. Durch ihn und seine Folgen sind auch in den Hebammenstand gebildetere Elemente hineingezwungen worden. Die Aufnahmebedingungen, die im allgemeinen unbescholtener Ruf, Gesundheit, geistige Befähigung und Schulbildung, Alter von 20 bis 35 Jahren waren, sind erweitert, die Ausbildungszeit, die in den einzelnen Bundesstaaten verschieden lang bemessen war, durchschnittlich aber ein halbes Jahr betrug, ist auf mindestens ein Jahr verlängert worden. Und in sozialer Hinsicht wird die Hebamme jetzt mit anderen Augen betrachtet als es früher der Fall war.
Ihre Ausbildung erhält die Hebamme in den Hebammenlehranstalten, die sich an den meisten Universitäten (Universitäts-Frauenkliniken) und auch sonst in den grösseren Städten als öffentliche Entbindungsanstalten finden. Namentlich in Preussen haben die einzelnen Provinzen vielfach besondere Hebammenlehranstalten geschaffen. An erster Stelle verdient hier die durch die nebenstehenden Abbildungen veranschaulichte Hebammenlehranstalt der Provinz Brandenburg in Neukölln erwähnt zu werden, wo den Ausbildungshungrigen das nötige Material im reichsten Masse zur Verfügung steht.
Die Hebamme kann sich den Ort, wo sie ihre Tätigkeit ausüben will, selbst wählen. Auch ist sie zum Betrieb einer Privatentbindungsanstalt berechtigt. Die Erlaubnis zur Ausübung ihres Berufes kann ihr zu Zeiten entzogen, werden, wenn eine Uebertragung von Kindbettfieber und anderen Krankheiten ihrerseits zu befürchten steht. Ihr Diplom verliert sie nur dann, wenn ihr amtlich nachgewiesen werden kann, dass sie über die zur Zeit der Ueberreichimg dieses Diploms notwendigen Kenntnisse und sonstigen Anforderungen nicht mehr verfügt. Die Gefahr, dass eine junge Mutter einer solchen untüchtigen Hebamme zum Opfer fallen könnte, ist aber in Deutschland so gut wie ausgeschlossen, denn sie muss sich genau wie der Arzt mit allen etwaigen Neuerungen auf ihrem Gebiete vertraut machen, und sollte sie hierin rückständig bleiben, muss sie sich zwangsweise den zu diesem Zwecke unentgeltlich abgehaltenen Wiederholungskursen anschliessen.
So rückt der Hebammenberuf auch in Deutschland allmählich an die Stelle, die ihm von Rechtswegen schon lange zukommen sollte.
Obwohl man nicht vergessen darf, dass die Geburt als ein physiologischer Vorgang ihren Schutz in den Einrichtungen des weiblichen Körpers findet und darum ohne fremde Hilfe glücklich verlaufen kann, so haben doch unsere Kulturzustände mit ihren teilweisen Missbrauchen wie zu enges Schnüren, Tragen zu hoher Absätze, ungenügende Bewegung, Mangel au frischer Luft und Licht und zahlreichen anderen es zur Notwendigkeit gemacht, den Geburtsvorgang sachgemäss überwachen zu lassen.
Viele junge Frauen haben gerade zur Zeit ihrer herannahenden Niederkunft das Bedürfnis eine Freundin zur Seite zu haben. Unerfahrene, ängstliche und schwatzhafte Freundinnen können aber der Frau, die ihrer schweren Stunde entgegensieht, eher schaden als nützen. Da ist es gut, wenn die Hebamme als Freundin einspringen kann, wenn sie nicht nur die kühle Sachverständige ist, sondern kraft ihres erhöhten Bildungsgrades, ihrer reichen Erfahrung und Menschenkenntnis auch seelisch die werdende Mutter beeinflussen und ihr den zu einer glücklichen Entbindung so nötigen Seelenfrieden und die erforderliche Geisteskraft verschaffen kann.
Die Brandenhurgische Hebammenlehranstalt und Frauenklinik in Berlin-Neukölln ist in den schweren Kriegsjahren 1914— 1917 von der Brandenburgisehen Provinzialverwaltung erbaut worden. Inmitten einer volksreichen Gemeinde, nahe einer Hauptverkehrsader und doch etwas abseits davon gelegen, bietet die Anstalt mit ihrer schlichten und ruhigen Fassade, infolge der Zweckmässigkeit ihrer Anlage und bei dem geschlossenen und wuchtigen Eindruck ihrer Gebäude einen architektonisch reizvollen Anblick. Die Anstalt ist als eine der grössten Entbindungsanstalten und Frauenkliniken Deutschlands zu bezeichnen. ln den kurzen Jahren ihres Bestehens (die Eröffnung hat am 1. Juli 1917 stattgefunden, so dass gerade jetzt das 5jährige Jubiläum begangen werden kann) ist der Zustrom von Schwangeren, Gebärenden und Frauenkranken zur Anstalt dauernd gewachsen, so dass sich schon Erweiterungen als notwendig erwiesen haben. Diese gesamte Anlage, welche in allen ihren Teilen den neuesten Forderungen der Hygiene und Technik Rechnung trägt, gibt der Frauenwelt Gelegenheit, eine durch seine werktätige Hilfe ausgezeichnete Berufsart zu erlernen, nämlich den Beruf der Hebamme.
Die Anstalt ist für die Höchstzahl von 80 Schülerinnen eingerichtet, die in einem zurzeit einjährigen Lehrgänge als Hebammen und Säuglingspflegerinnen ausgebildet werden und zum Schluss die staatliche Anerkennung erlangen; es sei jedoch bemerkt, dass ein neues in Beratung stehendes Hebammengesetz voraussichtlich die Dauer des Lehrganges nicht unbeträchtlich erhöhen wird.
Das Hebammengesetz ist am 14. Juni 1922 vom preußischen Landtag in zweiter Lesung angenommen worden. Die Brandenburgische Hebammenlehranstalt und Frauenklinik steht unter der Leitung des Herrn Professor Dr. Hammerschlag.
Siehe auch:
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Die Deutsch-Amerikaner und das Kaiserreich
Gedanken über die Zukunft des Deutschtums in Amerika
Wie das alte Österreich starb
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