aus dem Kunstmuseum Hamburg
Einer Wiederbelebung1 der religiösen Gewalten steht in der Gegenwart die der dynastischen zur Seite. Die Beharrlichkeit hat eben doch viel größeres Gewicht in der Geschichte, als ein von Revolutionen großgefüttertes Geschlecht annahm. Schon glaubte man, das Beispiel der neuen Welt werde auch auf der alten zünden, g-iaubte, der Tag eines geeinigten republikanischen Europas sei nicht allzufern, und was ist aus all jenen Träumen geworden ? Die Herrscherhäuser stehen fester, als vor 1866 und 1870. Es gibt einige Ausnahmen: Serbien, Norwegen, Portugal; aber man denke dagegen an Spanien, an Deutschland, an Italien, Belgien, Rumänien, und man wird zugeben: die Macht der Throne ist gewachsen. Das Wachstum zeigt sich in erster Linie bei England. Zwar ist auch die Queen nicht ohnmächtig gewesen; sie hat bei Ernennungen, wie denen Sir A. Greys zum High-Commissioner von Südafrika, zum Statthalter von Neuseeland, ihre Stimme geltend gemacht. Allein ihr Einfluß war nichts gegen den König Eduards. Wichtigste diplomatische Verhandlungen, den Vertrag mit Portugal wegen Flottenstützpunktes auf den Azoren und in Lissabon, die Annäherung an Frankreich, die „Einseifung“ Italiens, wahrscheinlich auch den Dreibund-Vertrag betreffs Abessiniens, die Bündnisse mit Japan und Rußland hat ganz wesentlich der König ins Werk gesetzt. Auch Vittorio Emmanuel scheint in hervorragender Weise sein eigner Minister des Äußern zu sein. Die Blüte Rumäniens ist völlig von der Hohenzollerndynastie abhängig, die Belgiens war es zu einem großen Teile von der Geschicklichkeit des soviel angefochtenen Koburgers, Leopolds II. Von den kleinen Balkanstaaten könnte man fast sagen: Montenegro ist Nikita, Bulgarien ist Ferdinand. In Spanien hat das Königtum jetzt mehr zu bedeuten, als seit einem Jahrhundert. Auch in Deutschland stehen die einzelnen Dynastien, vom Kaisertum nicht zu reden, gegenwärtig ohne Frage fester, als zur Zeit des „Hessenfluchs“*) und des Kartätschenprinzen. Also gegenüber der ungeheuren Zunahme der Volksmacht und der Masse auch eine Erstarkung der Herrschermacht. Eine Antwort, wie sie der preußische Gesandte v. Radowitz dem Zaren Nikolai I. auf dessen Mobilisierungsnachricht gab: Das hätten Sie auch können bleiben lassen! — die wäre in unserem höfischeren Zeitalter kaum mehr möglich. Insonderheit in Deutschland erstirbt man von Tag zu Tag mehr in Ehrfurcht, sogar in der freien und Hansestadt Hamburg. Zum guten Teil mag die Kräftigung der Dynastien von der Kräftigung und Vergrößerung der Reiche selbst herrühren, wie denn auch der Präsident der Vereinigten Staaten jetzt von ganz anderem Pompe umgeben ist, als noch zur Zeit Clevelands oder Garfields.
*) So wurde der unbeliebte Minister Hassenpflug (um 1830) g-enannt.
Der Getragene wird von dem Wachstum der Träger gehoben. Allein ganz reicht diese Erklärung doch nicht zu. Denn auch die Inhaber kleinerer Kronen erfreuen sich wieder größerer Wertschätzung und Ehrerbietung, als vor einem Menschenalter. Ich glaube das eher als einen Rückschlag gegen Sozialismus und Anarchismus deuten zu sollen. Dem Gesagten entsprechend, sind auch dynastische Verbindungen wieder höher im Kurse, als im Laufe des ganzen Jahrhunderts vor 1880, fast so hoch wie zur Zeit des spanischen Erbfolgekrieges, nur freilich daß nicht mehr Länder, sondern lediglich noch Einflüsse als Mitgift verschenkt werden. Die Könige Europas fühlen sich wieder als eine einzige Familie allen den Völkern gegenüber, die sie gewissermaßen alsihreDomänen ansehen. Zwischenheiraten blühen. Dabei wird Glaube und Nationalität gewechselt wie ein leichtes Badegewand. Es müßte nicht so sein, denn russische Großfürstinnen, die sich nach auswärts verheirateten, wechselten fast nie ihren Glauben, sondern ließen sich im Gegenteil meist eigens eine griechische Kirche bauen. So gab Rußland ein Beispiel löblichen Selbstbewußtseins, das von den andern nur so gut wie nie befolgt wurde, dergestalt, daß Schwestern jetzt gelegentlich beiderseits einem andern Glauben anhangen, als dem, den sie als Prinzessinnen hatten, und daß auch der neue Glaube wieder beiderseits verschieden ist. Es ist nicht zu verkennen, daß das dynastische Interesse durch solche Heiraten enger verkettet wird. Die Damenpolitik ist zugleich wieder mehr in die Erscheinung getreten. Unter Bismarck war solche Politik und nicht bloß in Deutschland fast gänzlich verschollen. Wenn früher die Kaiserin Eugenie ihren kleinen Krieg haben wollte, wenn überhaupt unter dem zweiten Empire Damen und Halbdamen ununterbrochen mit der Staatskunst spielten, wenn gegen die Beschießung von Paris deutscherseits weibliche Stimmen sich geltend machten, wenn die Verbindung mit den Bourbons noch für die Haltung Ferdinands von Bulgarien wichtig war, so ist jedenfalls in der späteren Bismarckischen Epoche der Frauen Macht sehr in den Hintergrund geraten. Bloß ästhetische Kunst blühte, namentlich Musik fördernde Salons in Berlin, wie der der Gräfin Schleinitz aber kaum ein politischer Gesellschaftskreis. In j üngster Zeit hörte man dagegen wieder mehr vom Wirken und Weben der Frauenhände reden. Die Bedeutung der Queen erklomm gerade gegen ihr Lebensende den Zenit; auch Dagmar, die Zarin, trat mehr hervor. Ferner Christina in Spanien, Wilhelmine in Holland; die Kaiserinnen von Korea und China, von denen jede einzeln wegen ihrer ungemeinen Fähigkeiten und Laster als Semiramis des fernen Ostens bezeichnet wurde; des weiteren Natalie, Draga und — sonst sans comparaison — Ena von Battenberg, wie Königin Maud von Norwegen. Ganz offenbar eine Zunahme weiblichen Einflusses in der Gesamtpolitik teils durch bewußtes Handeln der Trägerinnen der Krone, teils einfach durch die verwandtschaftlichen Beziehungen der Herrscherin. Endlich hat in der russischen Revolution öffentlich und in der polnischen Bewegung insgeheim die Frau überhaupt, sei es adlig, sei es von niederer Herkunft, eine recht beträchtliche Rolle an sich gerissen. In Australien und in einigen Staaten Amerikas, wie Kansas, Indiana, Massachusetts, begannen die Frauen durch Erlangung des Stimmredits, das sie mit einem fanatischen Teetotalism verbinden, sich unliebsam in die innere Politik einzudrängen. Man hält dies in Amerika für die höchste Blüte der Kultur, ohne zu bedenken, daß in Tibet die Frau noch viel größere Rechte genießt.
Text aus dem Buch: Männer, Völker und Zeiten, eine Weltgeschichte in einem Bande, Verfasser: Wirth, Albrecht.
Siehe auch:
Männer, Völker und Zeiten – Anfänge
Der alte Orient und Griechenland
Arier und Chinesen
Juden und Phönizier
Feudalherrschaften in China, Indien, Vorderasien und Hellas
Homer
Assyrer und Perser
Religionsstifter und Philosophen
Perserkriege
Peloponnesischer Krieg
Anfänge Roms
Politischer Niedergang Athens
Alexander der Große
China und Rom
Punische Kriege
Der Staatsbegriff im Altertum
Kelten und Romanen
Hellenismus
Wuti und Cäsar
Römischer Imperialismus
Germanen
Christentum
Die Cäsaren und die späteren Han
Römische Spätzeit – Anfänge Japans
Völkerwanderung – Weltstellung des Christentums
Die Reiche der Völkerwanderung
Der Islam
Karl der Große
Anfänge der modernen Völker
Papsttum und Kaisertum – Aufstieg des Papstes
Die Kreuzzüge
Westöstliche Kulturvermittlung
Der Kampf der Weltreligionen
Der Staatsbegriff im Mittelalter
Mongolensturm
Aufschwung der Seestädte
Die Geburt heutiger Volkstümer und Sprachen
Die Zünfte
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Entdeckungen und Erfindungen : Renaissance und Reformation
Entdeckungen und Erfindungen : Europäer in Afrika, Asien und Amerika
Entdeckungen und Erfindungen : Südeuropa gegen Nordeuropa
Aufstieg der Nordvölker : Holländer und Engländer
Aufstieg der Nordvölker : Kämpfe in Ostasien
Aufstieg der Nordvölker : Abschließung Ostasiens
Aufstieg der Nordvölker : Peter der Große
Aufstieg der Nordvölker : Das Wachstum Preußens
Aufstieg der Nordvölker : England und Frankreich werden Weltmächte
Aufstieg der Nordvölker : Friedrich der Große
Aufstieg der Nordvölker : Die Vereinigten Staaten von Amerika
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Zeitalter des Nationalismus : Der Staatsbegriff in der Neuzeit
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