aus dem Kunstmuseum Hamburg
Diese Linde und ähnliche Bäume werden als Várdträd, Schutzbäume, bezeichnet. Várd (von várda warten, bewachen, hüten) bezeichnet Fürsorge, Obhut, Schutz; Várdträd ist also der Baum, der die Fürsorge, die Obhut ausübt; oder vielmehr der die Fürsorge persönlich ist. Der Várd wird nämlich als ein persönliches Wesen gedacht, also ein Geist, der dem Menschen folgt, wohin derselbe geht; er offenbart sich zuweilen, sei es als Lichtlein, (das Licht ist eine Form der Seele, vgl. Lebenslicht), sei es als des Menschen Scheinbild. Es giebt noch heute unweit der Gehöfte manche für heilig gehaltene Bäume, welche Várdträd genannt sind, offenbar als Wohnstätten der Várdar oder persönlichen Schutzgeister der Hofleute, oder der Familie, die den Hof bewohnt. Vor wenigen Menschenaltern gab es in der Südländischen Landschaft Várend einen Várdträd noch in der Nähe jedes Hofes. Es war eine alte Linde, Esche oder Ulme. Niemand brach davon auch nur ein Blatt, und ihre Beschädigung rächte sich sicher durch Unglück oder Siechtum. In Hänger erlaubte die Volkssitte nicht einmal windbrüchiges Holz davon weg zu nehmen und zu Hause zu verbrennen, sondern man häufte es zu einem Reiserhaufen oder Holzstoß („bäl“) am Fuße des heiligen Baumes auf. Schwangere umfasten sowol in Värend als in Vestbo in ihrer Not den Várdträd, um eine leichte Entbindung zu erhalten.1
Der Várd entspricht genau demjenigen Begriffe, den der Altnorweger und Isländer mit dem Namen Fylgja verband und wir sind somit hier auf dem Punkte angelangt, von dem aus mit vollem Verständniß die o, S. 45 angekündigte Vorstellungsreihe zu verfolgen möglich ist. Die Fylgja2 (d. h. Folgegeist) ist das Leben, der Genius des Menschen selbst als ein besonderer Dämon personifiziert und als solcher zum Begleiter, Schicksalsverkünder und Schicksalsurheber geworden. Von da war es nur ein unmerklicher Schritt und die Fylgja wurde ein warnender oder helfender Schutzgeist, der für den ihm zugeteilten Menschen liebreich sorgte. Die als Abbild oder Doppelgänger eines menschlichen Einzellebens oder des Lebens einer menschlichen Gemeinschaft gedachte Baumseele in derselben Weise mit Baum und Menschen zugleich verbunden und zugleich von beiden als selbständig hypostasiert, sodann als schützender, helfender Genius aufgefaßt ist der Várd. Die Sitte einen Várdträd hinter dem Hause zu haben, hatte in Dänemark ein unverkennbares Seitenstück. Noch H. Steffens (Gebirgssagen) konnte davon erzählen. In einer entlegenen Vorstadt von Kopenhagen — sagt er — innerhalb der Wälle, bewohnen die Matrosen der dänischen Marine ein Quartier, welches fast eine eigene Stadt bildet. In einem jeden Hof ihrer kleinen Häuser sieht man über die Planken hervorragend einen Holunderbaum, der mit einem religiösen Eifer unterhalten und gepflegt wird. Der Geist dieses Baumes ist Schutzgeist des Hauses. Er hilft in Krankheit, steht den Frauen in Kindesnöten bei, beschützt die Kinder, aber verschwindet auch, wenn der Baum abstirbt. Sicher aber war dieser Glaube sehr alt und in die heidnische Vorzeit hinaufreichend. Dies möchte ich aus der Uebereinstimmung mit der Sitte eines andern auch am Ostseerande wohnenden Volkes, der Letten nämlich, schließen, bei denen ehedem hinter jedem Hause, unweit der Hofstatt ein kleiner Hain von mehreren Bäumen gefunden wurde, in welchem der „Mahjas kungs“ (Herr der Heimat, Wohnung, Behausung)
also der Schutzgeist des Hofes wohnen sollte, dem man von Zeit zu Zeit kleine blutige und unblutige Opfergaben hineinwarf. Es mangelt uns nicht an älteren Zeugnissen über die Sache, aber noch 1836 u. a. zerstörte Pastor Carlbom in dem einen Kirchspiel Ermes in Livland innerhalb 14 Tagen etwa 80 solcher Götzenhaine.1 Wer den Hain umhieb, sah den Mahjas Kungs in Gestalt eines Vogels unter Sturmwind entweichen und mußte des Aussterbens seiner Familie und des Verlustes seines gesammten Hainstaudes gewärtig sein.2 Das Leben also der Menschen und der Tiere in der gesammten Wirtschaft war an das Wolbefinden der Bäume, resp. des Mahjas Kungs geknüpft, der andererseits ihr Heil fürsorglich in Schutz nahm.
Ob und wieweit auch in Deutschland vor alters Hans und Familie ihren Schutzbaum hatten und pflegten, darüber kann ich nichts Ausreichendes mitteilen. Einzelne Spuren scheinen dafür zu reden. Der Aelpler im Allgäu und Bregenzer Walde hat noch einen Familienbaum, unter dem er mit den Seinen sein Abendgebet verrichtet. Viele reservieren sich solche Bäume, wenn sie auch sonst Hab und Gut verkaufen und sind bei ihrem Absterben ängstlich um junge Stämme und Aeste bemüht.3 Manche Namen deutscher Familien (wie Linde, Eichbaum, Buchheister, Holunder, Kirschbaum, Birnbaum, Eschenmayer, Birkmayer, Pirkmayer, u. s. w.)4 könnten wenigstens mittelbar auf unsem Ideenkreis zurückweisen, falls die Bauernhöfe, von denen sie herstammten, nach besonders hochgehaltenen Bäumen in ihrer Umgebung genannt waren.5 Und wenn es Familienbäume gab, sollte vermöge naturgemäßer Erweiterung nicht auch die Dorfschaft in einem Baume ein Gegenbild und Symbol ihres Lebens, ihren Schutzgeist gesucht haben? Bewahren nicht etwa unsere deutschen Dorflinden eine Erinnerung, einen Anklang daran? Es verlohnte sich
wol diesen Gegenstand einmal ernstlich zur Frage und Untersuchung zu stellen.