Beobachtungen von George Kammerer-New York.
Die deutsche Industrie muss heute mehr leisten, als vor dem Kriege, denn nicht nur der deutsche Arbeiter will verdienen, sondern auch die Industrie, denn diese ist es fast allein, die die Lasten der Kriegsschulden bezahlen muss. Die deutsche Export-Industrie und die Export-Kaufleute waren immer bestrebt, sich dem Geschmack und den Wünschen der Auslandkundschaft anzupassen und zu fügen, und sie halten auch heute darin gleichen Schritt.
Diese traditionelle Eigenschaft ist der Eckstein des deutschen Aussenhandels. Die nachfolgenden kurzen Aufzeichnungen über den augenblicklichen Stand einzelner Industrien wurden von mir gemacht, um das Durchschnittsverhältnis zu konstatieren und werden sicher, da ich mich befleissigte, objektiv zu urteilen, dem Leser das richtige Bild unterbreiten. Es sind nicht allein meine eigenen Eindrücke, ich habe mir vielmehr von den Leitern der Werke weitgehendste Auskunft geben lassen:
Die Kohlen-Industrie.
Die Kohlenindustrie ist fraglos die Grundlage der Gesamtindustrie in Deutschland, und hat ihr Hauptzentrum im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet. (Ruhrgebiet.) Im Jahre 1920 wurden 131 Millionen Tonnen pit-coal gewonnen, gegen 190 Millionen Tonnen im Jahre 1913, unter normalen Konditionen. Durch den Versailler Friedens-Vertrag verlor Deutschland die Kohlenbergwerke von Lothringen, was eine Einbusse von 3,8 Millionen Tonnen Kohle jährlich bedeutet. Ferner büsste es die Minen des Saargebietes ein, was gleichfalls einen weiteren Verlust von 12,4 Millionen bedeutet. Das Kohlenforschungsinstitut in Mühlheim a. d. Ruhr versucht nun auf wissenschaftlichem Wege alles Mögliche, um durch bessere Ausnutzung der Kohle diese Verluste auszugleichen.
Gewonnen wurden nach amtlicher Angabe an brown-coal in den Jahren 1897 29 Millionen Tonnen; 1913 87 Millionen; 1919 94 Millionen und 1920 115 Millionen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass seit dem Jahre 1918 im Kohlengebiet bedeutend mehr Arbeiter beschäftigt werden.
Ein Arbeiter förderte im Jahre 1912 1835 Tonnen, dagegen im Jahre 1919 nur 1253 Tonnen. Dieses Beispiel veranschaulicht am besten und klarsten, dass die Produktion zurückging, voraussichtlich zum grossen Teil infolge der schlechten Nahrungsmittelverhältnisse.
Die Potasch-Industrie
hat ihren Hauptsitz in Magdeburg, Halberstadt, Mansfeld, Halle, Querfurt, wie an der Werra und an der Fulda.
Justus von Liebig war der erste massgebende Grundsteinleger für diese Industrie, die im Jahre 1880 im Ganzen 685,000 Tonnen produzierte, aber im Jahre 1914 bereits 11,1 Millionen Tonnen in alle Welt sandte. Im Jahre 1920 zeigt der Record einen Gesamtgewinn von 9,2 Millionen Tonnen.
Dieser Industrie erwuchs während des Krieges in Spanien eine kräftige Konkurrentin, welche eine gleich gute Qualität gewinnt. Der Verlust der Minen im Elsass (durch den Friedensvertrag) ist zu verschmerzen, da diese qualitativ unter den in Deutschlands Besitz gebliebenen Minen stehen.
Die Erze Deutschlands.
In Oberschlesien werden die meisten Erze aus den Bergwerksstollen ans Tageslicht gefördert. Im Jahre 1914 wurden dort 177,000 Tonnen Zink (von einem Gesamtgewinn von 268.000 Tonnen) und 40,000 Tonnen Blei (von 89.000 Tonnen) gefördert. Gleichbedeutend für die Erzeugung dieser Metalle ist das linke Rheinufer, und zwar gewann man dort-selbst im Jahre 1914 32,000 Tonnen Zink und 5000 Tonnen Blei.
Wieviel augenblicklich in beiden Distrikten gefördert wird, konnte ich nicht genau feststellen, da nur ungenügende Berichte Vorlagen, aber der Betrag ist um ein Bedeutendes geringer.
An Kupfer wurde nach amtlichem Bericht im Jahre 1913 im ganzen 912,000 Tonnen, im Jahre 1920 nur 516,000 Tonnen gefördert. Eisenerze wurden im Jahre 1913 27 Millionen Tonnen, im Jahre 1921 jedoch nur 8 Millionen Tonnen gewonnen. Dieser enorme Verlust bezw. Unterschied wird durch die Abgabe bezw. Auslieferung Lothringens erklärt.
Das deutsche Bank-System.
Aus diesen Mitteilungen über Deutschlands Industrie geht hervor, dass trotz eines gewissen Rückganges die Lage nicht schlecht ist, die Sonne wird schon wieder durch die Wolken brechen; das deutsche Bankwesen ist dafür ein bedeutender, man kann sagen der Hauptfaktor.
Die kommerzielle Lage ist heute allerdings ziemlich unklar, denn der Kriegsausgang schuf abnormale Zustände in der Geldwährung; dazu kommt die grosse Schuldenlast der Regierung, der im Moment überhaupt keine Hilfsquellen zur Verfügung stehen. Früher arbeitete die Eisenbahn mit Profit, heute mit Defizit, und das gleiche trifft bei der Post zu.
Alles was die Regierung heute versucht, ist, sie klammert sich daran für alle Ware, die ins Ausland geht, Devisen zu bekommen von den Exporteuren. Diese Politik ist unvernünftig, aber momentan der einzige Ausweg. Die deutschen Banken unter Führung der Reichsbank haben während des Krieges grosse Umwälzungen erlebt und überlebt. Sie haben ihre Revolutionen ohne nennenswerten Schaden durchgemacht und das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft, denn es zeigt, dass die Grundlage von 1871 gesund war und auch heute noch ist.
Mit aller Kraft und Energie arbeitet man an massgebenden Stellen an der Wiedergeburt normaler Verhältnisse, doch es ist auch hier eine Zeit der Rekonstruktion, die überwunden werden wird, sobald die Schulden der Regierung in kalten, blanken Zahlen festgesetzt worden sind.
Das deutsche Bankwesen wurde 1871 auf Goldwährung gegründet; aber wohlweislich liessen sich die Gründer Ellbogenfreiheit durch den Giro-Zahlungsverkehr, welcher keine Goldbestände bedingt. Dieser Modus ist heute ein bedeutender Faktor im deutschen Bankverkehr, und ermöglicht die Finanzierung auf solider Basis für die Industrie und den Handel.
Das Kapital ist heute demokratisiert, und zwar mehr als alles andere im deutschen Lande, dieses ist an und für sich schon eine Gesundung.
Die Uhren-Industrie.
Das Zentrum dieser Industrie liegt im wunderschönen Schwarzwald (Schrämberg, Lenzkirch, Triberg, Villingen, Schwenningen etc.) Der Altmeister, der den wirklichen Grundstein zu dieser Industrie legte, war der Schlossermeister Peter Henlein, welcher im Jahre 1505 die erste diensttuende Uhr herstellte, und zwar in Nürnberg.
Die deutsche Uhrenindustrie ist heute so weit fortgeschritten, dass jedes kleine , Teilchen ohne grossen Zeitverlust ersetzt und repariert werden kann. Die Herstellung der einzelnen Teilchen ist mehr oder weniger monopolisiert, was einen besonderen Vorzug in Bezug auf den Export der Ware bedeutet.
In Glashütte (nahe Dresden) werden Taschenuhren in besonders feiner Herstellungsweise ausgeführt. Auch hier kommt die Monopolisierung der Herstellung der feineren Teilchen der ganzen Industrie vorteilhaft zu statten, indem gerade dadurch den holien Löhnen sowie der enormen Verteuerung der Rohmaterialien begegnet werden konnte. Die deutschen Uhren sind die besten der ganzen Welt und ob ihrer vorzüglichen Werke, wie ihrer soliden, feinen Aufmachung überall begehrt.
Sonderbar ist es, dass gerade im Schwarzwald — dort, wo die Wasserfälle rauschen, die Quellen springen, wo die ganze Natur in ihrer erhabenen ewigen Schönheit ein ewiges Märchen zu sein scheint — diese sinnige Industrie ihren Hauptsitz hat. Hier wo Zeit und Stunde sich ewig, ewig gleich bleiben, schaffen tausende von Menschenhänden, um der Welt den Gradmesser der unsichtbar fliehenden Zeit zu geben.
Siehe auch:
Wir Deutsch-Amerikaner
Deutsch-Amerika
Die Deutsch-Amerikaner und das Kaiserreich
Wie das alte Österreich starb
Wie das alte Österreich starb II
Die Deutschen in Amerika
Die Deutschen in Amerika II
Eine Audienz bei Richard II. (Richard Strauss)
Die Lüge als Fundament
„Deutsch-Amerikas“ Mission
Schundromane auf dem Scheiterhaufen
Lincoln und das deutsche Element
Die Geschichte der Revolution
Der Aufbau Palästinas
Deutschland und der Weltfriede
Vaterland vor der Wiedergeburt
Das Schicksal der deutschen Kolonien
Der letzte Zar im Kreise seiner Familie
Krupp-Werk in Friedens-Arbeit
Die Wolkenburgen der neuen Welt
Deutschlands chemische Industrie in der Nachkriegszeit
Jerusalem die Heilige Stadt
Die Schwarzen Truppen in Deutschland
Schiffsmodelle als Zimmerschmuck
„Bismarck“-„Majestic“- der Meeresriese
Quer durch das neue Deutschland
Von Versailles bis Haag