Textübersetzung aus dem Kunstmuseum Hamburg
Mittelalter und Renaissance
Mit der deutschen Wiederbesiedlung unter Heinrich dem Löwen beginnt Mecklenburg im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts seinen geschichtlichen Entwicklungsgang innerhalb des deutschen Raumes als Grenzland, und diese Tatsache drückt den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte den beherrschenden Stempel auf. Die Menschen eines Grenzlandes sind stets Kämpfer und Siedler zugleich. In der Härte und dem schwerblütigen Emst ihres Daseinskampfes verkörpern sie wohl die Pioniere jeder Kultur, aber deren tiefere Ausbildung und geistige Durchdringung müssen sie zumeist einem späteren Geschlecht überlassen, das über mehr Ruhe und Muße verfügen kann.
Schon der Emst ihres Kampfes macht diese Menschen schweigsam, mehr noch aber die in sich ruhende Stille der norddeutschen Landschaft, in der sich ihr Schicksal erfüllt. Mag nun an Sommertagen die Sonne über ährenschweren blaßgelben Kornfeldern, fernen bläulichgrünen Wäldern und lustig rotem Mohn am Rain der staubigen Feldwege glänzen oder an trüben Herbstabenden die herbe Schwermut der norddeutschen Tiefebene ihre Schleier über die regen-zerwaschenen Fluren senken — immer atmet dieses Land eine große feiertägliche Ruhe. Und diese innere Gelassenheit teilt sich auch den Menschen mit, die es bebauen. Es liegt ihnen nicht, viel Wesen von sich selbst zu machen. Das Blendwerk marktschreierischen Eigenlobes ist ihnen fremd und verächtlich und der eigenen Leistung zu gedenken, erscheint ihnen leicht nicht nur überflüssig, sondern auch fast imehrenhaft, so stark empfinden sie die Selbstverständlichkeit ihres Schaffens. Diese Bescheidenheit jedoch birgt eine große Gefahr, im lauten Getriebe der Welt vergessen und übergangen zu werden. Obwohl Mecklenburgs Leistung vor der Geschichte wahrlich nicht gering zu veranschlagen ist, gehört es auch heute infolge dieser Eigenart im Grunde noch zu den Stiefkindern des deutschen Raumes, da es niemals von seiner Arbeit sprach. Eine immer rastloser und oberflächlicher werdende Zeit aber glaubte in dem Fehlen des Eigenlobes zugleich das Fehlen eigener Schöpfungen zu sehen. So wurde Mecklenburg, noch krankend an den Nachwehen des Feudalismus und der Leibeigenschaft, im Zeitalter des Liberalismus zu einer Terra incognita, zum schlafenden Land, wo die Zeit stillzustehen schien. Einer seiner besten Söhne, John Brinckman, klagte selbst in grimmigem Spott:
„Und wenn der Zeitsturm grell vorüberfuhr
Dann schnarchtest du ein wenig lauter nur . .
Bismarck schreibt man — wohl zu Unrecht — das Wort zu,
wenn die Welt einmal unter gehen sollte, so würde er nach Mecklenburg gehen, denn dort ginge sie erst fünfundzwanzig Jahre später unter.
Doch selbst die zweihundert Jahre der Feudalherrschaft mit ihren verheerenden Folgen, auf welche dieser Spott gemünzt war, waren nicht Jahrhunderte des Stillstandes, sondern des tiefsten Leides und eines steten und verzweifelten Ringens um die innere Genesung und das geistige Wiedererwachen. Steigt man tiefer in die Geschichte hinab, so zeigt sich sehr bald, daß Mecklenburg einstmals seine kulturtragende Rolle im Ostseeraum wohl versehen hat, und diese Erkenntnis weist wie von selbst den Weg zu der neuen Sendung, welche Mecklenburg als Mittlerin in wirtschaftspolitischer wie kultureller Hinsicht nach der Neuordnung der Verhältnisse im Ostsee- und im skandinavischen Raum zufallen wird. Zugleich aber enthüllt die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung des Landes vollkommen eindeutig die Tatsache, daß Mecklenburg seinen Weg als echtes Bauernland begann. Und es ist sicherlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß seine erste Kulturblüte verwelkte, als die Ritterschaft daran ging, eine feudale Lebensordnung aufzurichten und den Bauern unter das Joch der Leibeigenschaft zu beugen.
Schon vor der Abwanderung der germanischen Stämme zur Zeit der Völkerwanderung war Mecklenburg ein Bauernland; wie die zahlreichen Fundstätten lehren, ohne Zweifel dicht besiedelt, und nach den kunstgewerblichen Erzeugnissen wie dem berühmten Kesselwagen von Peckatel oder dem Horn von Wismar zu urteilen, von einer beträchtlichen Kulturhöhe. Doch mit der Völkerwanderung bricht diese Entwicklung jäh ab. Das Land wird menschenleer, und im Laufe des 6. Jahrhunderts dringen slawische Stämme in den verödeten Raum vor, deren kulturelles Leben noch auf recht irrtümlicher Stufe stand. Erst die deutsche Kolonisation knüpft mit der Verdrängung des Slawentums wieder an die alte Überlieferung an. Im 13. Jahrhundert, dem heroischen Jahrhundert der mecklenburgischen Geschichte, wie man es wohl genannt hat, schafft der deutsche Bauer das deutsche Land Mecklenburg neu. Nicht die Kirche ermöglicht die Kolonisation, sondern die bäuerliche Siedlung schafft im Gegenteil erst die Grundlage für das Wirken der Geistlichkeit.
Von Anbeginn an wirkte sich dabei die kulturelle Überlegenheit der deutschen Siedler entscheidend aus. An die Stelle des primitiven hölzernen Hakenpfluges der slawischen Stämme trat der Eisenpflug, der auch die Bearbeitung schwererer Böden ermöglichte, überall wird das Ackerland neu vermessen, nach deutscher Art in Hufen gelegt und an Stelle der wilden Feldgraswirtschaft der Slawen die altgermanische Dreifelderwirtschaft wieder eingeführt, d. h. der Wechsel zwischen Winterung, Sommerung und Brache. Mutig wagte sich der deutsche Siedler jetzt auch an die Rodung der Buchenwälder auf den schweren Moränenböden, die zahlreichen mecklenburgischen Hagendörfer entstanden.
Wirtschaftlich und rechtlich galten im neuen Grenzland für die nächsten Jahrhunderte jene Verhältnisse, welche die Siedler aus ihrer zumeist niederdeutschen Heimat mitbrachten. Die Siedlung selbst vollzog sich im allgemeinen in der Form, daß der Landesherr als Eigentümer des Grund und Bodens erfahrene Mittelsmänner, die sogenannten Lokatoren — in der Mehrzahl deutsche Ritter —, mit Grund und Boden belehnte und ihnen damit gleichzeitig die Aufgabe übertrug, auf diesem Boden die Siedler anzusetzen. Damit blieben diese wohl wirtschaftlich an den Grundherrn gebunden, persönlich jedoch frei. Der mecklenburgische Bauer des Mittelalters saß entweder als Erbpächter oder als Erbzeitpächter auf seiner Hufe. Im ersteren Falle war der Hof unkündbar, im zweiten bestand das Erbrecht nur als Gewohnheitsrecht. Gebäude und Hofwehr waren in jedem Falle Eigentum des Bauern. Er genoß das Vorrecht des freien Mannes, Waffen zu tragen und vermochte als Schöffe selbst an den Gerichtstagen das Recht zu finden, ja nicht selten treffen wir ihn sogar als Schiedsrichter bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Rittern. Die Abgaben, welche er an den Landes- und den Grundherrn wie die Geistlichkeit zu zahlen hatte, waren im allgemeinen anfangs gering und stellten keine übermäßige Belastung dar. Der Ritter als Grundherr war seinem Besitz nach fast allerorts nicht mehr als ein größerer Bauer. Sein Eigenbesitz an Hufen lag verstreut unter den bäuerlichen Hufen, er selbst wohnte vielfach mitten im Dorfe, ja des öfteren sind sogar mehrere Rittersitze in ein und demselben Dorfe bezeugt, was nicht für eine übermäßige Größe derselben noch für prunkvolle Bauten spricht. Aus all dem ergibt sich leicht die Tatsache, daß der mecklenburgische Bauer bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts hinein weit besser als seine Schicksalsgenossen in Mittel- und Süddeutschland gestellt war. Während Frankreich schon im 14. Jahrhundert das Grauen der Jacquerie erlebt, während sich in Mittel- und Süddeutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts allerorts die gequälten und verelendeten Bauemmassen gegen ihre adeligen und geistlichen Bedrücker erheben, kennt Mecklenburg bezeichnenderweise damals solche Erscheinungen überhaupt nicht. Erst spät wird es im 18. Jahrhundert seinen Bauernkrieg unter ganz anderen Bedingungen erleben.
Erst zwischen 1550 und 1560 setzt auch in Mecklenburg allmählich die Entwicklung zum adeligen Großbesitz und zur Entrechtung der Bauern ein. Infolge der zunehmenden Entwertung des Geldes durch den Einstrom von Silber aus den spanischen Besitzungen in Südamerika sah sich der Ritter zu einer Steigerung seiner Einnahmequellen gezwungen. Dazu kam die wirtschaftliche Konjunktur dieser Jahrzehnte als weitere mächtige Antriebskraft; England, Holland und Spanien benötigten damals in zunehmendem Umfang Getreide, wodurch sich auch für die mecklenburgische Landwirtschaft imgeahnte neue Absatzmöglichkeiten ergaben. Die steigenden Getreidepreise aber wurden für den Grundherrn ein ständig stärker werdender Anreiz zur Erweiterung seiner Betriebsfläche, um höhere Erträge zu erzielen. Anfangs warf sich der Ritter wohl, dem Beispiel Herzog Magnus II. (1477—1503) folgend, der auf eigene Rechnung Getreide nach England, Frankreich, Spanien und Portugal ausgeführt hatte, selbst auf den Getreidehandel, indem er das Getreide seiner Bauern aufkaufte, ein Vorgang, mit dem sich zugleich der Eintritt der mecklenburgischen Ritterschaft in das Wirtschaftsleben vollzog. Einzelne ihrer Vertreter müssen es dabei schon damals zu bedeutenden Kapitalien gebracht haben, denn von Kuno Hahn auf Basedow (1540—90) wissen wir, daß er mehrfach dem Kaiser beträchtliche Summen geliehen hat.
Bald überwog indes bei den Grundherrn naturgemäß der Wunsch nach Eigenerzeugung dieses händlerische Vorgehen. Die Voraussetzung für seine Verwirklichung aber bildete eine Vermehrung des Hoflandes. Infolge der beständigen Finanznöte des Landesherrn war längst für gutes Geld überall im Lande die Gerichtsbarkeit auf den Grundherrn übergegangen. Damit war diesem das wichtigste Rechtsmittel überantwortet. Und als nun durch die großen Rostocker Rechtsgelehrten der Renaissancezeit, Friedrich Husanus und Ernst Cothmann, in zunehmendem Maße die Lehren des Römischen Rechtes Geltung erlangten, erhielt der Grundherr alle notwendigen Rechtsunterlagen, um den Bauern seines Bodens zu berauben und diesen dem eigenen Besitz hinzuzufügen. Mit dem Eindringen römischen Rechtsdenkens entwickelte sich ein neues Besitzverhältnis. An die Stelle des Lehngutes trat jetzt vielfach das Allodialgut, das freie Eigentum eines Privatmannes, die Voraussetzung für die Bildung jeglichen Latifundienbesitzes wie jeglichen Güterschachers, und mit ihm wandelte sich auch der Besitzer nunmehr aus dem Lehnsmann und Krieger des Mittelalters zum Gutsherrn und Landwirt der beginnenden Neuzeit. Friedrich Husanus (1566—1592), der Sohn eines herzoglichen Kanzlers, der selbst umfangreiche Güter besaß, stellte 1590 in einem eigenen Werke über die Leibeigenschaft die These auf, daß kein Staat in Wahrheit ohne Sklaverei auszukommen vermöchte und suchte aus der angeblichen Tatsache der Unterjochung der wendischen Bauern durch die sächsischen Herren das Sklaventum aller mecklenburgischen Bauern abzuleiten, die somit stets als Leibeigene Frondienste geleistet hätten.
Die ungeheuerliche Verzerrung und Verdrehung der Geschichte, welche aus dieser Behauptung spricht, liegt für uns heute klar auf der Hand, allein damals fügte sie sich allzugut in den Geist der Zeit und entsprach allzusehr dem wirtschaftlichen Vorteil der Herrenschicht, als daß sie nicht mit Begeisterung wie ein Evangelium begrüßt wurde. Freilich gab es zunächst noch außer dem Bauernland die durch die Reformation freigewordenen Ländereien der Klöster und genug ödes oder wieder wüst gewordenes Land, das der Grundherr für seine Zwecke in Anspruch nehmen konnte, aber der grundlegende Schritt für die Entwicklung der Grundherrschaft mit ihrem aus dem Mittelalter überkommenen Streubesitz zum geschlossenen Gutsbesitz der Neuzeit war mit der Einführung des neuen Rechtes doch getan.
Die Vergrößerung der Eigenwirtschaft des Ritters hatte zwangsläufig eine Verminderung der Zahl der abgabe- und dienstpflichtigen Bauern zur Folge, so daß die Abgaben und Dienste für die Verbleibenden sich in gleichem Maße erhöhten. So zog ein Schritt mit unheimlicher Folgerichtigkeit den anderen auf dem Wege zum Verderben nach sich. Der Bauer, der zumeist über keinerlei schriftliche Eigentumstitel für seine Hufe verfügte, sondern nur das altgermanische Gewohnheitsrecht des Besitzes von altersher geltend machen konnte und zudem ohne Gemeinschaftsverband war, befand sich dabei von vornherein im Nachteil. Seine endgültige Niederlage war unvermeidlich. Der Landesherr, der einzige, der ihm schon aus ureigenem Interesse heraus Schutz gewähren konnte, vermochte dies längst nicht mehr, da er infolge seiner Verschuldung zum Spielball in der Hand der landgierigen Stände geworden war. Seit 1523 hatten sich diese zwecks Wahrung ihrer Rechte zu einer Union gegen den Landesherm zusammengeschlossen, in der Ritterschaft, Geistlichkeit und Städte brüderlich Seite an Seite standen. Vom Jahre 1561 ab flössen nicht einmal mehr die Steuergelder in die herzogliche Renteikasse, sondern in den vom Schuldentilgungsausschuß der Stände betreuten sogenannten „freiwilligen Hilfskasten“, der als späterer Landkasten bis 1918 die eigentliche Landessteuerkasse Mecklenburgs darstellte. Trotzdem aber setzte sich der Bauer, wo er irgend konnte, mit verzweifeltem Mute zur Wehr, um sich seinen Besitz zu erhalten. Das Land sah mehr als eine Michael-Kohlhaas-Tragödie. Zahlreiche Prozesse, in denen mecklenburgische Bauern bis zum Reichskammergericht gingen, legen Zeugnis sowohl für deren Unabhängigkeitssinn wie für ihre wirtschaftliche Kraft ab, und diesem zähen Widerstand ist es zu danken, daß Mecklenburgs Charakter als Bauernland bis zum Dreißigjährigen Krieg im großen ganzen gewahrt blieb.
Diese Erörterung ist nicht ohne Absicht an den Beginn dieser Untersuchung gestellt worden. Kulturgeschichte ist zugleich und in erster Linie Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Keine Kultur gedeiht im luftleeren Raum als etwas Abstraktes, sondern ist durch tausendfältige Bande verknüpft mit den rassischen und bödenmäßigen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingtheiten des Raumes, aus dem sie erwächst. So sind auch die ersten Mittelpunkte des sich mit der Vollendung der deutschen Wiederbesiedlung mm in Mecklenburg entfaltenden künstlerischen und geistigen Lebens, die Klöster und die Städte, fest gebunden an die bäuerliche Struktur dieses Siedlungsgebietes.
Gerade die Städte, die im 12. und 13. Jahrhundert zumeist in Anlehnung an einstige wendische Burg- oder Marktplätze entstehen — Schwerin 1160, Rostock 1218, Wismar 1226 (?), Güstrow 1228 —, stellen eine der bedeutsamsten Leistungen der deutschen Kolonisation dar. Als Kultur- und Handelszentren gewinnen sie schnell an Macht und Ausdehnung. Neben Lübeck werden Rostock und Wismar, die mecklenburgischen Seestädte, durch den Rostocker Bund von 1283 zu einer der Keimzellen der Hanse. Vor allem in Oslo in Norwegen gewannen die Rostocker Kaufleute eine beherrschende Stellung. Die Bergen- und Schonenfahrt, der Handel mit den baltischen Ländern und dem russischen Stapelplatz Nowgorod, Frachten nach England und Südfrankreich machen alsbald ihre Kaufmannsgeschlechter reich. Der aufstrebende bürgerliche Erwerbssinn wie der Einfluß der damals noch allmächtigen Kirche werden hier zu den Triebkräften der ersten Äußerungen heimischen .Kulturwillens und künstlerischen Schaffens, wie sie sich in den gewaltigen Backsteinkirchen offenbaren. 1171 ist das Gründungsjahr des Schweriner Doms, und im gleichen Jahrhundert noch wird der Grundstein zu St. Petri in Rostock gelegt. Im 13. Jahrhundert folgen dann die drei anderen großen Pfarrkirchen Rostocks, St. Marien, St. Jakobi und St. Nikolai, die Kirchen von Wismar, an der Spitze St. Marien und St. Jürgen, der altehrwürdige Dom zu Güstrow, die herrliche Kirche der Cistercienserabtei zu Doberan. Alle diese ragenden Bauten sind dem Geiste der Zeit entsprechend echte Gemeinschaftsleistungen, kaum daß uns einmal wie bei der Doberaner Kirche die Namen einzelner Werkmeister überliefert sind. Nur in Rostock wird uns verhältnismäßig spät ein berühmter Kirchenbaumeister genannt, Johann Rumeschotel, der hier an der Marienkirche baute und 1408 nach Riga berufen ward, wo er die Petrikirche erbaute.
Sonst tritt das Ich, die Einzelleistung irgendeines Individuums, wie in der Frühzeit jeder echten Kultur bei dieser Fülle stolzester Backsteinbauten, in der Mecklenburg alle Länder des Nordens übertrifft, völlig in den Hintergrund. In vollendeter Weise prägt sich in ihnen der Geist jener heroischen Zeiten aus. Mit ihren wuchtigen Massen, ihren klotzigen ungefügen Türmen, die sich trotzig über das flache norddeutsche Land recken, ihren gewaltigen Strebebögen, welche oftmals die Höhenwirkung des Gesamtbaus ins Riesenhafte steigern, sind sie Ausdruck einer stolzen Frömmigkeit sowohl wie wehrhafter Kraft. Aus ihnen spricht die gleiche Urkraft und Bodenverbundenheit niederdeutschen Stammes, die aus den stolzen Stadttoren von Rostock, Ribnitz, Teterow, Malchin, Friedland und Neubrandenburg redet. Diese Baukunst gehört ihrer inneren Haltung nach Menschen an, bei denen die Willenskraft im Vordergrund ihres Handelns und Denkens steht. Alles Spielerisch© und Selbstgefällige ist ihr fremd. Zugleich aber ist sie zutiefst der heimischen Landschaft verbunden. In ihr wahrt sich Mecklenburg in stolzer Eigenart die geistige Selbständigkeit seiner Landschaft wie seiner Menschen.
Trotz der schwerfälligen Wucht der Massen, mit denen sie arbeitet, wirkt diese Kirnst dennoch niemals roh. Die verschollenen Werkmeister dieser alten mecklenburgischen Bauhütten wußten vielmehr sehr wohl in strengem Formensinn die gewaltigen Mauerflächen durch Strebepfeiler zu gliedern und aufzuteilen und mit Glasurziegeln von sattem Dunkelgrün oder tiefem Rot oder Gesimsen und Friesen in breiten Horizontalstreifen zu beleben.
Der künstlerische Sinn, von dem diese Schöpfungen zeugen, verrät sich auch im Kircheninneren in der reichen Pfeilerbildung, in dem Schmuck der Altäre, in Schnitzwerk und Bildnissen. Wie alle geistigen Regungen zunächst mit der Kirche als dem Hort der damaligen Bildung verknüpft bleiben, so beginnt auch Mecklenburgs Kunst als Kirchenkunst. Die Dobefaner Altarkunst wird mit dem 14. Jahrhundert führend für die gesamte weitere Entwicklung. Schon früh verraten einzelne Schöpfungen wie die Bronzefünte der Rostocker Marienkirche und die Wismarer Taufe des Gießers „Apengeter ut Sassenland“ eine beachtliche Höhe des heimischen Kunstschaffens. Auch die echt deutsche Kunst der Holzschnitzerei beginnt in Schöpfungen wie dem Triumphkreuz von St. Marien zu Wismar und der Statue der Heiligen Klara aus der Ribnitzer Klosterkirche ihre ersten Triumphe auf mecklenburgischem Boden zu feiern.
Von Doberan nimmt auch die Tafelmalerei ihren Ausgang. Die Grabower Kirche birgt in dem Altar des Meisters Bertram, der auch die Rückseite der Flügel des Hauptaltars im Güstrower Dom gemalt hat, eine der ältesten Inkunabeln deutscher Tafelmalerei aus dem Jahre 1379, eine Arbeit, deren Schöpfer zwar ein gebürtiger Hamburger war und deren Herkunft nach Lübeck weist, die aber nichtsdestotrotz doch dem niederdeutschen Raum angehört. Anders verhält es sich bei dem Altar der Kirche der einstigen Antoniterpräzeptorei Tempzin. Hier haben wir die Arbeit eines Wismarer Meisters aus dem Jahre 1411 vor uns, offensichtlich des gleichen Mannes, der in seiner Vaterstadt den Passionsaltar von St. Jürgen schuf. Mit seinen zahllosen Einzelbildern, bei denen der Künstler seiner reichen Einbildungskraft freien Lauf läßt und seinen prachtvollen starken Farben, leuchtendem Zinnober, kostbarem Ultramarin und reifem Gold, stellt er ein Werk von außerordentlicher künstlerischer Wirkung dar, einen der ersten Höhepunkte heimischen Kunstschaffens. Und daß er durchaus keine Einzelleistung war, lehrt die Tatsache, daß Rostock im gleichen Jahrhundert für eine Weile im gesamten Ostseeraum von Lübeck bis Stralsund die Führung auf dem Gebiete der Tafelmalerei übernimmt. Der Dreikönigsaltar aus dem einstigen Johanniskloster zu Rostock bildet die Vollendung niederdeutscher Tafelmalerei.
Auch die Altarkunst erlebt im gleichen Jahrhundert, dem Zeitalter der Spätgotik, ihre höchste Entfaltung. Der Altar der Bartscherer und Wundärzte der Rostocker Marienkirche, der große Schrein des Hauptaltars im Güstrower Dom, der Thomasaltar und der Hauptaltar zu St. Jürgen in Wismar sind Perlen niederdeutschen mecklenburgischen Kunstschaffens, welche hinter den gleichzeitigen süddeutschen Altarschöpfungen keineswegs zurückzustehen brauchen.
Auf dem Gebiete der Holzschnitzerei ist die große Triumphkreuzgruppe der Malchiner Stadtkirche von geradezu erschütternder Realistik. Den Höhepunkt der mecklenburgischen Kunst des ausgehenden Mittelalters aber bilden unstreitig die 12 herrlichen holzgeschnitzten Apostelfiguren des Güstrower Domes, die um 1530 von einem Schüler des Lübecker Meisters Claus Berg geschaffen worden sind. Hier hat ein ganz gottbegnadeter Künstler gearbeitet, ein Mann ebenbürtig einem Veit Stoß, und zwar imzweifelhaft ein Mecklenburger, denn in diesen Gestalten mit ihrer ungeheuren, fast barocken Bewegtheit und Ausdruckskraft schauen uns weniger die Apostel an, als echte blut- und lebensvolle Landsknechtsnaturen der Zeit, strotzend von gesunder bäurischer Kraft und niederdeutscher Urwüchsigkeit.
Gleichzeitig ist nun im Laufe des 15. Jahrhunderts in später, doch dafür um so schönerer Blüte das geistige Lehen zur Entfaltung gelangt. Abgesehen von dem frühesten Zeugnis mecklenburgischen Geisteslebens, bezeichnenderweise einem Geschichtswerk, wie es der kaum vergangenen Epoche der Wiederbesiedlung mit ihrem kämpferischen Emst entsprach, der Reimchronik des Ernst von Kirchberg, liegen auch hier die ersten Anfänge auf geistlichem Gebiet. Aus dem 13. Jahrhundert ist uns das Passionsspiel des Heiligen Ludolf überliefert. Aus dem geistigen Umkreis der Dobe-raner Cisterciensermönche stammt das berühmte Redentiner Osterspiel, das um 1464 möglicherweise von jenem Peter Kalff verfaßt wurde, der damals Hofmeister des Klosterhofes zu Redentin bei Wismar war. Die Sprache, in der es abgefaßt ist, ist niederdeutsch, und über der geistlichen Verbrämung enthüllen sich doch seine handelnden Personen als echte mecklenburgische Menschen, ein Zeichen, wie lebendig und stark die niederdeutsche Wesensart trotz aller römischen Überfremdung geblieben war. Ähnliches lehrt auch das Rostocker Liederbuch von 1478, das uns als einziges Werk die Kenntnis des niederdeutschen Volksliedes im 15. Jahrhundert vermittelt. Die weltlichen Lieder überwiegen hier bei weitem die geistlichen.
Die Kirche wachte auch als Patron über der Gründung der Rostocker Universität im Jahre 1419. Diejenigen, von denen in diesem Falle freilich die Anregung dazu ausging, waren die Landesherren, die mecklenburgischen Herzoge Johann III. und Albrecht V., welche die Errichtung einer eigenen Universität im Norden längst als ein dringendes Bedürfnis erkannt hatten. Als dritte im Bunde spielte die Stadt Rostock dabei die Hauptrolle, indem sie das nötige ‚Geld zur Verfügung stellte. Mit ihren zahlreichen Klöstern und ihrer großen Anzahl von Geistlichen und Mönchen wie ihrem großen Reichtum als eine der ersten Hansestädte und ihrem Ansehen als Messestadt im Norden, das ihr der seit 1390 bestehende Pfingstmarkt, eine der ältesten deutschen Handelsmessen, lieh, schien sie wie geschaffen dazu, den Resonanzboden für eine Hochschule abzugeben. Freilich mißtraute zunächst der Papst in Rom dem ketzerischen Geist der Norddeutschen und verweigerte der neuen Universität die theologische Fakultät, die sie erst 1432 zugebilligt erhielt. Trotzdem aber ist das Jahr 1419 von der größten Bedeutung für die kulturelle Entwicklung Mecklenburgs. Für mehr denn ein Vierteljahrtausend wird Rostock als älteste Universität des Nordens nun zum geistigen Mittelpunkt des gesamten Ostseeraumes. Norweger haben selbst mehr als einmal die überragende Rolle Rostocks in der Geschichte des norwegischen Geisteslebens betont. In Schweden galt Rostock für die nächsten zweihundert Jahre trotz der im Jahre 1477 erfolgten Gründung der Universität Upsala als vornehmste Hochschule. Von Dänemark, dessen geistiges Leben entscheidend von Rostocker Gelehrten beeinflußt und geformt wird, ganz zu schweigen. Selbst bis in die baltischen Länder reicht der Einfluß der neuen „Leuchte des Nordens“.
Die Gründung der Universität fiel in eine entscheidende Stunde der Geschichte des abendländischen Geisteslebens, in der sich an den hohen Schulen die Welten des Glaubens und des Wissens, der Religion und der Philosophie zu scheiden beginnen. In Rostock bewegte sich freilich der Lehrbetrieb während des ersten Jahrhunderts der Hochschule noch ganz in den engen herkömmlichen Bahnen der Scholastik, zumal die meisten Lehrer wie der erste Rektor Petrus Stenbeke selbst Kleriker waren. In fast klösterlicher Abgeschlossenheit bildeten Lehrer und Lernende eine enge Gemeinschaft, wie es an allen mittelalterlichen Universitäten Brauch war. Die Forschung beschränkte sich auf die Auslegung und Erläuterung der Schriften der Alten von Aristoteles und Galen bis zu Avicenna und Thomas von Aquino. Aber obwohl während des 15. Jahrhunderts Bürgerkriege und Seuchen die Universität zweimal zu einem Auszug nötigten, erst nach Greifswald, wo 1456 eine Tochteruniversität entstand, dann nach Wismar und Lübeck, gewann diese doch rasch an Ansehen und Zulauf. Mit 16 000 Studierenden in den ersten 100 Jahren nimmt sie eine der ersten Stellen unter den damaligen deutschen Universitäten ein.
Sehr bald fehlt es ihr auch nicht an bedeutenden Gelehrten, die Rostocks Ruhm weit über seine Mauern hinaus verbreiten. Von 1463 bis 1468 studierte der Geschichtsschreiber und Theologe Albert Krantz, ein gebürtiger Hamburger, in Rostock, wo er alsdann Professor und Rektor Magnificus wurde. Seine historischen Schriften sind auch heute noch nicht ohne Quellenwert. 1509 weilt Ulrich v. Hutten, einer der Bannerträger des Humanismus, vorübergehend an der Universität. Nikolaus Marschalk (ca. 1465—1525), ein gebürtiger Thüringer und einer der ersten Polyhistoren des beginnenden Humanismus, verfaßt eine Reimchronik der Mecklenburgischen Fürsten, schreibt eine Naturgeschichte der Wassertiere und gibt die Anatomie des Italieners Mondino da Luzzi für die Rostocker Universität heraus, der als erster wieder die Sektion von Leichen empfohlen hatte. Von 1492 bis 1494 und von 1499 bis 1506 lehrt der Humanist und Dichter Hinrich Boger in Rostock, von 1501 bis 1511 der Philologe Tileman Hever-ling, der sich dadurch einen Namen erwirkt, daß er die Klassiker in niederdeutscher Sprache erläutert, und weiter finden sich unter den Gelehrten dieser Jahre Namen wie Konrad Celtes und Hermann v. d. Bussche, beides Künder der neuen humanistischen Wissenschaft. Unter den Ärzten ragt um 1514 Reimpertus Gilzheim hervor, der um diese Zeit bereits Leichen sezierte; später um 1525 Janus Cor-narius (1500—1558), ein Schüler des Erasmus von Rotterdam, der Wiedererwecker der Hippokratischen Medizin, der unter Ausschaltung der arabischen Mittler seine Schüler wieder zum Studium der klassischen medizinischen Schriften hinleitet.
Infolge des reichen geistigen Lebens, das jetzt am Ostseestrand sich entfaltete, gehörte Rostock auch zu den ersten deutschen Städten, welche sich die neue Erfindung der Buchdruckerkunst zu eigen machten. Bereits im Jahre 1475 gründeten die Brüder vom Gemeinsamen Leben in Rostock eine Druckerei. Bald folgte Nikolaus Marschalk diesem Beispiel mit einer Druckerwerkstatt, in der er seine eigenen Werke herausgab, und neben ihm vor allem Ludwig Dietz, einer der bedeutendsten Buchdrucker des ganzen Nordens, dessen Erzeugnisse, etwa das berühmte „Narrenschiff“ des Sebastian Brant (Dat nye schip van Narragonien) und der Reinke de Vos, rasch die weiteste Verbreitung erlangten. Eine drucktechnische Rarität allerersten Ranges birgt infolge dieser frühen Blüte auch das Rostocker Ratsarchiv in dem ältesten erhaltenen deutschen Theaterzettel aus dem Jahre 1520, auf dem ein geistliches Schauspiel angekündigt wird, das bei gutem Wetter auf dem Mittelmarkt zu Rostock aufgeführt werden soll. Und mit der Weitläufigkeit und dem Unternehmungsgeist der damaligen Rostocker mag es auch Zusammenhängen, wenn ein Rostocker Kaufmann, Eier Lange, im Jahre 1519 die erste Lotterie Deutschlands in Rostock veranstaltet.
Dieses überreich sprudelnde Leben erfuhr freilich bald darauf durch die Stürme der Reformation eine jähe Unterbrechung. Der Übergang von der geistlichen zur weltlichen Hochschule, wie ihn Luthers gewaltige geistige Revolution allerorten bedingte, vollzog sich in Rostock nicht ohne schwere Kämpfe, die fast den Bestand der Universität an sich in Frage stellten. Bürgerschaft und Studenten bekannten sich wohl früh zu der neuen Lehre, die in Rostock in Slüter ihren Verkünder fand. Desto zäher aber hielt die Mehrzahl der Professoren am alten Glauben fest, so daß die Universität infolge dieses Zwiespaltes zunächst verödete. Erst der bedeutendste aller mecklenburgischen Fürsten, Johann Albrechtl. (1552—1576) erlöste sie aus dieser Krise und verhalf ihr zu neuem Leben. Unter ihm gelangte die Reformation in ganz Mecklenburg zur Durchführung. In der Formula concordiae von 1563 einigten sich Landesherr und Stadt über die infolge der Reformation freigewordenen kirchlichen Befugnisse über die Universität, der Landesherr übernahm an Stelle der Kirche das Patronat, während die Stadt Mitpatron wurde und der Hochschule weiterhin die Gebäude zur Verfügung stellte. Fortan teilte sich das Kollegium nun iu zwei Gruppen, fürstliche und Tätliche Professoren, die indes ein gemeinsames Konzil bildeten.
Mit Johann Albrecht I. beginnt für Mecklenburg das Zeitalter der Renaissance. Nicht umsonst trägt der Baustil dieser Jahrzehnte seinen Namen. Und nicht umsonst stand er im Briefwechsel mit italienischen Renaissancefürsten, wie Cosimo von Medici und den Herzögen Ercole und Alfonso von Ferrara. In den baulichen Schöpfungen seiner Epoche kreuzen sich jetzt italienische und niederländische Einflüsse. Der Machtwille des Fürsten offenbart sich in prächtigen Terrakotta- und Putzbauten. Doch da der Backstein nach wie vor das Material bildet und auch die fremden Baumeister an den heimischen Werkstoff wie an einheimische Handwerker gebunden bleiben, so verleugnen die neuen Schloßbauten, die nun nach dem Willen des Fürstengeschlechtes entstehen, doch niemals ihre heimische Eigenart. Das innere Gesetz der niederdeutschen Landschaft und des niederdeutschen Menschen beugt auch den fremden Einfluß, so daß die Eigenständigkeit der mecklenburgischen Kunst durchaus gewahrt bleibt.
Der Fürstenhof zu Wismar, ein wenig an einen italienischen Palazzo gemahnend, den Johann Albrecht I. 1553 durch seinen Baumeister Erhärt Altdorfer, einen Bruder des bekannten Regensburger Malers, errichten ließ, macht den Anfang dieser Bauten. Ihre Krönung bildet das stolze Schloß zu Güstrow, dessen Bau nach französischen Vorbildern 1558 von Franciscus Parr begonnen wurde. Diese Schloßbauten werden zu Vorbildern für den ganzen Norden. In Dargun erbaut sich Herzog Ulrich von Mecklenburg, ein Bruder Johann Albrechts I., ein Renaissanceschloß, 1571 errichtet Herzog Christoph das Schloß zu Gadebusch. Auch das Schweriner Schloß wird damals im Renaissancestil ausgebaut, ebenso das Schloß zu Bützow. Hie und da folgt auch der Adel, soweit er geldkräftig genug ist, dem Beispiel des Landesherm. 1562 erbauen sich die Maltzahns in Ulrichshusen eine Burg, deren noch vorhandener Teil — das älteste erhaltene mecklenburgische Herrenhaus — an Renaissancevorbilder gemahnt. Um 1570 errichten die Holsteins in Ankershagen ein Renaissanceschloß. Auch die untergegangene Burg der Flotows in Stuer ist offensichtlich ein Renaissancebau gewesen. 1597 lassen die Hahns in Bristow die prachtvolle reichgeschmückte Renaissancekirche erstehen. Ein Schüler des Utrechter Meisters Philipp Brandin, Claus Mi-dow, schafft für die Basedower Hahns die Epitaphien und den Altaraufsatz in der Schloßkirche. Und noch spät erbaut Levin Ludwig Hahn (1668—1728) das berühmte, unlängst leider völlig niedergebrannte Renaissanceschloß in Remplin, einen der prunkvollsten mecklenburgischen Adelssitze.
Johann Albrechts I. Hof wird jetzt zum Spiegelbild des neuen geistigen Lebens. Er selbst muß unter die bedeutendsten deutschen Fürsten der Zeit gerechnet werden. Sein engster Berater, Andreas Mylius (1528—1594), ein gebürtiger Sachse, verfaßt zahlreiche Gedichte, deren Sprache wohl die der Antike ist, deren Inhalt und Empfinden jedoch durchaus modern anmuten und von einer starken Liebe zu seiner mecklenburgischen Wahlheimat und deren ländlichem Leben zeugen. Verse wie:
„Hier wo der Warnow Wellen zart beginnen,
Der Warnow, die zu Rostocks stolzen Zinnen
Hin lenkt den Lauf . . .“
atmen die ganze stille Poesie des Warnowtales und lehren, daß ihr Schöpfer den Ehrennamen eines „Dichters der Wamow“ nicht zu Unrecht trug. Neben ihm weilten fast ständig der berühmte Rostocker Humanist Johannes Case-lius, der Mathematiker und Astronom Tileman Stella, der Schöpfer einer Karte von Mecklenburg und vermutlich schon damals der Leibarzt Angelus Sala, von Geburt ein Italiener, am Hof. Letzterer erwarb sich als Anhänger der Lehren des Paracelsus von dem Werte der Chemie für die Medizin und als Erfinder zahlreicher neuer Arzneimittel einen nicht unbedeutenden Ruf. Dazü gesellte sich eine Schar von Künstlern, voran der Hofmaler Erhärt Gaulrap, ein Schüler des jüngeren Lukas Cranaeh, der flandrische Maler Peter Bökel aus Antwerpen, der holländische Baumeister und Bildhauer Philipp Brandin und die ursprünglich aus Italien stammende Künstlerfamilie der Parr.
Dank Johann Albrecht I. erlebte jetzt auch die Rostocker Universität ihre schönste Blütezeit. Studenten aus allen Teilen des Reiches wie aus Flandern und Brabant, dem skandinavischen Norden und den baltischen Ländern strömten nach Rostock. Jahrzehntelang besaßen die Norweger ihre eigene Burse in der Nähe des Hopfenmarktes. Die Zahl der niederländischen Studenten hatte schon im vergangenen Jahrhundert sich auf vierhundert belaufen. Zahlreiche Fürsten, die zumeist später ehrenhalber jeweils das Rektorat übernahmen, erwarben sich hier ihre Bildung, so ein Graf von Oldenburg, zwei mecklenburgische Herzoge, dänische Prinzen und brandenbürgische Markgrafen, zwei Herzoge von Braunschweig-Lüneburg, einer von Schleswig-Holstein, einer von Pommern und der Herzog Wilhelm von Kurland und Semgallen. Auch hohe schwedische Adelige wie der Graf Rosen führen zuweilen das Rektorat. Schwedens großer Reichskanzler Axel Oxenstiema legte hier den Grund zu seiner Bildung. Für fast ein Jahrhundert wurden nun das beim Bau des Blücherdenkmals abgerissene Auditorium maximum mit seinem schönen Backsteingiebel auf dem Hopfenmarkt, das „Weiße Kolleg“ an der Stelle des heutigen Universitätsgebäudes und die Bursen, in denen Lehrer und Lernende in enger Gemeinschaft nach strengen, fast klösterlichen Regeln lebten, die Regentie zum Einhorn, zum Roten Löwen, zum Adler, St. Olavii oder wie sie sonst heißen mochten, um den Hopfenmarkt zum Mittelpunkt des geistigen Lebens in ganz Nordeuropa.
Fast symbolisch eröffnet ein Flame, der Antwerpener Kaufmannssohn Jacob Bording (1511—1560) die Reihe der großen Rostocker Gelehrten, so aufs neue die alten Beziehungen Mecklenburgs zu Flandern und Brabant, den Ursprungsländern so mancher seiner Besiedler, bekräftigend, gleichsam ein Beweis für die Einheit des niederdeutschen Raumes auch in geistiger Hinsicht. Nachdem Bording in Italien und Frankreich die Arzneikunde studiert hatte, wirkte er von 1550 ab für drei Jahre als Anatom in Rostock und verhalf dem anatomischen Studium an der Universität zu neuem Leben. Fast noch größeren Ruhm aber erwarb er sich durch seine Mitwirkung bei der Berufung des berühmten Humanisten David Chyträus (1530—1600) nach Rostock, des Reorganisators der Universitätsstudien. Geboren als Sohn eines schwäbischen Predigers namens Kochhafe, hatte dieser unter anderem auch bei Melanchthon in Wittenberg studiert. Von ungeheurer Arbeitskraft und nie erlahmendem Wissensdrang war er gleich bedeutend als Theologe wie als Geschichtsschreiber und Philologe. 1568 berief ihn der Kaiser zur Ordnung des Religionswesens nach Niederösterreich, ein Zeichen, wie weit sein Ruf schon gedrungen war und zugleich ein Beweis, daß er den Namen eines Rostocker Melanchthon nicht zu Unrecht trug.
Ihm zur Seite reihen sich würdig der Humanist und Philologe Johannes Caselius (1533—1613) aus einer adeligen geldernschen Familie, dessen Ruhm weit über die Grenzen des Reiches bis nach Italien reichte, und der Jurist Johann Oldendorp (1480—1567), ein Neffe des Albert Krantz und Verwandter des Nikolaus Marschalk, der erste deutsche Rechtsphilosoph und einer der größten deutschen Rechtsgelehrten aller Zeiten überhaupt. Und weiter folgen in bunter Zahl Theologen wie Johannes Draconites, Juristen wie Ernst Cothmann und Johann Georg Godelmann (1559—1611), der als einer der ersten mit für seine Zeit beispielhaftem Mut sich gegen den Hexenwahn wandte, — sowie hundert andere. Jeden von ihnen zu würdigen, würde den Rahmen dieser Arbeit weit übersteigen. Nur auf einige berühmte Ärzte sei noch hingewiesen. Da ist als erster vor allem Heinrich Brueäus (1530 —1593) zu nennen, gleich Bording von Geburt ein Flame, der sich um die Anatomie hoch verdient gemacht hat, in Rostock nach dem Vorbilde des genialen Anatomen Andreas Vesalius die ersten regelrechten Sektionen durchgeführt und eine vortreffliche Arbeit über den Scharbock (Skorbut) verfaßt hat, der unter der seefahrenden Bevölkerung der Ostseeküsten damals eine besondere Rolle spielte. Zu seinen Schülern gehörte kein Geringerer als der berühmte Astronom Tycho de Brahe, der von 1566 bis 1568 in Rostock studierte. Als zweiter folgt Levinus Battus (gest. 1591), gleichfalls ein Flame aus Gent, der in Rostock nicht immer ohne schädliche Übertreibung die Lehren des Paracelsus von der Anwendung der Chemie in der Medizin vertrat. Den Beschluß macht ein heute völlig Vergessener: Franz Joel Primus (1508—1579), ein gebürtiger Deutsch-Ungar, der Sohn eines Schmieds, der sich bis zum Hofapotheker in Güstrow und schließlich bis zum Professor der Medizin in Greifswald hinaufarbeitete. Wenn er selbst auch nicht unmittelbar mit der Rostocker Universität verbunden war, so ging doch sein Hauptwerk, das sechsbändige, in Rostock erschienene Handbuch der gesamten Medizin, aus deren geistigem Umkreis hervor und verbreitete zudem als allgemein anerkanntes Lehrbuch für mehr als hundert Jahre Rostocks Ruhm an allen Universitäten. Vor allem in botanischer Hinsicht brachte es wertvolle Neuerkenntnisse, sein Verfasser erweist sich als ein genauer Kenner aller mecklenburgischen Heilpflanzen und fordert für alle Medizinstudierenden botanischen Anschauungsunterricht mit regelmäßigen Exkursionen. Für dieses ganz modern anmutende naturwissenschaftliche Denken erteilte ihm die Medizinische Fakultät der Universität Rostock ein besonderes Lob, und dieses wundert uns um so weniger, wenn wir hören, daß Rostock als erste von allen deutschen Universitäten bereits im Jahre 1568 über einen Botanischen Garten verfügte!
In Verbindung mit dem Aufschwung des geistigen Lebens an der Universität regen sich auch sonst überall im Lande neue Kräfte. In diesem Jahrhundert entstehen als Horte der Jugenderziehung die altehrwürdigen Lateinschulen, voran die Schweriner Fürstenschule, die Wismarer Stadtschule von 1541, deren reizender gotischer Bau noch heute von dem Reichtum der damaligen Hansestadt zeugt, die Domschule zu Güstrow (1552) und die Große Stadtschule in Rostock (1580), deren erster Rektor Nathan Chyträus wird, ein Bruder des großen Humanisten.
Auch die Schauspielkunst wird jetzt in zunehmendem Maße gepflegt. Hatte schon der Rostocker Theaterzettel von 1520 auf ungewöhnlich frühe schauspielerische Darbietungen hingewiesen, so bot weiterhin seit alters der berühmte Pfingstmarkt Gelegenheit genug zur Aufführung von Burlesken und Fastnachtsschwänken. Um die Mitte des Jahrhunderts nimmt der großen Zahl von Studenten entsprechend die studentische Schulkomödie einen großen Aufschwung. 1558 und 1574 sind uns studentische Theateraufführungen von Tragödien bezeugt. 1578 läßt der Güst-rower Schulmeister Omichius in Rostock eine Komödie „Dionys von Syracus“ im Druck erscheinen. Im Jahre 1600 führen Studenten auf dem Hopfenmarkt die Komödie „Cornelius relegatus“ des Hamburgers Albert Wichgrewe auf, der in Rostock studiert hatte und in seinem nach plauti-nischer Art verfaßten Lustspiel die Unsitten des damaligen studentischen Lebens geißelte. 1605 wird zu wiederholten Malen unter großem Beifall eine Komödie des Magisters Schlee „Susanna“ in der heute nicht mein: vorhandenen Johanniskirche am Steintor aufgeführt, im folgenden Jahre gastiert auch eine Truppe englischer Berufsschauspieler in Rostock, und zur gleichen Zeit setzt der Bergenfahrer Joachim Schlue mit seiner Barockkomödie „Isaak“ der plattdeutschen Sprache ein schönes Denkmal. Auch die Musik findet jetzt in Rostock eine Pflegestätte. 1614 erscheint das Sertum musicale primum des Rostocker Kantors Daniel Friderici, dessen anmutige geistliche und weltliche Kompositionen in ganz Deutschland, der Schweiz und den baltischen Ländern Verbreitung erlangten.
Noch immer aber überstrahlt der Ruhm der Rostocker Universität in diesen Jahren alles andere. Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts galt sie für eine der besten Hochschulen des Reiches, zumal Rostock zunächst von den Wirren des über Deutschland hereinbrechenden Dreißigjährigen Krieges wenig zu spüren bekam. Kein Geringerer als Sven Hedin hat das Rostock der Jahre um 1600 einmal eine der bedeutendsten Bildungsstätten der damaligen Welt genannt. Gerade um diese Wende erlebt die Universität in Magnus Pegel einen ihrer genialsten Geister, den man nicht zu Unrecht als den Rostocker Leonardo da Vinci bezeichnen kann und der bisher in seiner einzigartigen Originalität und Geistesfülle viel zu wenig gewürdigt worden ist, wie er denn auch von seinen Zeitgenossen gerade wegen seiner epochemachenden Erfindungen vielfach verkannt und verlacht worden ist, da diese seiner Zeit allzusehr vorauseilten. Geboren 1547 in Rostock als Sohn des Professors der Theologie Konrad Pegel, der einer alten Wismarer Familie entstammte, ward er als ein wahres Wunderkind bereits mit 9 Jahren an der Universität immatrikuliert und machte als Student später die Bekanntschaft Tycho de Brahe’s. Von 1591 bis 1605 lehrte er dann als Professor der Medizin und Mathematik in Rostock, bis ihm der Neid seiner Kollegen und geldliche Schwierigkeiten den Aufenthalt in der Stadt verleideten und er als Mathematikus an den Hof des Kaisers Rudolf II. nach Prag ging. Allein das Glück war ihm auch dort nicht hold. Sein Ende ist in Dunkel gehüllt, für das Jahr 1615 meldet eine Nachricht, er habe fast hungernd wieder in Rostock gelebt, anderen Berichten zufolge ist er zwischen 1615 und 1618 am Hofe des Herzogs Philipp II. von Pommern in Stettin gestorben.
In seinen Schriften findet sich eine Fülle der bemerkenswertesten Erkenntnisse. Schon in seiner Promotionsarbeit über die Pest trifft er die Feststellung, diese sei wie die Schwindsucht kontagiös, wobei er für diese als erster auf die Gefahr der Tröpfcheninfektion durch Husten hinweist. In einer anderen Arbeit, der 1585 in Rostock erschienenen Mundi Diatyposis, einer Entwicklungsgeschichte des Weltalls, nimmt er Darwin voraus, indem er hier eine regelrechte Entwicklungsgeschichte der Tierwelt begründet. Am überraschendsten wirkt jedoch sein 1604 erschienener Thesaurus rerum selectarum, eine Encyclopädie des gesamten Wissens, bezeichnenderweise streng naturwissenschaftlich gehalten, denn die Theologie hat in ihm keinen Platz. Nicht nur, daß er hier eine Fülle technischer Erfindungen angibt, darunter ein Luftschiff, Unterwasserfahrzeuge, Tauchapparate, Schnellfeuergeschütze, Vorrichtungen zum Heben gesunkener Schiffe, Vervielfältigungsapparate, Hebelkraftmaschinen zur automatischen Fortbewegung von Fahrzeugen, Schiffbrücken, Automaten und tragbare Badeeinrichtungen, sondern er entwickelt hier auch unabhängig von dem Italiener Cardano als erster deutscher Arzt eine Methode der Blutübertragung von Mensch zu Mensch, empfiehlt ein Verfahren zur Kälteanaesthesie, gibt eine Methode zur endovenären Einspritzung von Arzneimitteln an und vertritt längst vor der englischen Arztfamilie Chamberlen wieder den Gedanken der Zangenextraktion des lebenden Kindes. Und wie sehr alle diese epochemachenden Gedanken, die teilweise ihrer Zeit weit vorauseilten, dem geistigen Umkreis der Rostocker Universität verhaftet waren, lehrt die Tatsache, daß sie verkümmerten und fruchtlos blieben, sobald Magnus Pegel Rostock verließ und sich nach Prag in die dumpfe, von Aberglauben und Bigotterie durchtränkte Atmosphäre des habsburgischen Hofes begab.
Ihm ebenbürtig, ja vielleicht noch bedeutsamer für die Geschichte des deutschen Geisteslebens ist Joachim Jun-gius (1587—1657), der zweite große Rostocker Gelehrte der Zeit. In Lübeck geboren, studierte er zwei Jahre hindurch in Rostock und lehrte hier von 1619 mit einer kurzen Unterbrechung bis 1629 als Professor der Mathematik und Medizin. Verkörpert Magnus Pegel für Rostock den Typus eines Leonardo da Vinci, so hat man Joachim Jungius wohl als den deutschen Bacon von Verulam bezeichnet. Alexander v. Humboldt zählte zu seinen Bewunderern, und kein Geringerer als Goethe beschrieb sein Leben und stellte seine überragende Bedeutung für die deutsche Geistesgeschichte fest. Als Botaniker unternimmt er die ersten Schritte zur Aufstellung einer wissenschaftlichen Morphologie der Pflanzenwelt und legt den Grund zu einer allgemeinen Nomenklatur aller Pflanzen, auf der noch Linne fußt. Sein Hauptverdienst liegt auf dem Gebiete der Logik. In seiner Logica Hamburgensis gibt er eine der ersten neuzeitlichen methodischen Wissenschaftslehren. Längst vor Descartes erkennt er die Bedeutung der Mathematik für die Philosophie. Neben dem Astronomen Kepler ist er ohne Zweifel vor Leibniz durch sein Eintreten für die exakte Naturbeobachtung und die induktive, d. h. von Erfahrungstatsachen ausgehende Forschungsmethode der größte und genialste Kopf auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften. 1622 stiftet er in Rostock nach italienischen Vorbildern eine naturwissenschaftlich-philosophische Gesellschaft, die Societas ereune-tica sive zetetica, die der Erforschung der Wahrheit aus der Vernunft dienen soll, und begründet damit die erste Akademie der Wissenschaften in Deutschland und ganz Nordeuropa, die in Europa nur einen einzigen Vorläufer in der 1603 in Rom ins Leben gerufenen Academia dei Lynci hat. Freilich ist ihr infolge der unglücklichen Zeitläufte des Dreißigjährigen Krieges kein allzulanges Leben beschieden, aber das Vorbild für kommende Geschlechter war doch gegeben, und dieses Beispiel schenkte Rostock der deutschen Nation und der deutschen Wissenschaft.
Aber auch sonst ist die Universität damals an bedeutenden Köpfen nicht arm. Wilhelm v. Calcheim (1584—1640) erwirbt sich als Vorkämpfer der deutschen Muttersprache einen Namen. Jakob Fabricius (1576—1652), Arzt, Dichter und Astronom, der Tycho de Brahe bei seinen Untersuchungen hilft, behandelt Wallenstein erfolgreich in Güstrow, gewinnt seine Unterstützung für die Universität und steigt schließlich, obwohl einfacher Bäckersleute Kind, bis zum Leibarzt König Christians IV. von Dänemark auf. Dank der Lehrtätigkeit der Professoren Johannes Fabricius, Lindemann und Bohl ist Rostock damals in Deutschland führend im Studium der orientalischen Sprachen, Arabisch, Syrisch und Chaldäisch. Der Ratsbuchdrucker Richel vermag damals sogar in arabischen Typen zu setzen. Wie schon die Gelehrtenfamilie Pegel lehrt, heftet sich die gelehrte Begabung dabei zusehends an bestimmte, fast zunftmäßig eng begrenzte Sippen. Neben den Quistorp, welche mit dem großen Theologen beginnen, der durch seine Trostrede auf den in Rostock verstorbenen Völkerrechtslehrer Hugo Gro-tius berühmt geworden ist und den Bacmeister, welche durch ihre Stammütter wieder an den mit einer vornehmen Italienerin vermählten Anatomen Jacob Bording anknüpfen, sind es vor allem zwei Familien, welche der Universität in diesem Zeitalter eine Reihe ihrer besten Vertreter schenken, die Lauremberg und die Paulli.
Wilhelm Lauremberg d. Ä., der Stammvater, macht sich als Professor der Medizin einen Namen. Von seinen drei Söhnen studiert Peter Lauremberg Astronomie, Medizin und Poesie, veröffentlicht Arbeiten über anatomische Fragen, wird Professor der Poesie in Rostock, nachdem er bereits an der französischen Universität Montauban den Lehrstuhl für Philosophie innegehabt hatte, und verfaßt ein Tagebuch, das durch seine Angaben über seine Gärten und botanischen Forschungen bemerkenswert ist. Sein Bruder Wilhelm Lauremberg d. J. erwirbt sich gleichfalls als Botaniker Ansehen. 1626 gibt er in Rostock die erste jemals in der Welt erschienene Abhandlung über das Sammeln von Pflanzen und die Anlegung eines Herbariums heraus, die sogenannte Botanotheca, ein Buch, dessen Einfluß weit über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. Der höchste Ruhm aber gebührt dem dritten der Brüder, Johann Lauremberg (1590—1658). Nachdem er in Rostock Poesie, Medizin und Mathematik studiert hat, bekleidet er von 1618 bis 1623 die Professur für Dichtkunst in Rostock. Neben einer lateinischen Tragödie „Pompeius Magnus“ gibt er 1622 ein Reallexikon heraus. Schließlich beruft ihn der König Friedrich III. von Dänemark, dessen Lehrer er gewesen war, an die neubegründete Hochschule von Soroe auf Seeland, wo er als Professor der Mathematik sein Leben beschließt. Seine hervorx-agendste Leistung, die ihm in der Geschichte der deutschen Literatur den Platz des ersten Satirikers sichert, aber stellen seine niederdeutschen, 1651 erschienenen „Veer Schertzgedichte“ dar, in denen er mit köstlichem Humor, zuweilen auch mit derben Keulcn-schlägen den französischen Modetorheiten der Zeit zu Leibe geht. Das vierte Gedicht ist eine begeisterte Lobrede auf die niederdeutsche Sprache, die er als Erbe der Väter preist, und stellt sich ebenbürtig den Schöpfungen eines Fritz Reuter und John Brinckman an die Seite.
Die zweite Familie, die Paulli, stellen der Universität einen Theologen, Simon Paulli, einen Mediziner, Heinrich Paulli und in dessen Sohn Simon Paulli (1603—1680), einem Schüler des Joachim Jungius, ihren besten Anatomen während des 17. Jahrhunderts. Außer in Rostock studierte Simon Paulli d. J. auch in Paris, Leyden, Kopenhagen und Wittenberg und erwarb sich so eine äußerst vielseitige und tiefgründige Bildung. Rostock verdankte ihm ein regelrechtes anatomisches Theater. Später ging er an die Universität Kopenhagen und ward 1648 Leibarzt des Königs von Dänemark.
Fällt Simon Paulli d. J. Wirken schon in die Ausgangsperiode der Blütezeit, in der sich vor allem unter der Studentenschaft die entsittlichenden Wirkungen der langen Kriegsjahre bemerkbar machten, so gilt dies noch mehr von den drei letzten bedeutenden Geistern dieser Ära, dem Dichter AndreasTscherning (1611—1659), dem Polyhistor und Literaturhistoriker Georg Morhof (1639—1691) und dem Theologen Heinrich Müller (1631 —1675). Tscheming, gleich Martin Opitz gebürtiger Schlesier aus Bunzlau, studiert in Rostock Poesie bei Peter Lauremberg, „des Vaterlandes Zier, der Weisheit Aufenthalt“, wie er ihn ein wenig plump in Versen feiert, und bekleidet hier fünfzehn Jahre hindurch die Professur für Dichtkunst. Zahlreiche Gedichte, Übersetzungen aus dem Arabischen und Dramen entstammen seiner Feder und lassen ihn neben Opitz und Simon Dach als den bedeutendsten Renaissance-dichter der Zeit erscheinen. Sein Schüler ist der in Wismar geborene Georg Morhof, der mit 21 Jahren Professor der Poesie in Rostock wird und 1665 an die neubegründete Universität Kiel geht. Sein Hauptwerk „Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie“ stellt den ersten wohlgelungenen Versuch einer Geschichte der deutschen wie der europäischen Dichtkunst dar und sein Verfasser erwirbt sich noch größeren Ruhm dadurch, daß er als erster den Namen Shakespeares in Deutschland bekannt macht. Heinrich Müller endlich, der Sohn eines angesehenen Rostocker Kaufherrn, verfaßt als Professor der Theologie in Rostock den „Herzensspiegel“, die „Geistlichen Erquickstunden“ und andere Erbauungsschriften, die bis ins 19. Jahrhundert hinein zahllose Auflagen erleben und in ihrem geistigen Gehalt hinüberleiten zu Spener und Arndt.
Der Reichtum dieses geistigen Lebens spiegelt sich indes auch noch in anderen Tatsachen. 1614 wird in Rostock eine regelrechte Universitätsbibliothek gegründet. Gleichzeitig ist Rostock damals neben Leipzig, Frankfurt, Köln und Wittenberg die größte deutsche Verlagsstadt. Nach den Meßkatalogen bringt der Rostocker Verleger Johann Hallervord zwischen 1613 und 1645 nicht weniger als 943 Neuerscheinungen heraus. Auch die Spuren einer Zeitung finden sich schon früh, um 1620, in Rostock, nachdem 1609 in Augsburg die erste deutsche Zeitung erschienen war. 1628 erhält der Buchdrucker Moritz Sachs ein Ratsprivileg, „Avisen“ zu drucken, 1640 gibt der aus Dänemark zugewanderte Universitätsbuckdrucker Kil eine „Ordinari wöchentliche Postzeitung“ heraus. Und dieses Bild einer hohen Kulturblüte und einer starken geistigen Kraft erhält einen charakteristischen Abschluß durch die Tatsache, daß in Rostock in diesen Jahren unmittelbar vor der großen Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges auch in politischer Hinsicht noch ein starkes Wollen lebt. Bei der letzten großen diplomatischen Unternehmung der Hanse, dem Bündnis mit den aufstrebenden Niederlanden, ist Rostock die treibende Kraft und der Rostocker Ratssyndikus Domann führt als Syndikus der Hanse die Verhandlungen im Haag. Freilich verdunkeln bereits die schweren Schatten des heraufziehenden Krieges dieses Bild, und dieser Krieg, der nun dreißig Jahre lang die deutschen Gaue verwüstete, verhinderte auch das Inkrafttreten dieses Bündnisses. Aber der Glanz des kulturellen Lebens am Ostseestrand bot doch einen ebenso ungewöhnlichen wie reizvollen Anblick in diesen für das Deutsche Reich so trüben Jahren, und sein Einfluß wirkte vor allem in Skandinavien noch lange fort.
Mecklenburg – Feudalismus und Leibeigenschaft
Während an der Rostocker Universität noch immer die Wissenschaften blühten, so daß die Stadt wie eine friedliche Insel inmitten eines sturmgepeitschten Meeres erschien, wütete unterdes seit 1618 im Reich und in Böhmen bereits der Dreißigjährige Krieg. Doch erst fast ein Jahrzehnt später, 1627, griff das Kriegsfeuer auch auf Mecklenburg über. Tilly’s und Wallensteins bunte Scharen von wallonischen und spanischen Pikenieren und Küraßreitern, Kroaten, Dalmatinern und Wallachen durchzogen die mecklenburgischen Ämter; die Herzoge in Schwerin und Güstrow flohen außer Landes. Aber noch immer war der Druck nicht allzu hart. Ja mit der Erhebung Wallensteins (1583—1634) zum Herzog von Mecklenburg schien für kurze Zeit sogar der Grund zu einer neuen Blüte gelegt zu werden. Zum ersten Male bekam Mecklenburg, in dem bislang die Eigensucht der Stände wie die eigene Geldnot der Macht des Landesherrn enge Grenzen gezogen hatte, die eiserne Faust eines absoluten Fürsten zu spüren, der den Übermut und den Stolz der Ritterschaft zu bändigen wußte, eine geregelte Armenversorgung und ein einheitliches Maß-und Gewichtsystem einführte, eine Postordnung schuf und das Gerichtswesen neu ordnete. Der alte Plan, der schon Johann Albrecht I. und seinen Kartographen Tileman Stella beschäftigt hatte, durch einen großen Kanal den Schweriner See mit dem Stromsystem der Elbe und der Ostsee zu verbinden und damit Mecklenburg eine beherrschende Stellung als Mittlerin im europäischen Handel zwischen Nord- und Mitteleuropa zu sichern, taucht jetzt wieder auf und beschäftigt den neuen Landesherm, der die große wirtschaftspolitische Bedeutung dieses Raumes erkennt, eingehend. Einer der gebildetsten und aufgeklärtesten Männer des damaligen Mecklenburg, Gebhard v. Moltke (1567—1647) auf Toitenwinkel bei Rostock, in dessen Kopf längst ähnliche Pläne zu einer durchgreifenden Reform an Haupt und Gliedern geschlummert hatten, stellte sich Wallenstein als Kammerpräsident zur Verfügung. Doch die Zeit war für derartige Pläne noch längst nicht reif, die Herrschaft des Friedländers blieb historisch gesehen nur eine Episode und Gebhard v. Moltke bezahlte die Kühnheit seines Denkens mit dem Verlust seiner Güter.
Mit Wallensteins Sturz und dem Eingreifen der Schweden beginnt Mecklenburgs eigentliche Leidenszeit, die in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht von Folgen begleitet sein wird, wie sie so einschneidend und tragisch kaum eine andere deutsche Landschaft durch den Krieg erfahren hat. Infolge der zunehmenden sittlichen Verwilderung und Verrohung der Studenten versank das Universitätsleben allmählich für Jahrzehnte in völliger Bedeutungslosigkeit. Der Schwedenzoll, den die vorgeblichen Erlöser aus dem Norden in Warnemünde erhoben, ruinierte den blühenden Rostocker Handel. Während die Rostocker Flotte am Ende des ersten Jahrzehntes des Krieges noch 123 Schiffe zählte, belief sie sich hundert Jahre später nur mehr auf 31! Furchtbare Seuchen zehnteten die Bevölkerung in den Städten, wie denn schon 1631 der wallensteinisehe Obrist Wengiersky aus Wismar seinem Herrn berichtete, daß dort viele Häuser infolge der Pest leer ständen. Die furchtbarsten Folgen aber zeitigte die Vernichtung des Bauernstandes auf dem flachen Lande, der dem Wüten der entmenschten kaiserlichen und schwedischen Soldateska nahezu völlig schutzlos preisgegeben war. Schon vor dem Kriege bedroht durch die Landgier der Ritterschaft wie eine gewisse Landflucht, die sich in der Abwanderung der nicht erbberechtigten Bauernsöhne in die Städte geäußert hatte, ward er jetzt in seiner wirtschaftlichen Kraft bis ins Mark getroffen. Damit erfolgte eine entscheidende Umgestaltung aller menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Fast überall im Lande wurden die vor dem Kriege so blühenden und behäbigen Bauerndörfer entvölkert, viele blieben für immer wüst, auf den brach liegenden Äckern schoß geil das Unkraut empor und um die niedergebrannte Hof wehr streifte in den Nächten der Wolf, während sich die Reste der Bevölkerung gleich wilden Tieren schutzsuchend in den Wäldern verborgen hielten. Fälle von Menschenfresserei sind unter den Hungernden mehrfach wohl bezeugt. Die schlimmsten Jahre wurden 1637 und 1638, als die kaiserlichen Truppen des Grafen Gallas und die Schweden Baners wiederholt das Land überfluteten. „Dörfer und Felder sind mit krepiertem Vieh besät, die Häuser voll toter Menschen, der Jammer ist nicht zu beschreiben“, berichtete 1638 der Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg an den schwedischen Reichskanzler Oxenstierna. Auch der Adel wurde jetzt in seinem Besitzstand hart getroffen. Altberühmte Herrensitze wie Ulrichshusen und die Flotow’sche Burg Stuer gingen in Flammen auf, Familien wie die Pentz und die Lützow büßten einen Großteil ihres Vermögens ein, andere wie die Adrum verschwanden überhaupt völlig in dieser Zeit. Neue Geschlechter traten an ihre Stelle, schwedische Offiziere oder Glücksritter, welche die Wogen des Krieges emporgespült hatten, gewiß nicht immer zum Vorteil des ganzen Standes. Als 1648 die Glocken zu Münster und Osnabrück den Frieden einläuteten, glich Mecklenburg einer Wüste. Im Amt Schwerin lagen 54 vom Hundert aller Bauernstellen wüst, im Amt Hagenow gab es von 1054 Bauemstellen, die man dort im Jahre 1603 gezählt hatte, noch 706. Im Amt Lübz waren von den 333 Bauern schon 1640 nur noch 27 übrig geblieben, im Amt Dargun von 227 noch 31. Im Stargarder Land, das besonders schwer gelitten hatte, war fast die ganze Bevölkerung ausgerottet worden. Insgesamt waren von einer Bevölkerung von rund 300000 Menschen, die vor dem Kriege im Lande gelebt hatten, kaum 40—50 000 übrig geblieben.
Landesherr wie Ritterschaft sahen sich somit bei Kriegsende vor das bei dem Menschenmangel doppelt schwierige Problem der Wiederbesiedlung des Landes gestellt. Sie ließen es an Versuchen mit den vielfach von ihren Höfen geflüchteten Bauern, einstigen Soldaten und selbst Fremden, vor allem Dänen, nicht fehlen. Aber vielfach waren die Siedler untauglich und verliefen sich wieder, an anderen Orten war die Verödung zu groß, so daß immer noch weite Strecken einstmals fruchtbaren Ackerbodens wüst blieben. Endlich fand sich auch nicht weder unter den Ständen noch bei der Landesherrschaft der Mann, der ernsthaft eine umfassende Lösung dieses Problems versucht hätte, sondern man verfiel sehr bald auf einen näherliegenden und bequemeren Weg. Für die Landesherrschaft, deren Kassen ohnehin stets leer gewesen waren wie für den verarmten Grundherrn brachte die Verödung des Landes einen schwerwiegenden Ausfall an Abgaben und Diensten mit sich. Demgegenüber schien es angesichts der unvollkommenen und mühseligen Versuche zur Ansetzung neuer Bauern offensichtlich ein weit besseres Mittel zur Abhilfe zu geben: Innerhalb des menschenleer gewordenen Landes große zusammenhängende Betriebsflächen zu schaffen, die von wenigen Mittelpunkten aus rationell bewirtschaftet werden konnten. Deutlich prägt sich die rasche Ausbreitung dieses Bestrebens in der steigenden Zahl der Amtshöfe im Domanium, dem Besitz des Landesherrn aus. Während es um 1600 nur etwa 50 von diesen gegeben hatte, betrug ihre Zahl am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Entwicklung abgeschlossen war, rund 400! Und das Domanium, für das wir allein genaue Zahlen besitzen, blieb noch weit hinter dem Gebiet der Ritterschaft und der Landstände zurück. Diese Stunde ist die Geburtsstunde der mecklenburgischen Gutswirtschaft. Aus der mittelalterlichen Grundherrschaft mit ihrem verstreuten Hufenbesitz entwickelt sich nun ein großräumiges geschlossenes kapitalistisches Unternehmen. Das charakteristischste Merkmal für den grundlegenden Wandel, der sich vollzogen hat, ist das Verschwinden der bäuerlichen Hufe der Kolonisationszeit als des Ausdrucks einer bäuerlich bestimmten Wirtschaftsordnung. Sie verliert jetzt in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre einstige Bedeutung als Flächen-, Wirtschafts- und Steuereinheit vollkommen. Fortan werden nur mehr Arbeitskräfte und Nutztiere besteuert. Dieses Merkmal aber wird zugleich bereits zum Ausdruck der schweren sozialen Schuld, deren Schatten über der Geburtsstunde der neuen Wirtschaftsordnung liegen.
Bereits im Jahre 1607 hatte der Landtag zu Güstrow den Bauern die Erbzinsgerechtigkeit aberkannt und damit einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Wege der allmählichen Entrechtung des einst freien Bauernstandes getan. Auf dem Landtag zu Slernberg im Jahre 1621 hatten die Stände alsdann es verstanden, gegen die Übernahme einer neuer liehen landesherrlichen Schuld das Eigentumsrecht an sämtlichen bäuerlichen Hufen in ihrem Gebiet zu erwerben und damit die Rechtsgrundlage für jegliche Bauernlegung zu erkaufen. Nun brachte die Kriegsnot den unvermeidlichen Abschluß dieser Entwicklung. Als infolge der Entvölkerung des Landes die Beschaffung von Arbeitskräften immer schwieriger ward, da die übrig gebliebenen Bauern sich in steigendem Maße den angesichts ihrer geringen Zahl bis ins Unerträgliche angewachsenen Frondiensten durch die Flucht zu entziehen suchten, ging der Herzog Gustav Adolf von Mecklenburg-Güstrow kurzerhand dazu über, in der Gesindeordnung von 1654 sämtliche Bauern für leibeigen zu erklären. Damit war zum ersten Male die Erbuntertänigkeit des mecklenburgischen Bauern gleichsam öffentlich proklamiert worden.
Der Bauer, der Träger der Landarbeit, wird jetzt zum Ausbeutungsobjekt herabgewürdigt. Künftig ist er der Scholle des Grundherrn verfallen (glebae adscribitur). Mit der Scholle wechselt er den Herrn. Dieser erhält das Verfügungsrecht über alle Lebensäußerungen des Untertanen, selbst über dessen Gattenwahl und Eheschließung. Die alte bäuerliche Dorfgemeinschaft verschwand. Aus dem freien Bauern, dem Rückgrat des mecklenburgischen Volkstums, wurde ein unfreier Tagelöhner und Landarbeiter. Für mehr denn zweihundert Jahre galt nun das böse Wort, das der Dichter Hoffmann v. Fallersleben geprägt hat:
„Wir Mecklenburger sind nur Herrn und Knechte, nichts als die Luft ist uns gemein.“
Während die Lebenshaltung des Bauern jetzt planmäßig durch seinen Fronherrn eingeschränkt wurde, wurden die Dienste, die er zu leisten hatte, die Abgaben an Pacht-, Monats- und Armengeld sowohl wie die Hand- und Spanndienste, die Stellung von Arbeitskräften und Zugtieren, ständig erhöht. Um das Jahr 1550 hatten sie im Domanium einen Tag in der Woche betragen, um 1700 beliefen sie sich dort bereits auf vier Wochentage. Und das Domanium verfuhr noch milde im Vergleich zur Ritterschaft und den Landständen. Hier legte man sich in manchen Fällen alsbald in der Bedrückung der Leibeigenen überhaupt keine Schranken mehr auf, so daß schließlich dem Bauern für seine eigenen Arbeiten oftmals nur Sonn- und Feiertage oder selbst mondhelle Nächte übrigblieben. Sicherlich erfüllte die Leibeigenschaft für ihre Zeit eine soziale Funktion, indem sie das durch den Krieg gestörte Verhältnis zwischen zwei wirtschaftlich und sozial miteinander verbundenen Schichten neu regelte und dem sich entfaltenden kapitalistischen Gutsbetrieb eine neue Arbeitsverfassung lieh. Unzweifelhaft bot sie auch dem wirtschaftlich schwächeren Teil einen gewissen Versorgungsschutz. Und ebenso unzweifelhaft steht die Tatsache fest, daß durchaus nicht jeder Gutsherr die ihm verliehene Gewalt mißbrauchte, daß vielmehr die Zahl derer, die in patriarchalischer Weise sich um das Wohlergehen ihrer Leute bekümmerten, die Zahl der Leuteschinder und Tyrannen bei weitem übertraf. Männer wie Graf Friedrich v. Hahn, Landrat v. Rieben-Ihlenfeld und Landrat v. Bamer-Bülow sorgten wie wahre Väter für ihre Tagelölmer. Aber die Leibeigenschaft war nicht organisch gewachsen, sondern von einer bevorrechteten Schicht der Masse der Bevölkerung aufgezwungen, und da sie fremdem römischem Rechtsdenken entsprungen war, blieb sie ihrem Wesen nach dem Lebensgefühl des mecklenburgischen Menschen unverständlich. Und was am bedenklichsten war, sie versetzte demjenigen Stand, der in volksmäßiger wie wehr- und steuerpolitischer Hinsicht noch stets der wertvollste für jedes Land gewesen ist, einen entscheidenden Schlag. Dieser Umstand fiel um so schwerer ins Gewicht, je mehr nun einzelne Gutsherren sich der ihnen verliehenen schrankenlosen Gewalt bedienten, um in ihren Bereichen auch die letzten Überreste des noch unabhängigen Bauerntums auszurotten und die Bauernhöfe zu legen.
Diese Entwicklung ist auf das engste verknüpft mit der Einführung einer neuen intensiven Wirtschaftsform im Gutsbetrieb an Stelle der altgermanischen Dreifelderwirtschaft, in deren Folge angesichts des raschen Steigens der Erzeugung ein zunehmendes Bedürfnis nach neuen Arbeitskräften wie nach einer Erweiterung der Betriebsfläche eintrat. Der neue Großbetrieb mit seiner stark vermehrten Viehhaltung nötigte den Besitzer bald dazu, sich nach neuen Methoden der Bewirtschaftung umzusehen, da die Dreifelderwirtschaft nur Halmfrüchte, aber kein Futter lieferte. Ausgangs des 17. Jahrhunderts begann daher der Kammerpräsident Baron Sala, ein Nachfahre des berühmten herzoglichen Leibarztes, sich für die holsteinische Koppelwirtschaft zu interessieren und unternahm den Versuch, sie auf seinen Gütern im Amte Dargun einzuführen. Doch dieser Versuch ward mit allzu unzulänglichen Mitteln begonnen, so daß er schon 1685 wieder aufgegeben wurde. Erst fünfzehn Jahre später, um das Jahr 1700, griff der Oberlanddrost Friedrich v. d. Lühe, einer der bedeutendsten mecklenburgischen wie deutschen Landwirte überhaupt, diese Bestrebungen wieder auf, indem er zunächst auf seinem Gute Panzow bei Wismar, später, 1705 auch auf seinen anderen Gütern, Wendisch-Mulsow, Kirch-Mulsow und Neuen-Pohrstorff zwecks intensiverer Bodennutzung die holsteinische Koppelwirtschaft einführte und das Gutsland in Koppeln einteilte. Das neue Feldsystem, das sich unter Anpassung an die Gegebenheiten des heimischen Bodens und Klimas aus der Koppelwirtschaft entwickelte, die mecklenburgische Schlagwirtschaft mit zunächst 12 Schlägen — Brache, dreimal Sommerkorn, mit Stallmist gedüngte Brache, zweimal Winterkorn, einmal Sommerkom oder Erbsen, dreimal Weide — hatte nahezu eine Verdoppelung der Aussaatfläche zur Folge und dank der verbesserten Bodenbearbeitung eine mengenmäßige Steigerung aller Erträge, so daß es sich durch diese Erfolge sogleich selbst rechtfertigte. Trotzdem setzte es sich wie alles Neue in Mecklenburg nur langsam durch, zumal die Landwirtschaft in den drei Jahrzehnten seit 1705 schwer unter den Wirren des Nordischen Krieges und der Karl-Leopold-Zeit zu leiden hatte. Als erster folgte der hannoversche Minister Graf Andreas Gottlieb v. Bern-storff auf Wedendorf und Dreilützow, einer der aufgeschlossensten und besten Köpfe der damaligen Ritterschaft, dem Beispiele v. d. Lühe’s. Um 1730 weiter die Hahns, der Reichsgraf v. Sala und Herr v. Bassewitz-Dalwitz. Erst um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich das neue System fast überall durchgesetzt. Damit wurde — wie so oft auch später noch — die mecklenburgische Landwirtschaft, vor allem im Hinblick auf den sich nun mächtig steigernden Anbau von Weizen, führend für ganz Norddeutschland. Pommern, die Mark Brandenburg, Schlesien und Ostpreußen folgten ihrem Beispiel. Der englische Reisende Nugent bezeugt den berechtigten Stolz der mecklenburgischen Landleute auf ihre fortgeschrittene Wirtschaftsform, und noch um 1820 kennzeichnet ein englischer Regierungsbericht Mecklenburg als dasjenige norddeutsche Gebiet, das als einziges völlig die neuzeitliche Form der intensiven Bewirtschaftung durchgeführt habe.
Auch die Viehzucht zog aus diesem Aufschwung großen Nutzen. Am wenigsten vielleicht die Rinderzucht, die einmal behindert war durch die von 1644 an für mehr als 100 Jahre im Lande grassierende Rinderpest und zum zweiten durch die Einrichtung der „Holländerei“, d. h. der Verpachtung der gesamten Viehhaltung zum Zwecke der Butter- und Käsegewinnung an einen besonderen Unternehmer, den sogenannten Holländer. Stärker schon die Schafzucht, um die sich Herr v. Moltke auf Schorssow durch die Einführung spanischer Merinoschafe verdient machte, und am meisten die Pferdezucht. Damals ward Mecklenburg zum klassischen Land der Pferdezucht für Deutschland. Schon im Mittel-alter begegnen uns vereinzelt Gestüte wie das der Halms in Basedow im Jahre 1479. Herzog Johann Albrecht I. veredelte dann als erster die heimische Zucht bewußt durch die Zufuhr orientalischen, vor allem arabischen, ungarischen und spanischen Blutes. Dank seiner Fürsorge entstanden in Settin bei Crivitz und im Dewinkel bei Güstrow die ersten großen Gestüte, ausnahmslos freilich Wildgestüte, bei denen die Stutenherden gleich ihren wilden Almen in den benachbarten ausgedehnten Waldungen weideten. Wie auf allen Gebieten, so schlug der Dreißigjährige Krieg auch der jungen Zucht schwere Wunden. Doch unmittelbar nach der Beendigung des Krieges nahm Herzog Gustav Adolf von Mecklenburg-Güstrow die züchterischen Bestrebungen wieder auf. Sein „neapolitanisches Gestüt“, auf zwei in Rom gekauften neapolitanischen Rapphengsten nebst arabischem, türkischem und spanischem Material sowie dänischen, friesischen und preußischen Pferden basierend, ward eine der Pflanzstätten des altmecklenburgischen Pferdes. Eine Zeitlang züchtete man der Mode entsprechend auf Farben, Schimmel im Gestüt Schwaan, gelbe Kutschpferde mit schwarzer Mähne in Feldberg. Schon 1693 besaß die mecklenburgische Zucht einen so guten Ruf, daß westfälische Pferdehändler die weite Reise nicht scheuten, um ihre Stuten von mecklenburgischen Hengsten decken zu lassen. Auf den sich bildenden Großgütern wie etwa in Ivenack wurden zahlreiche neue Gestüte eingerichtet. Dazu gewinnt die Zucht um die Jahrhundertwende 1700 eine stetig sich festigende Eigenständigkeit. Die fremde Blutzufuhr hört aüf, der Schlag des altmecklenburgischen Pferdes, des „Sadelpierds“, steht fertig vor uns. Seine Hauptvorzüge sind Leichtigkeit und Ausdauer. Während des ganzen 18. Jahrhunderts gilt diese Rasse neben den holsteinischen Pferden als die beste Deutschlands. Mecklenburgische Hengste gehen damals in alle Welt, in die preußischen Landgestüte so gut wie 1772 nach Rußland in das Gestüt des Grafen Orlow, des Züchters des weltberühmten Orlowtrabers, zu dessen Ahnherrn somit auch mecklenburgische Pferde gehören.
Diesen wirtschaftlichen Fortschritten entsprachen freilich die sozialen Verhältnisse keineswegs. Noch immer lagen hier Ritterschaft und Landesherr in erbitterter Fehde. Die erstere hielt fest an ihren liberalistisch eigennützigen Interessen und ließ nur den eigenen Vorteil gelten, der letztere verzehrte sieh in dem vergeblichen Streben, die Bauern gemäß den Grundsätzen des Merkantilismus, die das Jahrhundert beherrschten, vor den Übergriffen des Adels zu schützen und von neuem einen leistungsfähigen Bauernstand als Rückhalt der Volles Wirtschaft zu schaffen. Karl Leopold (1713—1747), unstreitig nicht der begabteste, wohl aber der eigenwilligste und tatkräftigste aller mecklenburgischen Herzoge, macht noch einmal den Versuch, die Entwicklung aufzuhalten, um auch in Mecklenburg dem Gedanken der absoluten Fürstengewalt zum Durchbruch zu verhelfen. Zwei große Pläne kennzeichnen seine Ära: Die Schaffung eines starken stehenden Heeres und die Befreiung der Bauern. Für beide mangelte es jedoch an den notwendigen realen Voraussetzungen. Vor allem der zweite Gedanke war allzusehr auch aus dem eigensüchtigen Wunsch geboren, nicht nur dem Staate seine Grundlage wiederzugeben, sondern gleichzeitig dadurch mit einem Schlage die eigenen leeren Kassen zu füllen, indem er die Bauernbefreiung mit Hilfe des Freikaufes von der Leibeigenschaft und den Frondiensten durchzuführen trachtete. Das aber war eine Utopie, da die Mehrzahl der Bauern bereits so verarmt waren, daß sie die Kaufsumme gar nicht mehr aufzubringen vermochten. Obendrein waren weder der Herzog noch sein Berater Luben v. Wulffen die Männer, ein solches Unternehmen mit der nötigen Willenskraft und Klugheit durchzuführen. Es fehlte ihnen wohl nicht an hohen Plänen, doch vor allem der Herzog ließ sich nicht so sehr von kühler Überlegenheit als von der Leidenschaft seiner ungezügelten Triebe leiten, so daß sein politisches Handeln oftmals die notwendige Stetigkeit vermissen ließ. Auch war die Stunde zu spät gewählt, die Ritterschaft, zu deren Führern der bereits erwähnte Oberlanddrost v. d. Lühe gehörte, war bereits zu stark. Gegenüber dem Versuch des Herzogs, gestützt auf seine Verwandtschaft mit Peter dem Großen mit Hilfe russischer Truppen sein absolutes Regime im Lande aufzurichten, erbat und erhielt sie die Hilfe des Reiches, und der Herzog mußte schließlich trotz des Sieges seiner Truppen bei Walsmühlen im Jahre 1719 der Übermacht der Reichsexekutionstruppen weichen. Noch gab er sich nicht geschlagen. 1733 versuchte er noch einmal, seine Pläne zu verwirklichen, indem er die Bauern und das Landvolk zum offenen Kampf gegen den Adel aufrief. Die mecklenburgischen Bauern hatten ihren Herzog noch nicht vergessen, zu Zehntausenden folgten sie unter der Führung der Geistlichen und der herzoglichen Jäger und Förster seinem Ruf. Mecklenburgs Bauernkrieg begann, aber er endete nicht minder tragisch als zweihundert Jahre zuvor der Kampf der Bauern im Reich. Wiederum rief der Adel fremde Truppen, meist Hannoveraner, ins Land, und vor dem Pelotonfeuer und den Artilleriesalven der regulären Truppen stoben die Bauemmilizen des Herzogs in der Lewitz bei Schwerin auseinander. Karl Leopold endete sein Leben als Gefangener in der Festung Dömitz, und über die unglücklichen Bauern brach mit voller Wucht das Strafgericht ihrer Bedrücker und Ausbeuter herein.
Sein Nachfolger Herzog Christian Ludwig II. aber schloß nun 1755 mit den Ständen zu Rostock den Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich ab und unterschrieb damit das Todesurteil aller absolutistischen Bestrebungen der mecklenburgischen Landesherrschaft. Dieses Staatsgrundgesetz schloß Mecklenburg von der Entwicklung aller anderen deutschen Länder im 19. Jahrhundert aus. Nicht nur, daß jetzt die Abhängigkeit des Landesherrn von den Ständen, die durch den Landtag vertreten wurden, verewigt wurde, sondern es erfolgte auch die Aufteilung des gesamten Staatsgebietes zur Nutznießung unter drei Grundherren, den Landesherrn, die Ritterschaft und die Landschaft, d. h. die Landstädte, wobei sich die Ritterschaft wie stets die fettesten Bissen zu sichern wußte. Als Norm für die Steuerfestsetzung wurde auf Grund des Erbvergleiches die Bonitierung, d. h. die Abschätzung des Bodens nach seiner Ertragsfähigkeit, nach der Scheffelaussaat eingeführt, das älteste deutsche Klassifikationssystem zur Steuerfestsetzung, das einheitlich für ein ganzes Land galt. Zugleich bestätigte der Erbvergleich nicht nur alle bisherigen Vorrechte der Ritterschaft, sondern legalisierte auch geradezu das Bauernlegen. Nur das Legen ganzer Dörfer sollte verboten sein, aber bezeichnenderweise enthielt dieser Passus den Zusatz, „in der Regel“. Auch wußte man sich in diesem Falle sehr leicht zu helfen, indem man die Mehrzahl der Bauern eines Dorfes legte und nur drei oder vier Bauernstellen bestehen ließ, die dann, da man selbstverständlich nur Stellen mit gutem Boden legte, auf ihren kargen Äckern sowieso nicht mehr lebensfähig waren. Im übrigen ging der Geist, den dieses Staatsgrundgesetz atmete, sehr deutlich aus dem Absatz 326 hervor, der ausdrücklich besagte, daß die Landesgerichte sich nicht anmaßen sollten, die Bauern wider den Gutsherrn zu schützen.
Die neue Wirtschaftsform, welche den Anreiz schuf, und der Erbvergleich, der die rechtlichen Handhaben lieferte, bildeten die Grundlage der sich jetzt ausbreitenden Unsitte des Bauernlegens, des „Bauernschlachtens“, wie die daran interessierten Zeitgenossen es zynisch bezeichneten.
Die Folge war die zunehmende Entvölkerung des flachen Landes, das schon durch den Dreißigjährigen Krieg in seinem Bevölkerungsstand so schwer gelitten hatte. Mecklenburg erhielt sein heutiges Gesicht, die weiten Gutsflächen, auf denen sich verstreut die Herrensitze erhoben, umgeben von den Lehmkaten der Leibeigenen. Im 17. Jahrhundert hatte man im Gebiet der Ritterschaft, für das diese Betrachtung zunächst gilt, rund 12 000 Bauernstellen gezählt, 1669 galt noch die gleiche Zahl, wenn auch zweifelsohne viele Stellen infolge der Kriegsnöte nicht mehr besetzt waren und bereits wüst lagen. Im Jahre 1729 gab es noch 6235 Bauernstellen, 1755 noch 4900, 1776 waren noch 2631 übrig geblieben und im Jahre 1794 zählte die Bauernschaft im adeligen Gebiet noch ganze 1953 selbständige Bauern. Einzelne Zahlen reden eine besonders eindringliche Sprache. Im Amte Hagenow verringerte sich in den Jahren zwischen 1703 und 1751 die Zahl der Bauernstellen von 436 auf 132. Ähnliche Verhältnisse galten im Amte Malchin, der Hochburg der Hahns. Insgesamt wurden in Mecklenburg-Schwerin zwischen 1755 und 1782 wider jedes Recht 49 Bauerndörfer beseitigt! Im Amt Mirow verringerte sich in einem Zeitraum von rund 100 Jahren zwischen 1606 und 1708 die Zahl der Bauernstellen im Dorfe Peetsch von 22 auf 9, in Gaarz von 14 auf 4, im Amt Stargard in Bredenfelde von 27 auf 2, in Hinrichshagen von 25 auf 3, in Käbelich von 28 auf 9 und in Warbende und Küssow blieben von 20 und 12 Bauern überhaupt keine mehr übrig. Angesichts dieser Zahlen kann man es verstehen, wenn Stein in einem Briefe aus dem Jahre 1802 die Wohnung des mecklenburgischen Edelmannes mit der Höhle eines blutdürstigen Raubtiers verglich, das alles Land um sich veröde.
Was aber als Fronknechte und Tagelöhner auf den adeligen Gütern blieb, das seufzte, sofern der Herr unbarmherzig und unverständig gesonnen war, nur zu oft unter untragbaren Lasten. Matthias Claudius bat in seinem „Neu-jahrswunsch des armen Invaliden Görgel“ den Leiden des mecklenburgischen Landvolkes erschütternden Ausdruck geliehen, wenn er da sagt:
„Gehn viele sehr gebückt
Und welken in Elend und in Müh’,
Und andere ziehen daran und melken Wie an dem lieben Vieh!
Und ist doch nicht zu defendieren Und gar ein böser Brauch.
Die Bauern geh’n ja nicht auf Vieren Und sind doch Menschen auch . . .“
Für diese Leute gab es kein Recht mehr. Sie waren völlig der Gnade oder Ungnade ihrer Besitzer ausgeliefert. Ein Grabow auf Sukewitz konnte 1723 einen Leibeigenen für 80 Taler an den Landmarschall v. Putbus verkaufen. Auch der Rostocker Jurist Mantzel bezeugt, daß man Leibeigene wie ein Stück Vieh handelte, obwohl dies offiziell verboten war. Dort wo die Qual und die Leiden allzu unerträglich wurden, kam es wohl zu bösem Aufruhr, zu Rottierung und Gewalttat, wie denn 1761 der verhaßte Wirtschaftsschreiber von Heiddorf von erbitterten Leibeigenen erschlagen ward und in der Folge mehrere Schreiber und Vögte im Amte Schwaan ermordet wurden. Die Mehrzahl jedoch fügte sich mit dumpfer Ergebenheit in ihr Los, zumal die Strafen für Widerspenstige unmenschlich hart waren. Die Peitsche, welche der menschenfreundliche Wariner Drost v. Suckow unverhohlen ein Mordinstrument nannte, wurde fleißig ge-handhabt. Daneben gab es noch das Gantenlegen, bei dem der Delinquent in den Block gespannt und derart öffentlich zur Schau gestellt wurde. So legte sich die Leibeigenschaft wie ein Fluch, ein lähmender Alp über das ganze Land. Der einst so tüchtige und stolze Bauernstand versank in sittlicher Verrohung, Armseligkeit, Stumpfsinn und Gleichgültigkeit. Bei der Aufteilung des Landes in verschiedene Gebiete, die jeweils anderen Polizeiherren unterstanden und angesichts der Tatsache, daß das Polizeiwesen vor allem im Gebiete der Ritterschaft fast völlig im Argen lag, nahm die allgemeine Unsicherheit erschreckend zu. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und das beginnende 19. Jahrhundert sahen zahlreiche große Räuber- und Wilddiebsbanden, vielfach aus Juden bestehend oder mit jüdischen Hehlern im Bunde. Manche Mitglieder der Ritterschaft aber zogen aus ) diesen Verhältnissen nur die eine Folgerung, daß man die Zügel noch fester anziehen müsse, daß die Leibeigenschaft das einzige und beste Mittel sei, um das „rohe, tückische und faule Landvolk“ im Zaum zu halten, wie der Baron v. d. Kettenburg dem englischen Reisenden Nugent auseinandersetzte. Selbst ein so hervorragender Mann wie der Professor für Landwirtschaft Lorenz Karsten in Rostock huldigte anfangs noch ähnlichen Überzeugungen. Die Besten jedoch, in denen noch der Bauernstolz der Ahnen lebte, der sie die Knechtschaft als Schande empfinden ließ, wan-derten aus. Tausende blühender Bauernsöhne flüchteten über die Grenze und gingen als Arbeiter nach Hamburg. Friedrich d. Gr. konnte zahlreiche mecklenburgische Bauern im Warthe- und Netzebruch ansiedeln, und Tausende wurden gleich Heringen zusammengepreßt auf Schiffen von Hamburg aus nach Rußland verfrachtet, um das Wolgagebiet zu erschließen. Wir besitzen aus diesem Jahrhundert kaum zuverlässige Zahlen über die Höhe dieser Menschenverluste, doch die wiederholten scharfen Auswanderungsverbote von 1654, 1760 und 1763 sprechen eine beredte Sprache. Und in jedem Falle waren es wie bei jeder Auswanderung die tüchtigen und lebenskräftigen Elemente, welche auf diese Weise dem Lande verloren gingen.
Um so auffallender wirkt der glänzende äußere Zuschnitt der sich nun auf den Gütern entfaltenden adeligen Kultur. Wo der Besitzer materiell gut genug gestellt war, entstanden mm inmitten der Lehmkaten der Leibeigenen als Ausdruck der neuen völlig auf Genuß und Repräsentation abgestellten aristokratischen Lebensordnung prachtvolle Herrensitze, deren Glanz bei weitem den Lebenszuschnitt etwa des märkischen und pommerschen Adels der gleichen Zeit übertraf. Den Anfang dieser Bauten macht Schloß Rossewitz bei Laage, das der berühmte hugenottische Baumeister und Bildhauer Dieussart im Jahre 1657 für den in schwedischen Diensten stehenden Generalmajor v. Vieregge errichtete. War Dieussart, der Schöpfer des schönen Grabdenkmals des Geheimen Rates Ulrich v. Passow im Güstrower Dom, bereits ein Vertreter des frühen Barock, so herrschte am Ausgange des 17. Jahrhunderts bei den Schloßbauten zu Goldenbow und Remplin noch der Renaissancestil vor. Erst mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts setzt sich in Bauten wie den Schlössern zu Neustadt und Ivenack die französische Palastarchitektur voll in Mecklenburg durch, hie und da wie beim Schloß des Grafen Both-mer in Klütz sich freilich auch kreuzend mit englischen Vorbildern. Die schönsten und berühmtesten mecklenburgischen Adelssitze verdanken dieser Zeit ihre Entstehung. Die Hahns erbauen Diekhof und Faulenrost in französischem Geschmack, die Bernstorffs errichten sich 1730 in Drei-lützow ein prächtiges Haus, ebenso die Bassewitz’ in Prebbe-rede und die Maltzahns in Cummerow. 1770 erbaut Adam v. Blücher Gützkow, die reichste und geschlossenste Anlage des Rokoko in Mecklenburg. Um 1800 erfolgt dann der Übergang zum Klassizismus. 1806 beginnt Baron Labes, der spätere Adoptivsohn des Grafen Schlitz, mit dem Bau der Burg Schlitz, einer der hervorragendsten Leistungen deutscher Landschafts- und Gartenkunst. 1808 errichtet sich der Hofjägermeister v. Moltke in Schorssow einen reizvollen Landsitz, 1830 entsteht das Landhaus Stavenslust bei Güstrow, nach zeitgenössischen Schilderungen zu erteilen in seiner ursprünglichen Gestalt ein Juwel des späten Klassizismus. Trotz der fremden französischen, englischen und holländischen Vorbilder, trotz der Tatsache, daß damals vielfach italienische Werkleute die prachtvollen Stuckdecken im Inneren dieser Herrenhäuser schufen, aber wirken diese Bauten dennoch niemals fremd, sondern fügen sich stets in den Rahmen der heimischen Landschaft ein, da bei ihnen über aller kühlen Eleganz der fremden Bauweise doch immer weder die Wucht und Schwere des alten Niedersachsenhauses der Vorfahren durchbricht.
Etwas Behäbiges und Wohlhabendes geht von diesen Häusern aus, und behäbig und breit, ja oftmals allzu breit ist auch der Lebenszuschnitt ihrer Besitzer. Französisch gestutzte Parks, französische Moden und Zeitschriften, die über Köln bezogen wurden, galonierte Dienerschaft, Prunkkarossen, rauschende Jagdfeste mit kostspieligem Feuerwerk sind jetzt nichts Seltenes mehr. Während sonst der deutsche Adel dieses galanten Jahrhunderts seine Augen auf Paris und Versailles richtet, nimmt der mecklenburgische Adel sich zumeist seine englischen Standesgenossen zum Vorbild, die ähnlich wie er als adelige Oligarchie durch das Parlament das Land wie den Herrscher regieren. Die Lebensformen der jagdliebenden, hunde- und pferdezüchtenden „landed gentry“ werden das Ideal des mecklenburgischen Edelmannes. Wer es sich leisten kann, schickt seine Söhne wohl auf eine Bildungsreise nach England, und wer gar etwa von dort eine Frau mit heimbrachte, dem war fortan der erste Platz in der Gesellschaft gewiß. Allein obwohl die sogenannten Bildungsreisen der Söhne des Adels in Mecklenburg weit häufiger sind als etwa beim preußischen Adel, der im Waffendienst seines Königs aufging und seine besten Söhne auf den Schlachtfeldern des Siebenjährigen Krieges ließ, obwohl die jungen Adeligen weit häufiger als anderswo hier einige Semester an der Universität verbrachten, blieb dem Adel in seiner Mehrzahl das geistige Leben der Zeit noch fremd. Nur wenige ragen als Förderer des geistigen Lebens über die Masse ihrer Standesgenossen hinaus, an der Spitze zwei Hahns, Ludwig Achaz, der Erbauer von Diekhof, der dort eine reichhaltige Bibliothek einrichtete, und der Erblandmarschall Friedrich Graf Hahn (1742—1805), der nicht nur mit 58 Dörfern und Gütern der größte Grundbesitzer Mecklenburgs war, sondern auch einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit, der sich tun die Hebung deutschen Geistes im Kampf gegen die ausländischen Modetorheiten der Zeit ein unsterbliches Verdienst erworben hat. Herder, der auf ihn die Ode Orion dichtete, zählte zu seinen Freunden so gut wie die Astronomen Herrschei und Bode. Sein Lieblingsgebiet war die Astronomie. Im Park von Remplin wurde auf seine Veranlassung die erste Sternwarte in Mecklenburg errichtet, die er mit einem Riesenteleskop ausstatten ließ; ebenso richtete er dort ein chemisches Laboratorium und eine 12000 Bände zählende Bibliothek ein und legte einen botanischen Garten an. Gemeinsam mit dem Astronomen Bode gab er die Astronomischen Jahrbücher sowie einen neuen Himmelsatlas heraus und noch heute trägt ein großes Mondgebirge seinen Namen. Auch in sozialer Hinsicht suchte er vorbildlich zu wirken, indem er sich um die Verbesserung des Volksschulwesens auf seinen Gütern bemühte, für seine Leibeigenen einen besonderen Arzt und einen Chirurgen anstellte und eine unentgeltliche Krankenbehandlung ein-führte. In diesem Zusammenhang muß auch noch einer anderen sozialen Tat gedacht werden, der 1801 erfolgten Gründung einer Vieh-Versicherungskasse durch Landrat v. Rieben-Ihlenfeld für die Tagelöhner seiner Begütenmg.
Doch solche Erscheinungen blieben Ausnahmen. Sie fanden selten Nachahmer, denn wenn ein Kettenburg sich mit mäßigem Glück als Dramatiker versuchte, Graf Karl Hahn, der Sohn des vorerwähnten, in Remplin mit unsinniger Verschwendung ein Privattheater erbaute, und Georg Ludwig v. Oertzen sich im Kittendorfer Schloßpark gleichfalls eine Sternwarte errichten ließ, so waren das nichts als die Launen müßiger und übersättigter Landjunker. Und was sonst unter dem Adel an staatsmännischer oder militärischer Begabung, an Abenteurerlust und Tatendrang die engen Grenzen der heimischen Verhältnisse sprengte, dessen Kräfte kamen nur selten der Heimat, sondern meist fremden Mächten, Sachsen-Polen, Preußen, Dänemark, Hannover oder Schweden zu gute. Blücher und Moltke, die unter der großen Zahl des in fremdem Dienst befindlichen Adels zu oberst stehen, freilich dienten als Mecklenburgs größte Söhne der deutschen Sache, doch die Zahl derer, die sich in außer deutschen Diensten verbrauchten, ist weit größer.
Schon im 16. Jahrhundert macht sich Joachim Maltzahn (1492—1556), der Jugendfreund Huttens, in den. italienischen Kriegen als Feldherr einen Namen. Unstreitig ist er einer der größten Mecklenburger aller Zeiten, da er zur Seele des Kampfes der deutschen Fürsten gegen die spanisch-habsburgische Weltmacht Karls V. wird. Im 17. Jahrhundert finden wir einen Strahlendorff als Reichsvizekanzler und einen Barner als Generalfeldzeugmeister im Dienst des habsburgischen Kaiserstaates, während Joachim Christoph v. Moltke, den Gustav Adolf seinen „lieben Vetter“ nannte, sich als schwedischer Reitergeneral hohen Ruhm erwarb. Im 18. Jahrhundert wird ein Züle auf Zühr sächsisch-polnischer Generalfeldmarschall, Ludwig Wilhelm v. Moltke Feldmarschall in österreichischen Diensten während der schlesischen Kriege, und Adolf Nikolaus v. Buccow aus heute erloschenem Geschlecht bringt es gleichzeitig im gleichen Dienst bis zum General der Kavallerie. Ein Graf Bothmer vertritt Preußen als Gesandter in London und der Graf Andreas Gottlieb v. Bernstorff (1649 —1726) auf Wedendorf und Dreilützow verhilft als hannoverscher Premierminister dem Weifenfürsten Georg I. zum englischen Thron. Auch in die Dienste der Niederländisch-Ostindischen Kompanie wird mancher verarmte mecklenburgische Adlige verschlagen, so vor allem der in Rostock geborene Joachim Nikolaus v. Dessin (1704—1761), der in Kapstadt bis zum Sekretär der Waisenkammer und Nachlaßbehörde aufsteigt, die erste öffentliche Bibliothek in Südafrika begründet, die Grundlage der heutigen Südafrikanischen Bibliothek, und eine Gemälde- sowie eine Naturaliensammlung anlegt. Ferner der 1750 verstorbene Julius Valentin Stein, der einer alten Rostocker Familie entstammte, Kriegsdienste in der holländischen Kolonialarmee nahm, Kommandant von Batavia wurde und schließlich bis zum Gouverneur von Ceylon aufstieg.
Am stärksten aber ist die Anziehungskraft, welche Dänemark, damals noch im Besitze von Norwegen, Holstein und Oldenburg und ein beachtlicher Faktor im großen Spiel der europäischen Politik, auf die Söhne des mecklenburgischen Adels ausübt. Hatte im 16. und 17. Jahrhundert die Rostocker Universität das dänische Geistesleben geformt, so beeinflußt während des 18. Jahrhunderts der mecklenburgische Adel entscheidend das politische Geschick des dänischen Staates. Praktisch wird Dänemark damals von Mecklenburgern regiert, die fast alle wichtigen Stellen im Heer, am Hofe und in der Beamtenschaft einnehmen. Zeitweilig gilt Deutsch infolge des Einflusses der mecklenburgischen Günstlinge am Kopenhagener Hof als vornehmste Fremdsprache. Allein eine Familie wie die Moltkes stellen nicht nur in dem Grafen Adam Gottlob Moltke, dem Günstling König Friedrichs V. von Dänemark, einen der berühmtesten Mäzene der schönen Künste in Dänemark, sondern weiterhin noch 6 Minister, 2 Oberhofmarschälle, 4 Generale und einen Admiral. Die Plessen schenken Dänemark einen General, einen Premier- und einen Finanzminister sowie einen Oberkammerherrn. Auch die Barners liefern der dänischen Armee eine ganze Reihe hoher Offiziere. Ein Reventlow wird 1708 dänischer Minister, seine Tochter Anna Sophie 1721 sogar Königin von Dänemark. Von den Oertzens nehmen schon im 17. Jahrhundert verschiedene dänische Dienste, Balthasar v. Oertzen (1675 —1723) wird General und Kommandeur der dänischen Leibgarde zu Pferd, sein Sohn Friedrich Geheimer Rat des Königs und Graf. Nicht minder zahlreich und ehrenvoll sind die Blüchers vertreten, ein Bruder des berühmten Marschall Vorwärts wird dänischer Kammerherr, ein Vetter, Konrad Daniel Graf Blücher af Altona (1764—1845) dänischer Oberpräsident von Altona und einer der tüchtigsten Verwaltungsbeamten des Königreiches. Von den Hahns beherrscht Vincenz Joachim Hahn (1632—1680) als dänischer Oberhof- und Ober Jägermeister und allmächtiger Günstling König Christians V. das gesamte öffentliche Leben Dänemarks. Sein Neffe Ludwig Staats Hahn (1657—1730) wird dänischer Oberlanddrost von Oldenburg. Sogar der Sproß einer Rostocker Bürgerfamilie, Heinrich Karl Schimmelmann (1724—1782), der sich durch geschickte Spekulationen ein Riesenvermögen erwirbt, bringt es bis zum dänischen Finanzminister und Lensgrafen af Lindenborg. Und daran reihen sich v. d. Lühe’s und Bülows, Bassewitz’ und Pritzbuers, Gamms und Ba-rolds in schier endloser Folge. Am höchsten aber steigen die Bernstorffs. Graf Johann Hartwig v. Bernstor ff (1712—1772) wird von 1751 bis 1770 als Minister der Auswärtigen Angelegenheiten der leitende Staatsmann Dänemarks. Friedrich d. Gr. nennt ihn das „Orakel Europas“. Unzweifelhaft ist er einer der bedeutendsten Staatsmänner des Jahrhunderts. Richtungweisend hebt er bereits auf seinen seeländischen Gütern die Leibeigenschaft auf und führt eine Art Erbpacht für seine Bauern ein. Sein Neffe und Nachfolger in der Führung der dänischen Staatsgeschäfte, Graf Andreas Petrus v. Bernstorff (1735—1797) vollendet dann dieses Werk, indem er 1784 die dänische Bauernschaft aus den Fesseln der Leibeigenschaft befreit und damit die Grundlage für den heute so wohlhabenden dänischen Bauernstand legt.
Scheint es fast so, als ob er mit dieser Tat die soziale Schuld seiner mecklenburgischen Standesgenossen sühnen wollte, so blieb es doch auf das tiefste zu bedauern, daß soviel Begabung und Kraft nicht der Heimat, sondern einem fremden, wenn auch stammverwandten Volke zu gute kam. Der Adel auf den heimischen Herrensitzen aber blieb zumeist in engem Denken befangen. Freilich gab es in Mecklenburg nicht die üblen Schranzennaturen der kleinen deutschen Höfe, da die Ritterschaft nach wie vor in schroffer Fronde gegenüber dem Landesherrn verharrte und auf den Landtagen selbstherrlich nach eigenem Gutdünken über die Geschicke des Landes entschied. Allein das Übel der Leibeigenschaft demoralisierte vielfach nicht nur die Knechte, sondern auch die Herren, soweit diese sittlich weniger gefestigte Charaktere waren. Wem trotz des allgemeinen Zeitgeistes der Aufklärung die bestehenden Zustände nicht als menschenunwürdig und reformbedürftig erschienen, der mußte schon von eigenartiger Wesensart sein. Die allgemeine Sittlichkeit stand ohne Zweifel tiefer denn je, gerade das ius primae noctis ist durchaus nicht nur eine Erfindung liberalistischer Zeitungsschreiber. Neben einer rücksichtslosen Verachtung alles Geistigen überwucherten in diesem Jahrhundert ein starker Hang zu breitem Lebensgenuß und ein toller Hochmut und Adelsstolz alles andere. John Brinckmans Verse aus seinen Neuen Mecklenburgischen Liedern passen vortrefflich hierher, wenn er da ruft:
„Nun her den Kopf vom wilden Schwein,
Nun Austern her und Trüffel,
Und jeder Gast muß adlig sein . . “
Die Flotows erzählten mit Behagen von sich die Anekdote, daß Adam bereits am ersten Tage nach seiner Erschaffung gesagt habe: „Guten Tag, Flotow, na, bist du auch schon da?“ Auf den Landtagen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen noch viele Ritter bewaffnet wie in den Tagen des Faustrechtes. Der Reichsgraf v. Sala erschlug in diesen Jahren im Zorn straflos einen Bedienten. Ein v. d. Lühe auf Mulsow wollte noch 1755 bei den Verhandlungen über den Erbvergleich die Vertreter der Landstände kurzerhand zum Fenster hinaus werfen, weil sie der Ritterschaft nicht parieren wollten. Auch sonst blieben Sitte und Gebaren trotz der äußeren Kultur oft noch roh genug. Der Graf Schlitz-Karstorff bemerkt in seinen Denkwürdigkeiten noch über den Landtag der Jahre um 1800, dessen Mitglieder hätten weniger die Gabe des Redens als die des Schreiens besessen und sich weniger durch Bildung als durch Muskelkraft ausgezeichnet.
Charakteristisch ist zudem oft eine rasche Vergeudung als Folge eines Lebens, das keine höhere Pflichten gegenüber Fürsten und Volk kannte, sondern nur die Befriedigung des eigenen Vorteils. Zahlreiche Güter gehen jetzt rasch von einer Hand in die andere über. Mit der Bauernlegung hatte der Adel selbst das innere Verhältnis zur Scholle eingebüßt und seine Güter zum Objekt der Bodenspekulation gemacht, die besonders wilde Formen annahm, als nach der Überwindung der durch den Siebenjährigen Krieg herauf -beschworenen Krise der Landwirtschaft gegen Ende des Jahrhunderts eine Hochkonjimktur in der Getreideausfuhr einsetzte und die Landwirtschaft enorme Verdienste erzielte. Fast überall läßt sich dabei ein unaufhaltsames Sinken des cdten Feudaladels feststellen, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Der jäheste Sturz vollzieht sich bei dem letzten Sproß der berühmten reichsgräflichen Familie v. Sala, der 1781 Bankrott macht und 1806 in einer Scheune in Klein-Plasten als Gutsarmer stirbt. Aber auch sonst geht bei vielen altadeligen Familien alles den Krebsgang. Die Hessen büßen die Städte Brüel und Lübz ein, die v. d. Lühe Sülze und Marlow, die Bülow Grevesmühlen. Vor allem die Kriegsnöte des Siebenjährigen Krieges wirken verheerend auf den Besitzstand vieler Familien. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts geraten die Vieregge’schen Güter mit dem kunstgeschichtlich berühmten Schloß Rossewitz in Konkurs. 1816 verlieren die Hahns infolge der Verschwendungssucht des für seine Theaterleidenschaft bekannten Grafen Karl Hahn-Neuhaus einen beträchtlichen Teil ihrer Güter, darunter Remplin, im gleichen Jahre büßen auch die Moltkes im Schorssower Konkurs ihren stattlichen Landbesitz ein. Immer stärker schiebt sich das bürgerliche Element, vielfach aus reich gewordenen Pächtern adeliger Güter bestehend, in die Ritterschaft ein, da es zumeist wirtschaftlich erheblich tüchtiger ist. Familien wie die Eckermann, die Hillmann, Pogge, Paetow, Stever werden Ausdruck eines neuen Typus des mecklenburgischen Gutsbesitzers, der den wirtschaftlichen Fortschritt vertritt. Freilich fehlt hier der Zeit entsprechend auch die üble Erscheinung jüdischer Gutsherren nun nicht mehr. Nach den Freiheitskriegen erscheint der herzogliche Finanzrat Israel Jacobson als mehrfacher Großgrundbesitzer.
Das geistige Leben aber, das noch im ersten Jahrzehnt des 30jährigen Krieges so reich geblüht hatte, verkümmert jetzt angesichts des lähmenden Druckes der Leibeigenschaft und des Verschwindens des Bauerntums auf dem Lande wie des alten kraftvollen Bürgersinnes der Hansezeit in den Städten. Die Universität war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch in Deutschland (freilich nicht zum Vorteil ihrer geistigen Aufgeschlossenheit!) durch Theologen wie Albrecht v. Krackevitz (1674—1732), den Schöpfer des Mecklenburgischen Landeskatechismus und Franz Albert Aepinus (1673—1750) als Hochburg der lutherischen Orthodoxie bekannt und in allen orthodoxen Kreisen berühmt. Doch seit dem Jahre 1760 siechte sie an der Spaltung in zwei Universitäten, eine Tätliche in Rostock und eine herzogliche in Bützow, dahin, die auf Grund theologischer Streitigkeiten entstanden war, da die Rostocker Professoren sich geweigert hatten, einen von Herzog Friedrich dem Frommen (1756—1785) berufenen Vertreter des Pietismus in ihrer Mitte aufzunehmen. Gewiß fehlt es ihr auch jetzt nicht an tüchtigen Gelehrten. Ernst Mantzel (1699—1768) macht sich um die Bearbeitung des mecklenburgischen Rechtes wie um die Sammlung und Veröffentlichung von Urkunden zur Geschichte der Universität verdient. Wenzeslaus Karsten (1732 — 1787), ein Bruder Lorenz Karstens, der an der Bützower Hochschule lehrte, konnte für einen der ersten Mathematiker der Zeit gelten. Der Physiker Franz Ulrich Aepinus (1724—1802), der sich durch seine Forschungen auf dem Gebiete der Elektrizität einen Namen macht und der Entdecker der Influenz und der Thermoelektrizität wird, erhält einen Ruf an die kaiserlich-russische Akademie nach Petersburg und wird Erzieher des späteren Zaren Paul. Olav Gerhard Tychsen (1734—1815), geboren in Tondem als Sohn eines aus Norwegen eingewanderten Unteroffiziers, der sich durch eisernen Fleiß bis zum Universitätsprofessor empor arbeitet, wird der Begründer der Rostocker Universitätsbibliothek in ihrer heutigen Gestalt und einer der bedeutendsten Orientalisten der Zeit. Als „Bützower Oedipus“ erwirbt er sich den Ruhm eines der ersten großen deutschen Vorkämpfer des Antisemitismus, indem er bei seinen Forschungen über das Judentum bereits die rassischen Grundlagen dieses Problems vorausahnt. Unter den Ärzten sind neben Christian Eschenbach (1721—1788), der als erster die gerichtliche Medizin als Sondergebiet behandelt, vor allem zwei Mitglieder der berühmten mecklenburgischen Ärztefamilie der Detharding bemerkenswert. Georg Detharding (1671—1747) fördert den anatomischen Unterricht an der Universität, nimmt selbst Sektionen von Leichen vor, immer noch eine Seltenheit in dieser Zeit und empfiehlt 1714 als erster wieder die Anwendung des Luftröhrenschnittes bei Erstickungsgefahr. Sein Ruf verschafft ihm schließlich eine Professur an der Universität Kopenhagen. Sein Sohn Georg Christian Detharding (1699—1784) erwirbt sich als tüchtiger Praktiker die Wertschätzung weitester Kreise. An sie reiht sich würdig der Anatom Wilhelm Josephi (1763 —1845), der 1790 von Göttingen nach Rostock berufen wird und liier ein modernes anatomisches Theater einrichtet, das in der einstigen Cursorei der Juristen am Alten Markt untergebracht wird. Für sein Hauptwerk, den „Grundriß der Militär-Staatsarzneikunde“ wird er vom preußischen König mit einem Diamentring ausgezeichnet.
Doch all diese Männer zehren in diesem Jahrhundert des Stillstandes im Grunde nurmehr von der großen Vergangenheit der Universität. Rostock ist nicht mehr wie früher der Mittelpunkt des geistigen Lebens im Ostseeraum. Der große Rostocker Brand des Jahres 1677 hatte auch der Universität durch die Vernichtung der 4000 Bände zählenden Bibliothek und des Kollegiengebäudes am Alten Markt einen schweren Schlag versetzt. Die Zahl ihrer Studenten sinkt mit jedem Jahrzehnt. Der Fremden, welche die Hochschule aufsuchen, werden immer weniger. Zumeist sind die Studenten jetzt gebürtige Mecklenburger, und auf die Zustände innerhalb der Studentenschaft wirft ein anonym in Lübeck erschienener Schlüsselroman „Der verliebte und galante Student“ ein wenig günstiges Licht. Vollends untragbar gestalteten sich die Verhältnisse nach der Spaltung, da das Land für zwei Universitäten einfach zu klein war.
Auch die besten Köpfe der Literatur dieser Zeit hoben sich nur selten über das Mittelmaß hinaus. Der Rostocker Dichter Diedrich Georg Babst, der das Plattdeutsche wieder in der Literatm* zu Ehren zu bringen suchte und dessen Gedichte Goethe nicht ungünstig beurteilte, oder der sentimentale Dichter Ludwig Gotthard Kosegarten blieben doch im Grunde Sterne zweiten Ranges. Nur wenige erwarben sich wirklichen Ruhm und behaupteten auch fürderhin ihren Platz in der deutschen Geistesgeschichte. Sie stehen dafür freilich um so höher. Als erster ist in dieser Reihe Christian Ludwig Liscow (1701—1760) zu nennen, ein Pastorensohn aus Wittenburg, der eine Zeitlang als diplomatischer Beauftragter in den Diensten Herzog Karl Leopolds stand. Nach Johann Lauremberg ist er einer der ersten deutschen Satiriker, und sein Kampf gegen die Weitschweifigkeit und Verwässerung des zeitgenössischen Stils reiht ihn ein unter die Vorläufer Lessings. Von der größten Bedeutung für die deutsche Kulturgeschichte wurde ein anderer Mecklenburger, der Dichter Johann Heinrich V o ß (1751—1826) aus Sommerstorf bei Waren, der Enkel eines freigelassenen Leibeigenen. Seine Übertragungen der Ilias und Odyssee ins Deutsche sichern ihm Weltberühmtheit für alle Zeiten. Zugleich aber ward er durch Gedichte wie das bekannte „Die Leibeigenen“ für seine Zeit zu einem der bittersten Ankläger des Übels der Leibeigenschaft. Als äußerst fruchtbarer philosophischer und dramatischer Schriftsteller wie als Verfasser des „Lorenz Stark“, des ersten deutschen Familienromans von bleibendem Wert, erwarb sich endlich Johann Jacob Engel (1741—1802) aus Parchim einen bleibenden Namen.
Eine kurze, aber dafür um so glanzvollere Blütezeit erlebte die Theaterkultur Mecklenburgs unter dem kunstsinnigen Herzog Christian Ludwig II. (1747—1756), der auch den Grundstock zu der überaus reichen Sammlung niederländischer Maler in Schwerin legte. Nachdem unter dem letzten Herrscher der Güstrower Linie, Herzog Gustav Adolf (1654—1695), von dem auch zahlreiche geistliche Dichtungen von großer Gemütstiefe und Innigkeit überliefert sind, eine Zeitlang Güstrow eine Heimstätte gepflegter Schauspielkunst gewesen war, wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Schweriner Hoftheater dank der Truppe des berühmten Schauspieldirektors Johann Friedrich Schönemann (1704—1782) eine der besten Bühnen des damaligen Deutschland. Schönemann, ein Schüler der Neuberin, der in Schwerin wie in Rostock für den Hof spielte, erwarb sich ein hohes Verdienst um die Bildung des guten deutschen Geschmacks. 1753 stiftete eines der begabtesten Mitglieder seiner Truppe, der Schauspieler Eckhoff, der sich auch selbst als Bühnenautor betätigte und den Lessing als Schauspielergenie bezeichnete, eine Theaterakademie in Schwerin, eines der ersten theaterwissenschaftlichen Institute in Deutschland überhaupt. Der ganze Hof war damals von der Theaterleidenschaft erfaßt, die Erbprinzessin Luise Friederike, eine geborene Prinzessin von Württemberg-Stuttgart und die Prinzessin Ulrike von Mecklenburg beschäftigten sich damit, französische Dramen ins Deutsche zu übertragen, und wenn auch all diese Bestrebungen nur einem engen Kreis zugute kamen, da das damalige Theater ausschließlich Hoftheater war, so blieb doch die Tatsache der führenden Rolle Schwerins im Theaterwesen höchst bemerkenswert. Freilich riß diese verheißungsvolle Entwicklung mit dem Tode des fürstlichen Mäzens jäh ab, da dessen Nachfolger Friedrich der Fromme in der Bühnenkunst nur einen Fallstrick des Teufels erblickte.
Auf einem anderen Gebiet aber trat dafür in diesem für Mecklenburg so düsteren Jahrhundert das trotz aller Bedrückung nie erlahmende Bedürfnis nach geistiger Anregung und Belehrung um so deutlicher hervor, auf dem der Presse. Das Jahrhundert der Aufklärung zeitigte überall in Deutschland das Entstehen regelrechter Zeitungen, und gerade Mecklenburg stand hierbei den anderen Ländern des Reiches keineswegs nach, obwohl hier unstreitig die Verhältnisse am schwierigsten und ungünstigsten waren. Unter dem Titel „Curieuser Extract der neuesten Zeitungen“ gründet hier schon 1711 in Rostock der Ratsbuchdrucker Weppling, dessen Nachfolger später Adler ward, die nachmalige „Rostocker Zeitung“. 1749 erscheinen in Schwerin zum ersten Mal die „Mecklenburgischen Nachrichten“. Im gleichen Jahr erhält auch Wismar eine Zeitung, die freilich ein Jahr darauf bereits wieder einging, nachdem hier schon früh um das Jahr 1700 der Stadtbuchdrucker Martini eine politische Zeitung zu gründen versucht hatte, die verboten worden war. 1750 hat ein neuerlicher Versuch einer Zeitungsgründung in Wismar keinen besseren Erfolg. 1752 ruft der Buchdrucker Röse die „Rostockschen Nachrichten und Anzeigen“ ins Leben, die auf Anregung des Bürgermeisters und Geschichtsschreibers Heinrich Nettelbladt auch Beiträge über die Geschichte der Stadt brachten. Später übernimmt der Ratsbuchdrucker Müller die Zeitung, deren gelehrte Beilage nun der Prediger und Rektor Niehenck betreut. 1757 gründet der Hofbuchdrucker Bärensprung die heutige „Mecklenburgische Zeitung“ in Schwerin. Seit 1783 erscheint dann auch endlich in Wismar eine lebenskräftige Zeitung, die „Wismarschen privilegierten wöchentlichen Anzeigen“, seit 1795 mit den „Politischen Neuigkeiten“ als Beilage, aus denen sich das heutige „Mecklenburger Tageblatt“ entwickelt hat.
Offenbart sich schon in all diesen oft mehr als gewagten Unternehmungen eine FüUe von Idealismus und Opfersinn, so gilt das noch mehr für die überraschend große Zahl der verschiedenartigsten gelehrten oder unterhaltenden Zeitschriften, die während dieses Jahrhunderts in Mecklenburg herausgegeben wurden. Von den Fachzeitschriften abgesehen, lassen sich nicht weniger als 23 verschiedene derartige Gründungen in Rostock, Schwerin, Güstrow, Wismar und Parchim feststellen, denen zumeist freilich angesichts der starken Konkurrenz und des mangelnden Widerhalls in dem noch nicht genügend wiedererstarkten Bürgertum kein langes Dasein beschieden war. Den Anfang macht auch hier Rostock als Universitätsstadt mit den „Annales Litterarii Mecklenburgenses“ von 1722 und dem bekannten ..Rostocker Etwas“ des Professors Mantzel (Etwas von gelehrten Ro-stockschen Sachen). 1751 gab der praktische Arzt Dr. Möller in Wismar eine gelehrte Zeitung heraus, ein Jahr später versuchte der Philosoph Angelius Johann Aepinus, ein Bruder des Physikers und Sohn des großen Theologen, in Rostock eine ähnliche Gründung. Endlich schuf 1762 der Theologe Professor Quistorp die „Neuen Berichte von gelehrten Sachen“. Die unglückselige Neugründung der Bützower Universität zeitigte gleich drei Journale, die nicht eben gut beleumdeten „Bützower Blätter“ des Konsistorial-rates Reinhard, eines argen orthodoxen Frömmlers, Professor Mantzels „Bützow’sche Ruhestunden“ und Professor Tychsens „Bützowische Nebenstunden“. Einen bleibenden Platz in der Literatur ihrer Zeit erwarben sich indes nur die von 1788 bis 1807 erscheinenden „Annalen“ der Rostocker Akademie, für welche der Philosoph Professor Eschenbach, ein Bruder des Mediziners, verantwortlich zeichnete. Von der Unzahl der unterhaltenden Zeitschriften, welche sich an ein breiteres Publikum wenden wollten, können im Rahmen dieser Betrachtung nur wenige Erwähnung finden, so das von 1791 bis 1792 erscheinende „Rostock’sche Wochenblatt“ des bekannten Anatomen Wilhelm Josephi und die bei Bärensprung in Schwerin verlegte „Monatsschrift von und für Mecklenburg“, ferner das „Magazin für Naturkunde“ und das in Bützow erscheinende „Diätetische Wochenblatt“ des Medizinprofessors Graumann.
Mecklenburg – Das 19. Jahrhundert und die neuere Zeit
Die Entwicklung der Landwirtschaft
Bereits im Mittelalter hatte Mecklenburg mit seinen blühenden und wohlhabenden Bauerndörfern und seinen in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht gleich bedeutsamen Seestädten, von denen Rostock die älteste Handelsmesse des Nordens bildete, durchaus seine Eigenständigkeit als Wirtschaftsgebiet bewiesen. Im Jahre 1552 hatten süddeutsche Kaufleute über den mecklenburgischen Wirtschaftsraum die erste Einzelkarte Norddeutschlands hersteilen lassen, ein Zeichen, wie hoch man schon damals im Reich dessen Bedeutung als Brücke zwischen den großen Zentren des Handels im Norden und Süden veranschlagte. Weit stärker aber stellte gerade das für Mecklenburg politisch und sozial so dunkle 18. Jahrhundert indirekt die wirtschaftliche Eigenständigkeit dieses Raumes unter Beweis, denn nur ihr allein hatte Mecklenburg es zu verdanken, wenn es dieses Jahrhundert überhaupt überdauerte.
Die bisherige Betrachtung galt allein dem Gebiet der Ritterschaft, doch darüber darf man nicht außer acht lassen, daß das Domanium, der dem Landesherrn gehörige Bereich, im allgemeinen ein bei weitem andersgeartetes Bild bot. Das Herzogshaus war schon aus volks- wie wehrund steuerpolitischen Rücksichten heraus im Grunde stets dem Bauernstand freundlich gesonnen gewesen, da ein gesunder Bauernstand die einzige Macht gebildet hätte, auf die es sich gegen die Anmaßung der Ritterschaft stützen konnte. Freilich fehlte es ihm seit dem Abschluß des unseligen Erbvergleiches an der notwendigen Macht, solchen Anschauungen gleich den Hohenzollern im ganzen Lande Geltung zu verschaffen, allein dafür ließ es sich umsomehr im eigenen Gebiet die Hebung des Bauernstandes angelegen sein. So zeitigt diese Politik für Mecklenburg schon im Jahre 1753 während der Regierungszeit Herzog Christian Ludwig II. (1747—1756) unter dem Einfluß des bauernfreundlichen Kammerdirektors Wachenhusen in der sogenannten Büdnersiedlung den ersten größeren Versuch zu innerer Kolonisation. Um der nach den Wirren der Karl-Leopold-Zeit einsetzenden Massenauswandenmg nach Rußland zu steuern, suchte man zielbewußt im Domanium in den Büdnerstellen einen neuen lebensfälligen Kleinbesitz zu schaffen, der die ärmeren Teile der Landbevölkerung fest an die heimische Scholle band. Diesem Bemühen blieben Erfolge auch nicht versagt. Im Jahre 1800 gab es bereits 4000 derartiger Stellen, drei Jahrzehnte später 5300. 1801 wurden von neuem aus einstigen Bauernhufen eine beträchtliche Reihe von Büdnereien geschaffen, 1809 die ganze Siedlung neu geregelt. Auch das Strelitz’sche Gebiet blieb am Ausgang des 18. Jahrhunderts hinter dieser Entwicklung nicht zurück. Sieben neue Siedlungsdörfer wurden dort angelegt. Nur die Ritterschaft sträubte sich, wie nicht anders zu erwarten, krampfhaft gegen alle derartigen Bestrebungen, da sie für ihre großen Begüterungen fürchtete.
Dieser Gegensatz wirkte um so auffälliger, als die Zeit immer stärker gegen das Fundament der feudalaristokratischen Lebensordnung, die Leibeigenschaft, Sturm zu laufen begann. Schon der Kammerdirektor Wachenhusen hatte diese als das Haupthindernis allen Fortschrittes bezeichnet. Und diese Stimmen mehrten sich, je mehr die naturrechtlichen Lehren der Aufklärung auch in Mecklenburg vor allem in den Kreisen der Gebildeten Eingang gewannen. 1781 hielt anläßlich einer zu Ehren des Herzogshauses veranstalteten Festlichkeit der Rostocker Professor der Morkl und der Rechte Jakob Friedrich Rönnberg (1738 —1809), der sich als Verfechter der Menschenrechte fühlte, eine aufsehenerregende Rede über die Notwendigkeit der Aufhebung der Leibeigenschaft und deren Umwandlung in eine Art Erbpacht. Die Monatsschrift „Von und für Mecklenburg“ als Vertreterin des aufgeklärten Bürgertums stieß in das gleiche Horn. Von noch tiefgehenderem Einfluß war 1784 Karl Leopold Eggers’ Schrift „über die gegenwärtige Beschaffenheit und mögliche Aufhebung der Leibeigenschaft“. Selbst der Adel fehlte jetzt in diesem Chorus nicht mehr. An der Spitze neben einem Baron Langermann und einem v. Engel einer der bedeutendsten Vertreter der damaligen Domanialverwaltung, der Geheime Rat Klaus Detlof v. Oertzen (1736—1822) in Bützow, der sich auch auf landwirtschaftlichem Gebiet durch die Veredelung der Schafzucht und die Einführung der Impfung des Rindviehs zur Bekämpfung der Kuhpocken große Verdienste erwarb.
Schon 1778 fielen im Domanium infolgedessen die Hofdienste für die Bauern fort. Im Jahre 1783 gingen der Baron Biel auf Stoffersdorf und Herr v.’Bülow in Wahr-storf und Hohenkirchen dazu über, ihre Bauern freizulassen und in Erbpächter umzuwandeln. Freilich handelte es sich bei beiden bezeichnenderweise um Adelige, die im auswärtigen Dienst standen. Die Französische Revolution, deren letzte Ausläufer in den Rostocker und Güstrower Butterkrawallen selbst bis nach Mecklenburg brandeten, ließ die Hoffnungen aller Aufgeklärten noch höher schwellen. 1790 hob der erste mecklenburgische Gutsbesitzer, Hofrat Schnelle auf Gottmannsförde, die Leibeigenschaft auf, doch noch 26 Jahre sollten vergehen, bevor sich ein echter Ritter, der Erblandmarschall Ferdinand v. Maltzahn, zu diesem Schritt entschloß.
Fürs Erste galt noch immer für den weitaus größten Teil Mecklenburgs das Bild, das im Jahre 1811 eine anonym erschienene Schrift von seiner Bevölkerung entworfen hatte. Danach bestand diese zumeist aus „unmutigen Leibeigenen, hungrigen Tagelöhnern, elenden Kossäten und wenigen ausgemergelten Bauern“. Das Porträt des Gutsherrn liefert dazu der Graf Schlitz-Karstorff in seinen Memoiren, wenn er dort einen Herrn v. M. auf Detershagen schildert: Einen himmelhohen Mann im langen roten Rock, in der Rechten einen langen dicken Knüppel, der des öfteren bereits entzwei geprügelt sein mußte, denn an den Bruchstellen war er reichlich mit Leder umwickelt. Die Kriegsnöte der Franzosenzeit und der wirtschaftliche Druck der Kontinentalsperre hatten eine neuerliche Verschlechterung aller Lebensverhältnisse zur Folge. Die allgemeine Unsicherheit nahm erschreckend zu; die großen Diebsbanden jüdischer Hehler, der Schön Afrömchen und Blind Leibchen, setzten das flache Land in Unruhe und Schrecken, bis 1812 die Errichtung eines regelrechten herzoglichen Gendarmeriekorps allmählich diesem Unwesen Einhalt gebot.
Während in anderen Gebieten Europas die französische Oberherrschaft vielfach den neuen politischen Ideen zum Durchbruch verhalf, verharrten die mecklenburgischen Stände nach wie vor in ihrer schroffen Ablehnung jeder Neuordnung, somit wohl ein Bild stolzen Unabhängigkeitssinnes gegenüber den fremden Bedrückern bietend, andcrerseits aber auch das Abbild jeder Reaktion. Wohl äußerte 1808 Herzog Friedrich Franz I. (1785—1837) die Absicht, die Leibeigenschaft aufzuheben, doch die reforma-torische Partei, voran der Erbprinz Friedrich Ludwig (1778—1819), der im Sinne Rousseaus erzogen war, ein wohl einsichtiger aber nicht eben fester Charakter und der Warmer Drost v. Suckow, sein Mentor, waren zu schwach, um ihren Ansichten Geltung verschaffen zu können. Erst nach den Freiheitskriegen ward diese Frage auf das Drängen der Landschaft, also der bürgerlichen Vertreter der Landstädte, endlich ernsthaft angepackt. Die Ritterschaft, an der Spitze als Häupter der Reaktion die Grafen v. Schlitz und v. Bothmer, für die noch 1816 das Wort Leibeigenschaft nichts war als „die gehässige Bezeichnung einer an sich zum großen Teil wohltätigen Einrichtung“, sträubte sich freilich in der Mehrzahl immer noch auf das Heftigste gegen jede Reform. Doch dank dem Geschick des Kammerrates Heinrich Ludolf v. Lehsten gelang es schließlich nach zweijährigen Verhandlungen auf den Landtagen der Jahre 1818 und 1819 auf Grund des Gesetzes vom 18. Januar 1820 die Aufhebung der Leibeigenschaft durchzusetzen.
Bildete dieses Gesetz einen Markstein in der innerpolitischen und sozialen Entwicklung des Landes, so war der Grund zu dem neuerlichen Aufschwung der mecklenburgischen Landwirtschaft, des Hauptzweiges der heimischen Wirtschaft, schon weit früher gelegt worden. Das Hauptverdienst dafür gebührt einem Manne, der heute fast völlig in Vergessenheit geraten ist: Franz Christian Lorenz Karsten (1751—1829). Geboren als Sohn eines ritter-schaftlichen Gutspächters, war er anfangs Professor der Landwirtschaft in Bützow, später, nach der Wiedervereinigung der beiden Hochschulen, in Rostock. Bereits 1785 trat er mit einer Abhandlung „über den Zustand der gegenwärtigen Aufklärung in der Ökonomie“ für eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft ein. 1793 begründete er in Rostock aus eigenen und geliehenen Mitteln auf dem linken Warnowufer vor dem Kröpeliner Tor eine landwirtschaftliche Versuchs- und Lehranstalt, Neuenwerder benannt, die erste derartige Lehranstalt auf deutschem Boden überhaupt. Ihr Zweck sollte darin bestehen, den mecklenburgischen Landwirten, vor aUem dem Nachwuchs, die Kenntnis wissenschaftlicher Betriebsmethoden zu vermitteln. Aber auch in praktischer Hinsicht bemühte er sich um die Einführung aller möglichen Neuerungen und Verbesserungen. Auf ihn gehen 1797 die ersten Versuche zur Dünenbepflanzung in Warnemünde zurück. Weiterhin beschäftigten ihn Untersuchungen über die Fruchtfolge so gut wie über die Herstellung feuerfester Dächer für landwirtschaftliche Gebäude. Er empfahl einen Kartoffelpflug und eine Dreschmaschine, wie sie damals Pastor Pessler konstruiert hatte. Und all dieses rastlose Streben ist um so höher zu bewundern, als er ständig mit den furchtbarsten finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, um sein Neuenwerder zu erhalten, und zudem ein Großteil seines Schaffens in die Kriegsnöte der Franzosenzeit fiel. Ohne Zweifel war er einer der größten Idealisten seiner Zeit. Erst nach jahrelangem bitterem Ringen wußte er sich durchzusetzen, während ein anderes Lehrinstitut, die 1804 begründete Landwirtschaftsschule des Gutsbesitzers Karl Schröder in Sophienhof der Not der Kriegsjahre von 1806/07 zum Opfer fiel. Dann freilich gewann er einen Ruf, der bis weit über die Grenzen des deutschen Vaterlandes hinausging. Die russische Universität Kasan, an der damals zwei berühmte Landsleute Karstens, Christian v. Frähn und Friedrich Franz Erdmann, als Orientalisten lehrten, bemühte sich, ihn als Lehrer zu gewinnen. Der König von Dänemark, der Herzog v. Holstein-Beck interessierten sich für seine Arbeiten. Den größten Ruhm aber erwarb er sich durch die Gründung des ersten landwirtschaftlichen Berufs-Verbandes in Mecklenburg, der Mecklenburgischen Landwirtschaftlichen Gesellschaft, die er 1798 gemeinsam mit dem Grafen Schlitz-Kar-storff ins Leben rief und die 1817 zum Patriotischen Verein erweitert wurde.
Der neue Verein, für den Lorenz Karsten seit 1805 auch eine Fachzeitschrift, die nachmaligen „Annalen“ des Patriotischen Vereins, herausgab und den er als Generalsekretär bis an sein Lebensende betreute, wurde einer der beiden Grundpfeiler der künftigen Entwicklung der Landwirtschaft. Zum ersten Mal war nun die Basis für eine Zusammenarbeit aller mecklenburgischen Großgrundbesitzer gegeben. Allerorts regte sich neues Leben. Die Schaffung des Wollmarktes in Güstrow im Jahre 1819 lieh der Schafzucht mächtigen Auftrieb. In Rostock suchte Friedrich Hennings 1821 mit seiner „Landwirtschaftskammer“ für eine Modernisierung der Betriebsmethoden zu wirken, und Dr. Gerke auf Frauenmark, einer der bekanntesten Gutsbesitzer, veröffentlichte em zweibändiges Werk über seine landwirtschaftlichen Erfahrungen.
Der zweite Grundpfeiler des Aufschwunges, die Schaffung eines gemeinschaftlichen Kreditinstitutes, war in seiner Entstehung auf das engste mit der landwirtschaftlichen Konjunktur verknüpft. Ausgangs des 18. Jahrhunderts hatten der Verfall der spanischen und portugiesischen Landwirtschaft, die beginnende Industrialisierung Englands sowie eine Reihe von Mißernten in Mitteleuropa für die mecklenburgische Landwirtschaft eine noch nicht dagewesene Hochkonjunktur zur Folge gehabt. Sie bot Anreiz genug zu einer immer stärkeren Intensivierung, wie sie bereits durch die holsteinische Koppelwirtschaft eingeleitet worden war und bewirkte schließlich eine stete beträchtliche Überproduktion, die ausschließlich auf den Export angewiesen war. Um so heftiger imd folgenschwerer war der Rückschlag, als die Besetzung des Landes durch französische Truppen 1806, die napoleonische Kontinentalsperre und endlich um 1820 die englische Schutzzollpolitik fast alle bisherigen Absatzmärkte versperrten. 1811 befanden sich bereits 60 ritter-schaftliche Landgüter in Konkurs. Seit 1806 bestand ein Moratorium, das immer von neuem verlängert werden mußte. Und für den verarmten Landmann fehlte es dabei angesichts der herkömmlichen Kapitalarmut des Landes und des Mangels an größeren leistungsfähigen Bankinstituten an jeder Kreditmöglichkeit. Dieser Lage verdankte im Jahre 1819 der Ritterschaftliche Kreditverein seine Entstehung, um dessen Schöpfung sich besonders der Ritterschaftsassessor Georg v. Blücher auf Wasdow verdient machte. Nunmehr besaß nicht nur der finanziell bedürftige Landwirt Aussicht auf wirksame Hilfe, die es ihm ermöglichte, Krisenzeiten zu überwinden, sondern es standen jetzt auch denjenigen, welche ihre Wirtschaft zu verbessern und auszubauen wünschten, die dafür notwendigen Kapitalien zur Verfügung.
Auf dieser Basis entfaltete sich eine neue Blüte in der Landwirtschaft. Vor allem die mecklenburgische Pferdezucht erlebte jetzt ihre größte Zeit. 1812 war das Landgestüt Redefin geschaffen worden zur züchterischen Betreuung der im bäuerlichen Besitz befindlichen Stuten. Um 1820 begannen die Brüder v. Biel auf Zierow und Weitendorf zur Veredelung der Zucht in großem Umfange englisches Vollblut einzuführen. Baron Gottlieb v. Biel-Zier ow (gest. 1831), der sich auch theoretisch in verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten mit der Zucht des edlen Pferdes beschäftigte, wurde geradezu der Vater der mecklenburgischen Vollblutzucht. In Zierow und Weitendorf, beim Grafen Hahn in Basedow und beim Grafen Plessen in Ivenack, wo der weltberühmte Schimmelhengst Herodot deckte, entstanden große Gestüte, die sich nur noch mit der Vollblutzucht befaßten und vielfach von englischen Stallmeistern betreut wurden. 1822 wurde ein Verein zur Hebung der mecklenburgischen Pferdezucht ins Leben gerufen und die erste Rennbahn ganz Deutschlands in Doberan angelegt, auf der noch im gleichen Jahre die ersten Wettrennen gelaufen wurden. 1827 erhielt auch Güstrow eine Rennbahn, 1828 Neubrandenburg. 1829 schuf sich Graf Hahn in Basedow eine eigene Rennbahn. Um 1830 war die mecklenburgische Pferdezucht auf ihrem Höhepunkte angelangt. Mecklenburgische Hengste waren in ganz Deutschland, Frankreich und Belgien geschätzt. Um so jäher war der Absturz von dieser Höhe infolge zu starker Überzüchtung und Verfeinerung. Als Abhilfe versuchte man wahllos mit Kaltblut zurückzukreuzen, doch die Folge war nur ein grauenhafter Mischmasch aller möglichen Schläge, zu dessen Überwindung es Jahrzehnte bedurfte.
In sozialer Hinsicht war es dabei für die gesamte fernere Entwicklung höchst charakteristisch, wie von dem soeben behandelten Gebiet abgesehen, aller Fortschritt zumeist nicht vom Adel, sondern von den bürgerlichen Besitzern ausging. Der alte Feudaladel ging immer weiter zurück. Von 83 altadeligen landgesessenen Familien, die 1755 den Erbvergleich unterzeichnet hatten, befanden sich 1909 nur noch 33 im Besitz ihrer Güter. Dagegen wurden Männer wie Dr. Samuel Schnelle auf Buchholz, bei dem der Dichter Hoffmann v. Fallersleben für eine Zeitlang eine Zuflucht fand, der mißtrauischen Polizei gegenüber als Kuhhirt bezeichnet, und Theodor Stever auf Wustrow im Verein mit den Führern der Rostocker Liberalen, den Brüdern Julius und Moritz Wiggers, zu Trägern nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Fortschritts, dem Erstarken des Bürgertums in diesem Jahrhundert entsprechend. Selbst auf dem Gebiete des Pferdesportes überflügelten die bürgerlichen Besitzer allmählich den Adel. 1843 wurde Heinrich Stever auf Niekrenz der erfolgreichste Rennreiter Deutschlands.
Vor allem aber ist es hier notwendig, einer Familie zu gedenken, welche Mecklenburg eine Reihe seiner bedeutendsten Männer geschenkt hat, der Pogges. Der Stammvater der Dynastie, Karl Pogge auf Roggow (1763—1831) hatte begonnen als Pächter des Grafen v. Wallmoden-Gimborn. Eng befreundet mit Johann Heinrich v. Thünen, konnte er für einen der tüchtigsten und fortschrittlichsten Landwirte der Zeit gelten. Er nahm die erste Wiesenbekarrung in Mecklenburg vor und legte mit einer von den Gütern des Fürsten Lichnowsky in Schlesien bezogenen Merinoherde die erste Stammschäferei in Mecklenburg an. Seine Söhne, Friedrich Pogge auf Zierstorf (1791—1843) und Johann Pogge auf Roggow (1793—1854) setzten diese Überlieferung würdig fort. Der erstere studierte bei Lorenz Karsten in Rostock die Landwirtschaft, gründete gleichfalls eine berühmte Stammschäferei, welche zum Ausgangspunkt der gesamten mecklenburgischen Edelschafzucht wurde, führte die Berieselung in Mecklenburg ein, gehörte mit Baron Gottlieb Biel zu den Begründern der heimischen Vollblutzucht und machte sich in politischer Hinsicht durch seine Bemühungen um die Hebung des einstmals leibeigenen Bauernstandes einen Namen. Der zweite, den der Generalleutnant Graf Schlieffen auf Schwandt als eine in vieler Hinsicht unübertroffene Persönlichkeit bezeichnete, wurde im Vormärz zum unerschütterlichen Vorkämpfer für eine mecklenburgische Verfassung. Daneben wirkte er bahnbrechend in der Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen im Betrieb und vertrat als erster in Theorie und Praxis den Gedanken, Feldbahnen anzulegen. Noch größeren Ruhm erwarb sich der Sohn Friedrich Pogges, Paul Pogge auf Zierstorf (1838—1884), der als Afrikaforscher die Erschließung Innerafrikas einleitete. Neben dem Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg gehört er zu den bedeutendsten Pionieren des deutschen Kolonialgedankens, die Mecklenburg dem Reich schenkte.
Wie im 18. Jahrhundert überwog noch immer der wirtschaftliche Fortschritt. In sozialer Hinsicht hatte dagegen auch die Aufhebung der Leibeigenschaft keine wesentliche Verbesserung der Lage der Bauern und Landarbeiter zur Folge gehabt. Gewiß war der Bauer jetzt rechtlich frei, aber den Besitzstand seiner Vorfahren, der ihm das Leben in der Freiheit erst wert gemacht hätte, hatte ihm die Reform nicht gegeben. Infolge der Bestimmung, daß diejenigen, denen der Gutsherr kündigte, entweder als Heimatlose ins Landesarbeitshaus überwiesen oder zwangsweise einem anderen Herrn zugewiesen werden sollten, war der Bauer wie der Tagelöhner noch immer der Willkür des Gutsherrn ausgeliefert. Und was dessen Ansichten und Sitten betraf, so paßten sie sich nur langsam und zögernd den Forderungen der Zeit an, wie es bei dem konservativen Sinn des Landmannes nicht anders zu erwarten war. Wohl hatte Mecklenburg 1813 im Freiheitskampf als erstes außerpreußisches Land ein erhebendes Beispiel der Vaterlandsliebe gegeben. Wohl fehlte es nicht an mancher bedeutsamen Gestalt in der Ritterschaft, wie dem geistigen Vater des Blücherdenkmals in Rostock, August v. Preen auf Dummerstorf, dem bekannten landwirtschaftlichen Schriftsteller Christian v. Ferber, dem Kunsthistoriker Graf Schack, dem Vizekanzler Karl Friedrich v. Both, dem Komponisten v. Flotow oder jenem Hermann v. Maltzahn, der als Naturforscher europäischen Ruf gewann. Allein für eine beträchtliche Zahl ihrer Standesgenossen galt leider noch immer das Wort des Dichters Hoffmann v. Fallersleben:
„Wir sind mit dem zufrieden,
Mit dem, was uns beschieden
Die alte gute Zeit . . .“
Die Verfassung von 1849 blieb eine rasch verwehendes Zwischenspiel, das kaum merkliche Spuren zurückließ. Friedrich der Große hatte bereits seinem Spott über das staatlose Junkertum in Mecklenburg die Ziegel schießen lassen, Bismarck meinte, bei einer derartigen Unabhängigkeit eines einzelnen Standes könne kein Staat bestehen, Treitschke nannte das altständische Mecklenburg ein Chaos von Privatinteressen. Doch viele der adeligen Herren auf den großen Gütern fuhren unbekümmert fort, der Zeit und ihren Errungenschaften Fehde anzusagen. Sie stemmten sich gegen den Bau von Chausseen zur verkehrstechnischen Erschließung des Landes, weil sie das Eindringen des Siedlungsgedankens fürchteten. Sie versteiften sich stolz auf ihre wendische Abkunft, als sei es eine Schande, von deutschen Rittern zu stammen. Sie fuhren fort, nach alter Sitte Bauern zu legen. Ein 1849 erlassenes Verbot dieses Unwesens wurde 1851 wieder aufgehoben. Nur Dörfer mit 3 und weniger Bauern sollten nicht mehr gelegt werden. Zwischen 1820 und 1858 verringerte sich die Zahl der ritterschaftlichen Bauern weiter von 1434 auf 1333. Mecklenburg blieb fürs Erste das Land der „Normaljunker“. Selbst die Prügelstrafe feierte nach dem 48er Jahr ihre Auferstehung. Noch 1846 sagten etliche „Ritter“ der Stadt Hagenow regelrecht Fehde an; ein v. Ahrenstorff überfiel nach alter Raubritterart Mirow, weil dessen Bürger einen seiner Reitknechte angehalten hatten, und ein Plan wie der Friedrich Pogges auf Zierstorf, durch die Abhaltung von Bauernversammlungen die Masse der mecklenburgischen Landbevölkerung mit den wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Zeit bekannt zu machen, erregte im Landtag bei den Herren im roten Frack, den adeligen Gutsbesitzern, nur Gelächter.
Dafür schlugen unbekannte Täter 1828 einen Plessen auf Nepersdorf im Bette buchstäblich mit Knüppeln tot. Der unmenschliche Gutsbesitzer Haberlandt wurde 1838 von seinen Tagelöhnern mit Scheren, Messern und Nadeln langsam zu Tode gefoltert. Im Revolutionsjahr von 1848 entlud sich der Haß des gequälten Landvolkes in mannigfacher Weise. In Torgelow ward das Schloß des Herrn v. Behr-Negendanck niedergebrannt, der Besitzer von Alt-Sührkow, Lembke, das Vorbild für Fritz Reuters „Pomuchelskopp“, mußte sein Gut verlassen. Und noch 1868 führten Tagelöhner den imbeliebten Gräfl. Hahn’schen Pächter in Dem-zin gewaltsam nach Malchin vor Gericht.
Solche Akte waren Ausbrüche einer wilden Verzweiflung. Zumeist aber äußerte sich die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen in anderer, noch weit verhängnisvollerer Weise. Das Problem der Landflucht taucht jetzt in seinem ganzen furchtbaren und tödlichen Ernst auf. Ohne Zweifel handelte es sich zum Teil um eine Folgeerscheinung der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung. Um die Jahrhundertmitte entstand beim Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat ein starker Bedarf an industriellen Arbeitskräften. Für dessen Deckung bildeten die rein agrarischen, bevölkerungspolitisch meist leistungsfähigen Gebiete gewissermaßen das naturgegebene Reservoir, zumal die Landwirtschaft sich gegenüber der Industrie bei dem Kampf um die Arbeitskräfte, was die Löhne anbelangte, stets im Nachteil befand. Aber in Mecklenburg erhielt das Problem doch noch ein besonderes Gewicht erst durch die soziale Schuld der Vergangenheit. Die ungesunde Verteilung des Bodenbesitzes und der soziale Unverstand mancher Großgrundbesitzer trugen nun, wo die Industrie dem armen Tagelöhner bessere Lebens- und Verdienstmöglichkeiten zu bieten schien, Früchte, die sich wider die Nutznießer dieser Mißstände selbst kehrten. Die oftmals menschenunwürdigen, halbzerfallenen und windschiefen Lehmkaten der ländlichen Arbeiter, die weit schlechter untergebracht waren als das Vieh ihres Herren, die meist völlig im argen liegenden Schulverhältnisse, das Fehlen auch der elementarsten Bil-dungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten bewirkten bei jenem Teil der Landbevölkerung, der noch Tatenlust und Unternehmungsgeist besaß, eine massenweise Abwanderung in die Städte. Während im Domanium die Bevölkerung in den Jahren von 1819 bis 1851 um 65 000 Köpfe zunahm und dieser Zahl nur eine Abnahme von 14 000 Köpfen gegenüberstand, gehörte die Ritterschaft bald zu den am dünnsten bevölkerten Gebieten ganz Deutschlands. 1851 lebten hier 150511 Menschen, 1890: 127 636, 1905: 125 732. Am deutlichsten kam diese Entwicklung in der ständigen Abnahme der Zahl der Landarbeiter zum Ausdruck. 1907 zählte man deren noch 107 847, 1925 nurmehr 97 706. Weltkrieg und Inflation hatten nur ein vorübergehendes Nachlassen aus Ernährungsrücksichten gezeitigt. Insgesamt wanderten in den Jahren zwischen 1871 imd 1900 80 000 Menschen vom Lande in die heimischen Städte und 120 000 in die Fremde. Dabei betrug die Gesamteinwohnerzahl Mecklenburgs im Jahre 1871 360 000 Menschen! Und diese Frage ward um so brennender, als infolge des steigenden Anbaues von Hackfrüchten gleichzeitig sich ein erhöhter Bedarf an landwirtschaftlichen Arbeitskräften bemerkbar machte, der nun durch das zweischneidige Hilfsmittel land- und bald auch volksfremder Wanderarbeiter gedeckt werden mußte.
Ganz eindeutig trat dabei immer wieder zutage, daß das gesamte Problem im Grunde eine Frage der Wohnung und damit der allgemeinen kulturellen Lebensbedingungen war. Einzelne erfreuliche Ausnahmen, Begüterungen wie das dem Kammerherrn Graf Bassewitz gehörige Lühburg oder das Blüchersche Jürgenstorf oder die Sloman’sche Besitzung Bellin bestätigten nur diese Behauptung. Denn die hier gezeigte Einsicht war nicht die Regel. So weitete sich denn angesichts des seit 1815 sich ständig mehrenden Bevölkerungsüberschusses die Landflucht vielfach zur Auswanderung nach Ubersee ans. John Brinckman verfaßte dagegen im Aufträge des Patriotischen Vereins seine „Fastelabendpredigt för Jehann, de nah Amerika führt will“, die in 10 000 Exemplaren im ganzen Lande verbreitet wurde. Aber des Dichters mahnendes „Jehann bliew hier, bliew hier Jehann“ nutzte nicht viel, um so mehr als dieser an anderer Stelle mit den bitteren Versen:
„Sie weigern mir den eigenen Herd Sie haben immer recht . . . .“ selbst die tiefere Ursache dieser neuen Völkerwanderung geißelte. Kein Geringerer als Fritz Reuter lieh in dem Versdrama „Kein Hüsung“ dem gleichen Problem ebenfalls erschütternden Ausdruck. So verlor Mecklenburg zwischen 1871 und 1914 ein volles Siebentel seiner Bevölkerung. In einzelnen besonders krassen Fällen wie in Kowalz bei dem als Reaktionär verschrienen Landrat Josias v. Plüskow verlangte die gesamte Gefolgschaft des Gutes den Auswanderungsschein. Einen Großteil der Auswanderer nahmen Nord-und Südamerika auf. Ihre Spur verlor sich zumeist rasch wie die jener Obdach- imd Erwerbslosen, welche man aus dem Landesarbeitshaus in Güstrow und den städtischen Asylen holte, um sie als Kolonisten und Soldaten nach dem damaligen Kaiserreich Brasilien zu verschicken, wo sie sich, zu deutschen Fremdenbataillonen zusammengestellt, im Kriege gegen Argentinien verbluteten. Und diese Auswanderer bildeten noch eine Ausnahme, denn in der Regel waren es die Tüchtigsten und Besten, die sich in die bestehenden engen Verhältnisse nicht schicken mochten und der Heimat den Rücken kehrten.
Einzig im Domanium unternahm man während dieser Periode der allmählichen Industrialisierung einen ernsthaften Versuch, den Abfluß wertvoller Bevölkerungsteile zu verhindern. 1846, unter der Regierung des Großherzogs Friedrich Franz II. (1842—1883), schuf man hier den Begriff des Häuslers, um der untersten Schicht der auf dem Lande lebenden Bevölkerung, den sogenannten Einliegern, und den Tagelöhnern die Möglichkeit zu geben, sich einen eigenen kleinen Besitz zu schaffen und sie auf diese Weise vor der Abwanderung in die Großstädte zu bewahren. Diese neue Form der Häuslersiedlung, mit der Mecklenburg allen anderen deutschen Ländern voranging, war volkswirtschaftlich gesehen äußerst bedeutsam, da sie eine wichtige soziale Aufstiegsmöglichkeit darstellte. Indem sie die Liebe zur eigenen Scholle weckte, erhielt sie beträchtliche Mengen von tüchtigen Landarbeitersöhnen und landlosen Bauernsöhnen dem Lande. Und in diesen Rahmen gehört auch die zweite Großtat der Regierungszeit Friedrich Franz II., die Durchführung der Vererbfachtung für sämtliche Domanialbauern in den Jahren von 1865 bis 1875. Angeregt bereits 1773 durch eine Denkschrift Herzog Friedrich des Frommen und 1805 durch den Schwaaner Amtshauptmann Manecke, bewirkte diese Maßnahme jetzt endlich wieder die feste Verknüpfung des Bauern mit seiner Scholle und weckte damit in ihm wieder den Besitzerstolz seiner Ahnen, so daß man ihre Bedeutung nicht hoch genug veranschlagen kann.
Unterdes hatte längst, während diese Fragen die Allgemeinheit der Landwirte bewegten, jener Mann in Mecklenburg seine Wirksamkeit begonnen, der als echter Revolutionär der gesamten deutschen Landwirtschaft den Weg zu völlig neuen Lebens- und Wirtschaftsformen wies. 1810 hatte Johann Heinrich v. Thünen (1783—1850), einer der Klassiker der deutschen Volkswirtschaft, der Sohn einer ostfriesischen Adelsfamilie, das Gut Tellow bei Laage erworben. Für die Landwirtschaft ward er einer der größten Reformatoren aller Zeiten, gleich groß als Organisator wie als Volkswirt, als umfassend gebildeter Gelehrter wie als gütiger, hilfreicher und sozialdenkender Mensch. Tellow entwickelte sich rasch nicht nur zu einer Musterwirtschaft, sondern wurde auch für Jahrzehnte die großartigste Versuchsstation für sämtliche landwirtschaftlichen Betriebsfragen. Studierende aus aller Herren Ländern, Russen, Franzosen, Griechen, Engländer suchten das Gut auf. Thünen wurde zum Wegweiser der Intensitätslehre in der Landwirtschaft und damit zum Vater jeglichen modernen Landbaues. Sein Hauptwerk „Der isolierte Staat“ wurde zum Standardwerk jeder betriebswissenschaftlichen Forschung. Dabei erwies er sich durch seine von geradezu sozialistischem Geist getragene Einstellung gegenüber seiner Gefolgschaft als erster typisch deutscher Sozialökonom. Als einer der ersten erkannte er die grundlegende nationale Bedeutung einer gerechten Lösung der Arbeiterfrage. In seinem eigenen Betriebe führte er ein soziales Sparsystem ein. Sämtliche Gefolgschaftsmitglieder wurden nach ihren Arbeitsleistungen an den Erträgen des Gutes beteiligt, gemäß seiner Lehre vom „natürlichen Arbeitslohn“, welche besagte, daß bei steigendem Arbeitsertrag auch der Lohn zu steigen habe.
Alle diese Ideen eilten freilich der Zeit weit vorauf. In geistiger Hinsicht wurde Thünens Lebenswerk zunächst nicht fortgeführt, wenn auch vor dem Weltkriege der jüdische Volkswirtschaftler Professor Richard Ehrenberg in Rostock sich der Thünenschen Gedanken zu bemächtigen suchte. Aus diesem Umkreis gingen die betriebswissenschaftliche Vereinigung mecklenburgischer Landwirte sowie 1907 die Kommission für Landarbeit und Kleinbesitz hervor, ferner der Verein für ländliche Wohlfahrtspflege, dessen Hauptbetreuer, ökonomierat Dr. h. c. Seemann-Breesen infolge seiner liberalistischen Grundhaltung freilich eine recht umstrittene Persönlichkeit war. Ebenso eine Schriftenreihe über Fragen der Wirtschaftsforschung, das Thünenarchiv. Ihre Untersuchungen sind auch heute noch von großem Wert, denn Ehrenberg selbst setzte hier vielfach nur seinen Namen vor die Arbeiten einer Reihe der besten Köpfe der damaligen mecklenburgischen Landwirtschaft, darunter Männer wie Dr. Friedrich Dettweiler und Domänenrat Brödermann-Knegendorf.
Um so stärkere Beachtung verdient neben diesen theoretischen Betrachtungen der Versuch, den Anton v. Blücher (1843—1917) auf Jürgenstorf bei Stavenhagen zur Verwirklichung der Thünenschen Gedanken machte. Nach der Übernahme des Gutes im Jahre 1869 beteiligte er nach dem Beispiel Thünens, wie es damals dessen Sohn in Tellow fortführte, sämtliche Arbeiter und Angestellten am Gewinn des Gutes, indem ihre Anteile in Sparkassenbüchern angelegt wurden. Gegebenenfalls vermochten diese sogar zu Eigenbesitz zu gelangen. Dieses Verfahren bewährte sich jahrzehntelang vortrefflich, so daß 1917 heim Tode des alten Blücher der Sohn, Friedrich v. Blücher, es übernahm, obwohl es dem Wirtschaftsdenken der Zeit weit vorauseilte. Erst durch die Inflation erfolgte der Zusammenbruch unter wüsten Ausschreitungen der um ihr Geld gekommenen und von Kommunisten aufgehetzten Landarbeiter. Daß aber der Gedanke fortlebte, bewies die Wiederaufnahme ähnlicher Bestrebungen durch den Besitzer von Hof-Malchow (dem heutigen N.S. Musterbetrieb), Burgwedel, im Jahre 1926. Und im Geiste Thünens, der von Anbeginn an für eine gesunde Siedlungspolitik eingetreten war, handelte auch ein Mann wie Adolf v. d. Lühe auf Rohlstorf, Hornstorf und Kalsow, als er nach dem Weltkriege seine Güter zu Siedlungs-zwecken zur Verfügung stellte und als einer der ersten mecklenburgischen Nationalsozialisten sein Vermögen für Deutschlands Wiederaufbau gab.
Die Gestalt Thünens steht in der Mitte jener Reihe bedeutender Männer, die im 19. Jahrhundert das Antlitz der modernen mecklenburgischen Landwirtschaft prägten. Sie beginnt mit Lorenz Karsten und schließt ab mit dem Professor für Landwirtschaft an der Universität Rostock A r m i n Grafen zur Lippe-Weißenfeld (1825—1899). Geboren zu Oberlößnitz bei Dresden, hatte dieser die Landwirtschaft erlernt und in Jena Land- und Volkswirtschaft studiert. Als Besitzer des Gutes Thum bei Dresden hatte er bereits in Sachsen an dem dort blühenden landwirtschaftlichen Vereinswesen lebhaften Anteil genommen und sich durch eine Reihe von Veröffentlichungen über landwirtschaftliche Buchführung und andere Berufsfragen einen geachteten Namen erworben. Als er daher 1872 einen Ruf als Professor für Landwirtschaft nach Rostock erhielt, faßte er hier sogleich den Plan, die selbständigen Bauern und die Erbpächter, also die große Masse der mecklenburgischen Landwirte, zu Vereinen zusammenzufassen, da er erkannte, daß nur durch die Schaffung einer Grundlage für eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit die Einführung wissenschaftlicher Betriebsmethoden und eine intensive Wirtschaftsführung zu erreichen waren. Der Patriotische Verein hatte es als Vertreter des Großgrundbesitzes niemals für notwendig befunden, sich auch die Betreuung der kleinen Landwirte angelegen sein zu lassen. Und der Gedanke der Bauernversammlungen Friedrich Pogges hatte vor 1848 angesichts der Junkerherrschaft nicht Wurzel fassen können. Erst spät war jetzt die Möglichkeit einer Sammlung aller Landwirte gegeben. Am 12, Dezember 1872 rief Graf Lippe in Warin die erste Vereinigung kleiner Landwirte ins Leben, der zwei Tage später die Gründung eines ähnlichen Vereins für Rostock und Umgegend folgte. Rund 80 weitere Vereine schlossen sich an diese Gründungen an, ein Zeichen, wie sehr diese einem längst empfundenen Bedürfnis entsprachen. Der Gedanke, der ihren Schöpfer leitete, war der, daß alle Mitglieder sich als Teile eines Großen Ganzen fühlen sollten, zu dessen Gedeihen der Einzelne nach Kräften beizutragen hatte. Die Mittel zur Verwirklichung dieses Strebens erblickte er vor allem in gegenseitigem Meinungsaustausch, öffentlichen Lehrvorträgen für Landwirte zur beruflichen Schulung und Leistungsschauen für alle betrieblichen Erzeugnisse. 1873 rief er auch eine Fachzeitschrift für Kleinlandwirte, das „Landwirtschaftliche Vereinsblatt“, ins Leben. Zwei Jahre darauf, 1875, brachte er eine Planung zur Ausführung, mit der sich der Patriotische Verein schon lange vergeblich beschäftigt hatte, die Schaffung einer landwirtschaftlichen Versuchsstation in Rostock.
Die Quertreibereien des Patriotischen Vereins, dem die neue Bewegung der Kleinlandwirte natürlich ein Dorn im Auge war, sowie gesundheitliche Rücksichten ließen ihn freilich seines Lebens in Rostock nicht froh werden und zwangen ihn dazu, 1879 der Stadt und Mecklenburg überhaupt für immer den Rücken zu kehren und sich auf sein schlesisches Gut zurückzuziehen. An der Table d’höte im Hotel de Russie in Rostock fertigte ein bekannter adeliger Großgrundbesitzer sein Schaffen mit der arroganten Bemerkung ab, ganz soviel Schaden, wie er es befürchtet habe, habe der Graf Lippe doch nicht angerichtet. Um so höher aber hielten seine Schüler und Verehrer unter den kleineren Landwirten sein Andenken. Aus seiner Schule ging eine Reihe der tüchtigsten mecklenburgischen Landwirte hervor. So vor allem der Rostocker Stadtgutspächter Ritter-Damerow, Lippes Nachfolger in der Führung des Landwirtschaftlichen Vereins; weiter der Hofbesitzer Beutin-Biestow, der als erster auf den Rat Graf Lippes im Rostocker Kreis in großem Maßstabe Kartoffeln anbaute. Ferner der Hofbesitzer Matthes in Broderstorf, der die erste Molkereigenossenschaft in Rostock gründete und damit zum Vater des mecklenburgischen Genossenschaftswesens wurde, und endlich der ökonomierat Ohloff -Kösterbeck, einer der Gründer der Rostocker Aktien -Zuckerfabrik, der 1910 als erster Bauer vom Großherzog wegen seiner hervorragenden Verdienste um die mecklenburgische Landwirtschaft zum ökonomierat ernannt wurde und nach dem Weltkriege Präsident der 1916 gegründeten mecklenburgischen Landwirtschaftskammer wurde.
Die Tätigkeit des Grafen zur Lippe, die landwirtschaftliche Versuchsstation sowie die gleichfalls auf Anregung des Grafen Lippe ins Leben gerufene landwirtschaftliche Fachschule in Rostock, das Thüneninstitut, bildeten die Grundlage für die Modernisierung der Betriebsführung innerhalb der heimischen Landwirtschaft. Das Hauptkennzeichen der ferneren Entwicklung wird jetzt die starke Vermehrung des Anbaues von Hackfrüchten und die steigende Verwendung von Maschinen. Auf Grund der ersten Tatsache vollzieht sich allmählich der Übergang von der Schlagwirtschaft zur reinen Fruchtwechselwirtschaft, der vollkommensten Form geregelter Bodenbewirtschaftung, die wir kennen, welche den regelmäßigen Wechsel zwischen samenerzeugenden und anderweitigen Nutzpflanzen zur Voraussetzung hat. Die Kartoffel hatte bereits der Rostocker Professor Peter Lauremberg (1585—1639) in seinem botanischen Garten angepflanzt. Ihre Kultur in größerem Umfange war durch einen mecklenburgischen Adeligen, der sie als Offizier eines im englischen Solde stehenden dänischen Regiments in Schottland kennengelernt hatte, zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufgekommen, während der feldmäßige Anbau auf das Jahr 1765 zurückgeht, wo der Gutspächter Pütt in Kl. Belitz die ersten Schläge mit Kartoffeln bestellte. Seit 1867 trat eine weitere neue Kultur hinzu, die der Zuckerrübe. 1875 gründet der Malchiner Stadtgutpächter Conrad Wilbrandt-Pisede, ein Bruder des berühmten Dichters Adolf Wilbrandt, in Dahmen am Malchiner See die erste Zuckerfabrik in Mecklenburg, nachdem bereits 1831 ein Versuch des Gutsbesitzers Röhl-Kölzow, auf seinem Gute im Fabrikbetriebe Zucker aus Rüben zu gewinnen, an der damaligen imvernünftigen Gewerbebeschränkung gescheitert war. Weitere Pioniere auf diesem Gebiet werden Anton v. Blücher-Jürgenstorf, der die Zuckerfabrik in Stavenhagen gründet und ökonomierat Ohloff-Kösterbeck.
Graf Lippe-Weißenfeld, der große Mentor aller mecklenburgischen Landwirte, ist auch als Begründer des rasch aufblühenden Molkereiwesens in Mecklenburg anzusehen. Auf seine Anregung hin stellte 1876 der Graf Schlieffen-Schüeffenberg sein bei Laiendorf gelegenes Gut Raden dem Schöpfer der modernen Molkereiwissenschaft, Professor Fleischmann, als Versuchs- und Forschungsstätte zur Verfügung. In der Folge entstand hier die erste Milchkontrollstation Deutschlands. Von noch größerer Bedeutung aber wurde die Tatsache, daß Graf Lippe 1875 den späteren Geheimen ökonomierat Professor Reinhold Heinrich (1845—1917) auf Grund seiner Arbeiten über Düngemittel als Leiter der .Landwirtschaftlichen Versuchsstation nach Rostock zog. Wenn auch der Lehrstuhl eines ordentlichen Professors der Landwirtschaft nach Lippes Fortgang einstweilen bezeichnenderweise nicht wieder besetzt wurde, so ward Professor Heinrich doch als Leiter der Versuchsstation dessen würdiger Nachfolger. Sein Hauptforschungsgebiet wurde die Pflanzenzucht. 1880 begann er den nach ihm benannten Prof.-Heinrich-Roggen zu züchten, eine Zucht, welche später ein bäuerlicher Besitzer aus Mönchhagen, Wilhelm Brandt, fortführte und als Domänenpächter in Toitenwinkel bei Rostock zur Hochzucht weiterentwickelte. Heute zählt Toitenwinkel, das einstige Stammgut der Ahnen Hellmut v. Moltkes, des gewaltigen Schlachtenlenkers, infolgedessen zu den bekanntesten Saatgutwirtschaften des Reiches. Neben Brandt-Toitenwinkel, der 1902 in Gemeinschaft mit Professor Heinrich eine Saatzuchtgenossenschaft ins Leben gerufen hatte, beschäftigte sich seit 1897 auch ein anderer führender Kopf der mecklenburgischen Landwirtschaft, Dr. h. c. Hans Lembke in Malchow auf Poel mit pflanzenzüchterischen Problemen. Aus einem alten bäuerlichen Geschlecht stammend, das seit dem Jahre 1600 auf Poel ansässig war, wurde er dank seiner Versuche mit der bislang nur in England betriebenen Gräserzucht zum Vater der deutschen Gräserzuchtwirtschaft. Und diese sowie andere Züchtungen von Raps, Rübsen.
Rotklee, Weizen und Kartoffeln reihten auch Malchow in die Zahl der bekanntesten deutschen Saatgutwirtschaften ein.
Die hohe Tradition der Versuchsstation führte als Nachfolger Professor Heinrichs Professor Franz Honcamp (1875—1934) fort, nächst dem Grafen Lippe unstreitig einer der bedeutendsten Förderer moderner Betriebsmethoden innerhalb der mecklenburgischen Landwirtschaft. Seine Untersuchungen galten vor allem der Düngungsweise und der Futtermittelfrage, und die von ihm aufgestellte Düngetabelle gilt noch heute als vorbildlich in ganz Deutschland.
Alle diese Männer wurden zu Pionieren nicht nur der heimischen sondern auch der gesamtdeutschen Landwirtschaft. Ihre Verdienste sind um so höher zu veranschlagen, als die Jahre von 1885 bis 1905 nach dem Hochstand der Getreidepreise i,n den 70er Jahren infolge der ausländischen Konkurrenz eine neue schwere Krise für die heimische Landwirtschaft brachten. Erst mit der Einführung von Schutzzöllen fand sie allmählich ihr Ende. Einer der Väter des Zollgedankens war der Führer der mecklenburgischen Landwirtschaft im Reichstage, Domänenrat Meno Rettich (1839—1918), der Sohn eines angesehenen Gutsbesitzers auf Rosenhagen bei Dassow und Bruder des bekannten Landschaftsmalers Karl Rettich. Als Hauptsekretär des Patriotischen Vereins galt er als eines der angesehensten Reichstagsmitglieder. Außer ihm, der bis 1893 auch das väterliche Gut Rosenhagen bewirtschaftete und dort eine berühmte Stammschäferei für Oxfordshire-Böcke anlegte, dem Saatzuchtforscher Professor Paul Hillmann(1867—1927) und dem bekannten Wirtschaftspolitiker Professor Heinrich Dade (1866—1923), der während des Weltkrieges als Generalsekretär des deutschen Landwirtschaftsrates einer der führenden Männer der deutschen Ernährungswirtschaft war, sind in diesen Jahren besonders noch zwei Männer zu nennen, die zu den Führern der mecklenburgischen Landwirtschaft zählten: Zum ersten der große Schafzüchter und Theoretiker Domänenrat Ernst August Brödermann in Knegendorf und zum zweiten Domänenrat Karl Pae-tow in Laiendorf. Vor allem der letztere wurde um 1900 zum Vorbild eines neuen Typus des mecklenburgischen Landwirts. Unter reichlicher Verwendung von Maschinen und leider auch von fremden Wanderarbeitern bewirtschaftete er seinen Besitz fast wie ein industrieller Unternehmer und verstand es auf diese Weise trotz der schlechten Zeiten für seine Erzeugnisse enorm hohe Absatzpreise zu erzielen.
Handelte es sich bei Karl Paetow noch um einen gebürtigen Mecklenburger aus alter Landfamilie, so verkörperte er doch schon gleichsam die nun aufkommende Generation der „Industrie-Gutsbesitzer“. Westdeutsche Industrielle wie die Thyssen und später der ölmagnat Sir Henry Deterding sowie die hamburgischen und bremischen Patrizierfamilien, die Sloman, Kulenkampff, Gildemeister begannen in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg in zunehmendem Maße mecklenburgischen Güterbesitz zu erwerben und vielfach nach den neuesten und rationellsten Methoden zu bewirtschaften. Ein Mann wie Sloman-Bellin erwarb sich durch sein soziales Verantwortungsgefühl, das ihn als erstes den Bau gesunder menschenwürdiger Landarbeiterwohnungen betreiben ließ, einen bleibenden Platz in der Geschichte der mecklenburgischen Landwirtschaft. Und ein anderer dieser Männer, Gildemeister-Dummerstorf, ist aufs engste mit der Entwicklung der heimischen Tierzucht verknüpft. Gemeinsam mit dem ersten mecklenburgischen Landestierzuchtinspektor, Dr. Friedrich Dettweiler, begann er planmäßig deren Verbesserung in Angriff zu nehmen. Durch die Kreuzung südamerikanischer Schafe, welche er von seinen brasilianischen Besitzungen einführte, mit heimischen Schlägen züchtete er in Dummerstorf ein wetterfestes Schaf von hervorragender Qualität. Auch die Schweinezucht erfuhr durch die Zucht des sogenannten „Lockenschweins“ einen grundlegenden Auftrieb. Und weiterhin wurde Dr. Dettweiler der Schöpfer des schwarzweißen mecklenburgischen Herdbuchviehes und somit der Neubegründer der mecklenburgischen Rinderzucht, die bislang stets das Stiefkind der heimischen Landwirtschaft gewesen war. 1920 von Kommunisten als aufrechter und national denkender Mann furchtbar mißhandelt, verließ er Deutschland und ging anfangs nach Bulgarien, wo er das sogenannte Balkanrind züchtete und später nach Kleinasien, wo er zum Reformator der türkischen Viehzucht wurde. Dank seinem Wirken aber wurde Dummerstorf zu einer der hervorragendsten Heimstätten der deutschen Tierzucht, so daß Mecklenburg nicht nur zwei der bekanntesten Saatgutwirtschaften birgt, sondern auch in Gestalt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für Tierzuchtforschung, der heutigen Besitzerin von Dummerstorf, die hervorragendste tierzüchterische Forschungsstätte.
Diese Entwicklung leitet bereits hinüber in die Jahre nach dem Weltkrieg, bis zur Machtübernahme im Jahre 1933 vielleicht die trübste und schwerste Zeit, welche die mecklenburgische Landwirtschaft jemals erlebt hat. Wohl wurde jetzt bereits die Korrektur des ungesunden Besitzstandes der Vergangenheit in Angriff genommen. 34 Domänen und 76 ritterschaftliche Landgüter wurden bis 1932 auf geteilt, zumeist solche Betriebe, die der Schuldenlast der furchtbaren Wirtschaftskrise zum Opfer gefallen waren. Aber die Siedler, die hier angesetzt wurden, waren vielfach schlecht gewählt und untauglich, die Absatzkrise sowie die Reparationen verhinderten jeglichen Aufstieg und das Grundproblem der Landflucht, der Bau von Arbeiterwohnungen und die allgemeine kulturelle und soziale Förderung der landarbeitenden Schichten wurde überhaupt nicht in Angriff genommen, da es den marxistischen Regierungsgewaltigen und Gewerkschaftsbonzen gar nicht darauf ankam, wirkliche Zufriedenheit und einen beständigen Arbeitsfrieden zu erzeugen, so daß die Lösung all dieser schwierigen Fragen dem Nationalsozialismus Vorbehalten blieb.
Mecklenburg – Universität und geistiges Leben
Dem soeben geschilderten wirtschaftlichen Wiederaufstieg während des 19. Jahrhunderts parallel laufend entfaltete sich auch auf anderen Gebieten ein neues Leben, das sich vor allem in der Neublüte der Universität spiegelte. Die Grundlage dafür bildete zunächst die Wiedervereinigung der Bützower mit der Rostocker Hochschule im Jahre 1789. Doch der eigentliche Aufschwung war das Verdienst eines einzelnen Mannes von seltener Bildung des Herzens wie des Geistes, des Vizekanzlers Karl Friedrich v. Both (1789—1875), eines der besten und hervorragendsten Vertreter des mecklenburgischen Adels überhaupt. 1820 auf Grund der Karlsbader Beschlüsse vom Großherzog zum Regierungsbevollmähtigten der Universität ernannt, sollte seine Aufgabe darin bestehen, die freiheitlichen Gelüste innerhalb der studentischen Jugend auszurotten. Er selbst freilich sah seine Aufgabe weit weniger darin, den Polizeiherrn zu spielen als vielmehr der arg darniederliegenden Hochschule zu neuem Leben zu verhelfen und der studierenden Jugend ein väterlicher Freund und Beschützer zu sein. Ohne Zweifel war es nur ihm zu verdanken, daß die Universität überhaupt bestehen blieb, da er als einziger den Plänen des Schweriner Ministeriums, diese in eine landwirtschaftliche und polytechnische Fachschule umzuwandeln, wirksam entgegentrat. Unter seiner Aegide vollzog sich 1827 auch die Aufhebung der teilweise städtischen Universität und die Überführung sämtlicher Professoren in den Staatsdienst. Dank ihm wurde ein regelrechter Etat aufgestellt und die Universitätsstatuten in eine neue Fassung gebracht. Am deutlichsten kam nach außen der Aufschwung des Hochschullebens in der ständig steigenden Studentenzahl zum Ausdruck. Nachdem das Jahr 1833 mit nur 70 Studenten einen Tiefstand gebracht hatte, der nur noch von den schlimmsten Zeiten der Bützower Spaltung übertroffen wurde, zählte man 1864 wieder 150 Studierende, 1900: 514, 1914: 1098 und 1919 nach dem Weltkrieg 2050.
Unter den Gelehrten finden sich jetzt wieder wie im 16. und 17. Jahrhundert eine Fülle glänzender Erscheinungen des deutschen Geisteslebens. Schon am Beginn des Jahrhunderts zieren drei bedeutende Köpfe die Universität, der Botaniker Heinrich Friedrich Link (1767— 1851), der in Rostock eine Naturaliensammlung anlegte und eine Reihe von Grundlehren über die Anatomie und Physiologie der Pflanzen auf stellte; der Philosoph Jakob Sigismund Beck (1761—1840), ein Schüler Kants und der Jurist Rudolf v. Jhering (1818—1892), einer der einflußreichsten deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts und einer der Gründer der jüngeren Historischen Rechtsschule, die den praktischen Endzweck aller Rechtswissenschaft wieder betonte. Kurze Jahre lehrte in Rostock auch ein anderer höchst bedeutsamer und vielseitiger Mann, der Arzt, Philologe, Journalist, Reiseschriftsteller und Volkswirtschaftler Victor Aimee Huber (1800—1869), der als der Be-gründer der modernen Sozialreform anzusehen ist. Als einer der ersten erhob er in Deutschland seine Stimme gegen die unwürdige Lage der arbeitenden Schichten des Volkes und forderte den Bau gesunder Arbeiterwohnungen und die Schaffung von Arbeitersiedlungen. Weiter sei in diesem Zusammenhänge des Rechtshistorikers Hugo Böhlau (1833 —1887), des Germanisten und Romanisten Karl Bartsch (1832—1888), des Mathematikers Hermann Karsten (1809—1877), eines Enkels Lorenz Karstens, des Musikforschers Hermann Kretzschmar (1848—1924), der in Rostock das erste musikwissenschaftliche Universitätsinstitut ins Leben rief, und des Geologen Eugen Geinitz (1854—1925) gedacht. Endlich noch zweier heute noch unter uns Weilenden, des bekannten Chemikers Paul Waiden (geh. 1863), des einstigen Direktors des Chemischen Laboratoriums der Kaiserlich Russischen Akademie der Wissenschaften in Petersburg, dessen Untersuchungen auf den Gebieten der Stereochemie, Elektrochemie und Entwicklungsgeschichte der Chemie ihm Weltruf verschafften und des berühmten Germanisten und Wagnerforschers Geheimrat Wolfgang Golther (geh. 1863).
Am größten aber ist die Zahl der bedeutenden Ärzte, der hohen Tradition der medizinischen Fakultät entsprechend. Um 1800 besitzt Mecklenburg in Dr. Samuel Gottlieb Vogel (1750—1837) einen der bedeutendsten Kliniker der Zeit, einen zweiten Hufeland. Auf ihn geht die Gründung des Seebades Doberan—Heiligendamm im Jahre 1793 zurück, des ersten Seebades in Deutschland überhaupt. Für Jahrzehnte ward es rasch zu einem der Treffpunkte der großen Welt ganz1 Europas, berühmt durch seine Bäder so gut wie seine Pferderennen, seine Spielbank und das vorzügliche Theater, an dem die ersten Künstler der Zeit auftraten, die Sängerin Madame Catalani, die Tänzerin Maria Taglioni und der Schauspieler Ludwig Devrient.
Die Reihe der großen medizinischen Forscher eröffnet der Anatom und Chirurg Carl Friedrich Quittenbaum (1793—1852), der sich als überaus kühner Operateur einen Namen machte und dem 1836 nach mühsamen Tierversuchen zum ersten Male die Entfernung der Milz beim Menschen gelang. Dank der Unterstützung des Vizekanzlers v. Both wurde nunmehr die Gründung zahlreicher neuer Universitätsinstitute möglich. Der Mecklenburger Johann Strempel (1800—1872) sorgte für die Einführung regelrechten klinischen Unterrichts am Krankenbett. Der berühmte Physiologe Hermann Stannius (1808—1883), ein gebürtiger Hamburger, dessen Stannius’scher Versuch grundlegend für unsere Kenntnis von der Funktion des Herzens geworden ist, begründete in Rostock eines der ersten physiologischen Institute in Deutschland und das erste zootomisch-physiologische Institut, in dem Vivisektionen vorgenommen wurden, überhaupt. Unstreitig gehört er zu den bedeutendsten Mitbegründern der neueren Medizin. Um so tragischer wirkt sein Lebensende, da er in geistige Umnachtung verfiel und die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens in einer Irrenanstalt verbrachte. Als Chirurg wurde Gustav Simon (1824—1876) fast noch berühmter als Quittenbaum. Als erster führte er eine große Zahl besonders schwieriger Operationen aus, nahm zum ersten Mal beim Menschen die Entfernung der Niere vor und wirkte überhaupt bahnbrechend auf dem Gebiet der Nierenchirurgie.
Es folgen weiter die Anatomen Friedrich Merkel, Albert Thierfelder, Dietrich Barfurth und Gustav Schwalbe, bekannt als führender Anthropologe sowohl wie durch sein mannhaftes Sterben in Deutschlands düstersten Tagen. Ferner Chirurgen wie Trendelenburg und endlich die großen Kliniker, voran der Geheime Obermedizinalrat Professor Dr. Theodor Thierfelder (1824—1904)-, der ältere Bruder Albert Thierfelders, dessen Name der Universität neuen Glanz lieh, und sein Nachfolger Friedrich Martius (1850—1923), der als einer der ersten den maßgebenden Einfluß der Erblichkeit auf alles biologische Geschehen vertritt und ein ärztlicher Denker großen Stiles wird. Im Institutswesen bleibt Rostock auch weiterhin führend. Otto Körner (1858—1935), dessen Untersuchungen über den Einfluß von Erkrankungen der Gehörorgane auf das Gehirn Weltruf erlangen, richtet 1899 die erste neuzeitliche Klinik für Ohren- und Kehlkopfkrank-heiten in Rostock ein, Johannes Reinmöller zu Beginn des 20. Jahrhunderts die erste Klinik für Mund- und Zahnkrankheiten mit eigener Krankenstation in Deutschland. Und in diesem Zusammenhang sei auch noch einer anderen Großtat gedacht, der für ganz Deutschland vorbildlichen Neuordnung des Taubstummenwesens durch Professor Lemcke.
Wie aus der Fülle der Rostocker Gelehrten nur die bedeutendsten Namen genannt werden konnten, so gilt das noch mehr für jene Männer, die sich als Forscher in der Fremde Ruhm erwarben. Als erste gehören in diese Reihe zwei Mitglieder der Gelehrtenfamilie Karsten: Karl Karsten (1782—1853), ein Sohn Lorenz Karstens, der als Oberbergrat in preußischen Diensten der Regründer der schlesischen Zinldndustrie wie der wissenschaftlichen Metallurgie überhaupt wird, und Dietrich Karsten (1768 —1810), ein Neffe Lorenz Karstens, welcher als Mineraloge die Grundlagen für die allgemeine und vergleichende Geognosie lieferte. Nach Ubersee, und zwar nach dem fernen Australien verschlug das Schicksal einen anderen berühmten Rostocker, Sir Ferdinand von Mueller (1825—1896), den Sohn eines armen Strandvogtes vom Mönchentor. In Kiel zum Botaniker ausgebildet, erwarb er sich als Erforscher der australischen Pflanzenwelt Weltruhm. Der König von Württemberg erhob ihn zum Baron, die Königin Viktoria von England zum Knight (Ritter). Ein Fluß in Queensland, eine Bergkette in Neu-Guinea und ein Gletscher in Neuseeland tragen noch heute seinen Namen. Rostocker- Kind, der Sohn eines Rechtsanwaltes, war auch der bedeutende Kirchenrechtslehrer Rudolf Sohm (1841 —1917), ferner der große Physiologe Albrecht Kos-sel (1853—1927), der 1910 für seine Eiweißforschungen den Nobelpreis für Medizin erhielt. Sein Vater Konsul Albrecht Kossel rechnete als Schiffsreeder und später als Direktor der Rostocker Bank unter die Führer des mecklenburgischen wirtschaftlichen Lebens. Aus Lübtheen, wo er als Sohn armer Müllersleute das Licht der Welt erblickt hatte, stammte der weltberühmte Händelforscher Friedrich Chrysander (1826—1901), der Pionier aller modernen Musikwissenschaft. Aus Wismar kommt Friedrich Christian Dahlmann (1785—1860), der berühmte Göttinger Historiker und liberale Politiker der Revolution von 1848. Endlich gehört hierher der bekannteste und unvergeßlichste von allen, Heinrich Schliemann (1822 —1890), der Erforscher der Stätten der Ilias und einer der größten deutschen Archäologen aller Zeiten, dessen Lebenswerk, von Emil Ludwig (Cohn) verzerrt und mißdeutet, erst heute dank nationalsozialistischer Forschungsarbeit die ihm gebührende Würdigung erfährt.
Diesem Reichtum entsprach auch das sich reich entfaltende literarische Leben der Zeit. In Fritz Reuter (1810—1874) schenkte Mecklenburg dem deutschen Volke seinen größten Humoristen. Er schilderte in seinen Werken das Wertvollste, was das Land besaß, sein niederdeutsches Menschentum mit seiner still verhaltenen Art und prägte für das Reich die Vorstellung vom Mecklenburger. Neben Reuter war der Rostocker Kapitänssohn John Brinclern an (1814—1870) der hervorragendste Vertreter der niederdeutschen Bewegung. 1855 erschien sein misterblich gewordener „Kasper Ohm un ick“, der beste plattdeutsche Roman. In „Vagei Grip“, seinem reifsten Werk, lieh er dem Sinnen und Trachten des mecklenburgischen Landvolkes Ausdruck und verkündete von neuem Mecklenburgs Sendung als altes deutsches Bauernland.
Lag der Schwerpunkt des literarischen Schaffens, das außer Reuter und Brinckman vor allem durch die Namen des plattdeutschen Dramatikers Fritz Stavenhagen (1876—1906) und des Rostocker Dichters Felix Stillfried (d. i. Adolf Brandt, 1851—1910) gekennzeichnet wurde, der Eigenart des mecklenburgischen Menschen entsprechend somit auf niederdeutschem Gebiet, so fehlte es doch auch der hochdeutschen Sprache nicht an bedeutsamen Vertretern. Ida Gräfin Hahn-Hahn (1805—1880),eine Tochter des durch seine Theaterleidenschaft bekannten Grafen Karl Hahn-Neuhaus, erwarb sich mit ihren Romanen als Schilderin des aristokratischen Lebens einen heute freilich verblichenen Ruhm. Ein Aristokrat im besten Sinne des Wortes war der mecklenburgische DiplomatAdolfFried-rich Graf Schack (1815—1894), bekannt durch seine Übersetzung des persischen Dichters Firdusi wie durch seine Arbeiten über die Geschichte der Araber in Spanien und seine Übertragungen aus den Schätzen der altindischen Literatur. München verdankt ihm zudem eine große Gemäldegalerie, und als Mäzen bekannter Maler wie Spitzweg, Böcklin, Lenbach, Schwind, Marees und Feuerbach rechnet er zu den bedeutendsten Förderern des deutschen Kunstlebens. Deutschen Ruf als feinsinniger Schilderer mecklenburgischer Landschaft und Menschen erwarb sich auch Heinrich Seidel (1842—1906). Johannes Gillhoff (1861—1930), später der erste Herausgeber der nach dem Weltkrieg begründeten „Mecklenburgischen Monatshefte“, gestaltete mit meisterhafter Hand in seinem „Jürn-jacob Swehn, der Amerikafahrer“ das alte Problem der mecklenburgischen Auswanderer. Den größten Ruhm aber errang der Rostocker Adolf Wilbrandt (1837—1911) als Leiter des Wiener Burgtheaters. Geboren als Sohn des Professors für neuere Literatur Christian Wilbrandt, eines der Führer der mecklenburgischen Liberalen im Revolutionsjahr von 1848, begann er als Biograph Heinrich v. Kleists und schrieb später zahlreiche Dramen, Romane und Novellen von außerordentlich starker Wirkung. Endlich muß an dieser Stelle noch Richard Wossidlos (1859—1939) gedacht werden, des bekannten Volkstumsforschers, der für Mecklenburg und darüber hinaus auch für andere Länder bahnbrechend auf diesem Gebiet gewirkt hat.
Auch die mecklenburgische Malerei erhielt im 19. Jahrhundert durch Künstler wie den Güstrower Georg Friedrich Kersting (1785—1847), einen Schüler Caspar David Friedrichs, Karl Rettich (1841—1904) und KarlMal-chin (1838—1923) ihr eigenes Gesicht. Vor allem Rettich und Malchin liehen dem Erlebnis der mecklenburgischen Landschaft mit ihrer herben Schönheit und verhaltenen Schwermut in ihren Schöpfungen wundervollen Ausdruck. Für die Schauspielkunst blieb das Schweriner Hoftheater, das vor allem durch den Großherzog Paul Friedrich (1837 —1842), den Urenkel Katharina d. Gr., eine großzügige Förderung erfuhr, wie im 18. Jahrhundert der Mittelpunkt. Unter Intendanten wie dem Komponisten Friedrich v. Flotow (1812—1883), dessen Opern „Martha“ und „Alessandro Stradella“ Weltruf erlangten, wurde es gewissermaßen zu einer nationalen Theaterakademie, zur Pflanzschule erstklassiger schauspielerischer Kräfte. Als eine der ersten deutschen Rühnen begann man hier schon früh sich für das Schaffen eines Richard Wagner einzusetzen. Opern wie „Tannhäuser“ erlebten liier in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts ihre ersten bahnbrechenden Erfolge, und der Intendant Baron Alfred v. Wolzogen gestaltete die Wagneraufführungen schließlich zu Festtagen aus, zu denen Sonderzüge aus Hamburg und Berlin Tausende von Wagnerverehrern nach Schwerin brachten. Des Meisters Wort, daß in Deutschland wahrhaftig produktiv nur der Winkel, nicht aber die Großstadt sei, gewann so seine schönste Bestätigung.
Mecklenburg – Schiffahrt und Industrie
Eng verknüpft mit der Landwirtschaft als dem Grundstock des mecklenburgischen Wirtschaftslebens sind Entwicklung, Blüte und Rückgang eines anderen Wirtschaftszweiges, der im 19. Jahrhundert zu den Glanzpunkten der heimischen Wirtschaft gehörte, der Segelschiffahrt. Mit dem Niedergang der Hanse, dem Schwedenzoll während des 30jährigen Krieges und dem Übergang der Seestadt Wismar in schwedischen Besitz hatte die mecklenburgische Schiffahrt eine fast hundert Jahre währende schwere Krise durchgemacht, die sie fast dem Erlöschen nahegebracht hatte. Allein die Lage der mecklenburgischen Seestädte im wirtschaftlichen Raum war so natürlich, daß selbst die schwierigsten Verhältnisse die von der Natur vorgezeichneten Entwicklungsrichtungen ihres Wirtschaftslebens nicht umzustoßen vermochten. Wismar freilich blieb infolge seiner Zugehörigkeit zu Schweden von dieser Entwicklung ausgeschlossen, um so stärker aber zeigte sich am Beispiel Rostocks und des benachbarten Fischlandes, wie der mecklenburgische Raum seine eigenen unabänderlichen wirtschaftlichen Gesetze besaß, zumal sich die Seestadt Rostock auch innerpolitisch eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Junkerregiment mit seinen törichten gewerblichen Beschränkungen zu wahren wußte.
Der neuerliche Aufschwung der Segelschiffahrt setzte ein, als infolge der Einführung der holsteinischen Koppelwirtschaft sich die Erträge der Landwirtschaft beständig steigerten, so daß sich ein regelmäßiger jährlicher Überschuß ergab, da das Wachstum der Bevölkerung als des natürlichen Verbrauchers keineswegs prozentual mit der Getreideerzeugung Schritt hielt. Die ersten, welche seit 1760 darangingen, aus dem notwendig werdenden Getreideexport ihren Nutzen zu ziehen, waren die Fischländer Schiffer, die alsbald den Getreidehandel mit Preußen, Holland, den skandinavischen Ländern und Rußland im Großen betrieben. Auch die Überschüsse der heimischen Obsternte vor allem an Äpfeln wurden jetzt regelmäßig nach Rußland exportiert, so daß beispielsweise eine Stadt wie Petersburg jahrzehntelang ihren Bedarf an Äpfeln aus Mecklenburg bezog. 1832 zählte die Fischländer Flotte 96 Schiffe, 1857 erreichte sie ihren Höchststand mit 220 Schiffen.
Die Form der Reederei war dabei wie auch in Rostock infolge der herkömmlichen Kapitalarmut des Landes die Partenreederei, d. h. die genossenschaftliche Vereinigung mehrerer Personen zum Bau und zur Infahrtsetzung eines Handelsschiffes. Nächst dem Kapitän war die wichtigste Person dabei der sogenannte Korrespondentreeder, zumeist ein Getreidegroßhändler, dem die geschäftliche Leitung des Unternehmens oblag. Rostock erlebte während der landwirtschaftlichen Hochkonjunktur am Ausgange des 18. Jahrhunderts den ersten Wiederaufstieg seiner Schiffahrt. Deren eigentliche Blütezeit aber begann erst nach den napoleoni-schen Kriegen und der Agrarkrise der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, und zwar merkwürdigerweise zü einem Zeitpunkt, als sich infolge des Aufkommens der Eisenbahnen die Absatzwege für den Getreideexport bereits zu verlagern begannen und das heimische Exportgeschäft zurückging. Die Folge war nicht etwa eine Verminderung der Schiffszahl, sondern die Loslösung der Schiffahrt vom Rostocker Hafen mit seiner letzten Endes doch stets engen Begrenzung. Es war, wie wenn ein lästiger Damm plötzlich gebrochen war. Das Weltmeer wurde jetzt für Jahrzehnte zum Tummelplatz der Schiffe mit der Greifenflagge, das Mittelmeer so gut wie die Gewässer Südamerikas, Chinas und Ostsibiriens. Es kam vor,, daß Rostocker Schiffe jahrelang nicht in ihren Heimathafen zurückkehrten. Die Hochzeit der Rostocker Segelschiffahrt begann.
Hatte die Rostocker Flotte als stärkste Ostseeflotte bereits im Jahre 1849 275 Schiffe gezählt, meist Briggs, Schoner und Barken mit einer Durchschnittsgröße von 250 tons, so stieg ihre Schiffszahl bis zum Jahre 1867 auf 394 Schiffe. Damit wurde sie die zweitstärkste Flotte Deutschlands überhaupt. In diesen Jahren erleben die großen Rostocker Segelschiffsreedereien, Firmen wie Ernst Brockelmann, Johann Neuendorff und Wilhelm Maack mit oft mehr als 30 Schiffen ihre schönste Entfaltung. Ihre schönen reichen Patrizierhäuser in der Koßfelder- und Mönchenstraße werden Axisdruck eines Zeitalters bürgerlicher Macht und Tüchtigkeit. Auch das Werftwesen nimmt einen gewaltigen Aufschwung. Zwischen 1849 und 1853 entstanden allein 9 neue Werften in Rostock. Rostocker Briggs und Barken galten lange Zeit bei den Seeleuten der ganzen Welt für vorbildlich. Der Krimkrieg, bei dem Rostocker Schiffe unbekümmert für beide kriegführenden Parteien fuhren, erbrachte hohe Gewinne, noch höhere Erträge erzielte die chinesische Küstenschiffahrt.
Freilich trug diese Entwicklung längst ihren Todeskeim in sich, da das Segelschiff keineswegs den technischen Fortschritten der Zeit entsprach und gegenüber dem aufkommenden Dampfschiff auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben konnte. Gewiß fehlte es nicht an Versuchen, sich dem Fortschritt anzupassen. Ein Rostocker Unter nehmen, die ehemals Tischbein’sche und heutige Neptunwerft, erbaute 1851 den ersten Schraubendampfer in Deutschland, und die Jahre zwischen 1847 und 1874 sahen mannigfache Ansätze zur Gründung von Dampfschiffahrtsgesellschaften. Doch nun erwies sich wieder die Armut des heimischen Kapitalmarktes als das stärkste Hindernis. Ein Dampfschiff hätte ein Kapital von 10 und mehr Segelschiffen erfordert, und zur Aufbringung derartiger Summen waren die einzelnen Partenreedereien nicht leistungsfällig genug, zumal auch die beschränkten Rostocker Hafenverhältnisse die Indienststellung großer Dampfer als höchst gewagt erscheinen ließen. Und der Versuch zur Zusammenfassung aller großen Segelschiffsreedereien zur gemeinsamen Gründung einer Dampfschiffahrtsgesellschaft erfolgte zu spät in einem Augenblick, in dem die meisten Reeder praktisch bereits bankrott waren und sich daher scheuten, ihre traurige und verzweifelte Lage offen darzulegen.
So erfolgte in den Jahren nach 1880 ein furchtbarer Zusammenbruch. Bereits Ende der 70er Jahre war die Reederei und Getreidegroßhandlung N. H. Witte mit 22 Schiffen zusammengebrochen. In den Jahren 1883 und 1884 verschwanden 14 kleinere Reedereien, bis 1888 kamen 9 weitere mit 52 Schiffen unter den Hammer. 1895 zählte die Rostocker Flotte noch 141 Schiffe, 1900 nur mehr noch 54! Die Folge war eine ungeheure Arbeitslosigkeit, so daß man seitens der Stadt Volksküchen zur Speisung der Erwerbslosen einrichten mußte. Erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich langsam der Wiederaufbau der Flotte nach modernen Grundsätzen. Die Reedereien F. W. Fischer, die 1900 bereits über 6 Schraubendampfer verfügt, August Cords und Otto Zelck werden die Schöpfer der neuen Rostocker Dampfer flotte. Bei Ausbruch des Weltkrieges fahren für Konsul Fischer wieder 22 Dampfer, für Konsul Zelck 15 Dampfer. Insgesamt zählte die Rostocker Flotte damals wieder 71 Dampfer, ein Zeichen für die zähe Bodenständigkeit dieses Wirtschaftszweiges. Der Weltkrieg und das Versailler Diktat schlugen ihr freilich neue schwere Wunden. 17 Dampfer fielen in Feindeshand, 3 wurden versenkt und 28 bei Kriegsende ausgeliefert oder verkauft. 1921 besaß Rostock noch 18 Schiffe. Doch die Pioniere der Rostocker Dampfschiffahrt, August Cords und Konsul Zelck gingen auch jetzt unverdrossen wieder an den Neuaufbau der Flotte. 1927 zählte diese wieder 46 Schiffe. Infolge der schweren Wirtschaftskrise, der auch eine Reederei wie die Zelck’sche zum Opfer fiel, erfolgte ein abermaliges Absinken auf 40 Schiffe, von denen viele auflagen, aber der Stern der ruhmreichen jahrhundertealten Rostocker Schifffahrt erlosch doch auch in diesen trüben Zeiten nicht vollständig, sondern bewahrte sich seine Lebenskraft für die nahe bessere Zukunft.
Hatte die Schiffahrt bei ihrer Entwicklung stets mit der Kapitalarmut des damals noch rein agrarischen Wirtschaftsraumes zu kämpfen gehabt, so galt dies in noch weit stärkerem Maße für die mecklenburgische Industrie. Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hhiaus fehlten in Mecklenburg für einen regen gewerblichen Aufschwung selbst die elementarsten Vorbedingungen. Das Verkehrswesen, Chausseen sowohl wie Eisenbahnen, stak dank dem Eigensinn der Ritterschaft, die das Land absichtlich in einem Dornröschenschlaf erhalten wollte und dem Anschluß des heimischen Verkehrsnetzes an die großen hamburgischen und preußischen Linien bewußt ablehnend gegenüberstand, noch in den Kinderschuhen. Zoll- wie Steuerverhältnisse waren völlig veraltet. Bis zum Beitritt Mecklenburg zum Zollverein im Jahre 1867 bestand das System der Binnenzölle noch fort, und das unvernünftige Verbot der Gewerbeausübung auf dem platten Lande stand jeglichem regem wirtschaftlichem Lehen hemmend im Wege. Auch das Kreditwesen war kaum entwickelt. Erst 1850 erfolgte auf Betreiben der Rostocker Kaufmannskompanie die Gründung der Rostocker Bank als erster regelrechter Notenbank, an die sich dann 1852, 1868 und 1871 Bankinstitute in Schwerin und Wismar anschlossen.
Um so mehr ist es zu bewundern, daß auf der Eigenständigkeit dieses Wirtschaftsraumes fußend, das gewerbliche Leben auch in den trübsten und dunkelsten Jahrhunderten mecklenburgischer Geschichte niemals völlig verkümmerte. Im Mittelalter hatten die auch heute noch blühende Ziegelindustrie, die Gerbereien, die aus dem Waldreichtum erwachsenden Glasbrennereien und Papiermühlen, die auf der Getreideerzeugung ruhende Brauindustrie, die berühmte, heute völlig verschwundene Rostocker Seilerindu-strie, sowie die auf den Wollreichtum der heimischen Schafherden sich gründende Tuchindustrie vorwiegend das gewerbliche Leben des Landes bestimmt. Das Kniesenacker Bier aus Güstrow erwarb sich in ganz Norddeutschland Berühmtheit, und Wismar, das im 15. Jahrhundert mein Brauhäuser als Lübeck zählte, führte sein Bier schließlich bis nach Frankreich, Holland, England und Ostindien aus.
Im Zeitalter des Feudalismus freilich verringerte sich, die gewerbliche Unternehmungslust beträchtlich. Was sich erhielt, war nur die Industrie, die unmittelbar mit der Landwirtschaft verknüpft war, und auf dieser Grundlage vollzog sich auch zunächst das Wiederaufleben gewerblicher Regsamkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts. In diesen Bereich gehören vor allem die Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen und Feldbahnen, Zucker-, Stärke-, Kartoffelflockenfabriken, Dampfmolkereien, Kornhrennereien, Flachsund Leinrösten. Besondere Bedeutung erhielt die seit 1890 in Waren emporblühende Dauermilchindustrie, deren Grundlage das gesunde, selten tuberkulöse mecklenburgische Rind bildete und deren Erzeugnisse bis nach Afrika, Ostasien und Indien gingen. Einen für ein Agrarland besonders wichtigen Gewerbezweig stellte auch die Wagenfett- und Maschinenölindustrie dar, welche der Rostocker Kommerzienrat Scheel in Mecklenburg einführte, sowie die Herstellung von Dachpappe, mit der sich seit 1842 die Riedel’sche Dachpappenfabrik in Rostock befaßte, das älteste Unternehmen dieser Art in Mecklenburg. Eine andere Industrie, die Parchimer Cichorienfabrik, verdankte der Kontinentalsperre ihre Entstehung.
Daneben entwickelten sich allmählich allen Hindernissen zum Trotz auf Grund der natürlichen Lage dieses Wirtschaftsraumes auch wieder selbständige Gewerbezweige. Schwerin wurde in den Jahren zwischen 1870 und 1914 bekannt für seine Korken- und Klavierfabrikation mit teilweise weltweitem Export bis nach Australien. Malchow erwarb sich durch seine Tuchindustrie den Ruf eines „mecklenburgischen Manchester“. Dömitz wurde für seine Plattenfabriken bekannt. In Rostock blühte nicht nur dem hohen Stand der Schiffahrt gemäß die Werftindustrie, sondern siedelte sich auch in der 1856 begründeten Firma Friedrich Witte eine bedeutende chemische und pharmazeutische Industrie an, gewissermaßen auf gewerblichem Gebiet die Trägerin der hohen naturwissenschaftlichen Tradition der alten Rostocker medizinischen Fakultät. Infolge der Tatsache, daß der große Bakteriologe Robert Koch das von der Firma hergestellte Witte-Pepton bei seinen Forschungen als Grundlage für die Schaffung von Nährböden für Bakterienkulturen benutzte, erlangten die Erzeugnisse des Unternehmens alsbald Weltruf.
Bedeutsamer noch aber wurde ein anderer Industriezweig, dem es zunächst für sein Aufblühen an allen naturgegebenen Bedingungen zu fehlen schien, da er hinsichtlich der zur Verarbeitung gelangenden Rohstoffe auf weit entlegene Gebiete des Reiches angewiesen war: die Eisen- und Stahlgießerei, deren Ursprung in Mecklenburg in dem Bedürfnis nach landwirtschaftlichen Maschinen zu suchen war. Ihr Begründer ist in Mecklenburg der Neubrandenburger Pastorensohn Dr. Ernst Alban (1791—1856), von Haus anfangs Theologe, dann Privatdozent für Augenheilkunde an der Universität Rostock, unstreitig der größte Pionier der mecklenburgischen Industrie überhaupt. 1830 legt er in Kl. Wehnendorf die erste Maschinenfabrik in Mecklenburg an, nachdem er vergeblich sich bemüht hatte, seine Erfindung einer Hochdruckdampfmaschine in England durchzusetzen. Vorwiegend befaßte er sich zunächst mit der Herstellung landwirtschaftlicher Maschinen, wobei er die Breit-säemaschine erfand. Später verlegte er den Sitz seines Werkes nach Plau, wo ihn von neuem der Bau von Dampfmaschinen, die Einführung einer direkt wirkenden Dampfpumpe und die Konstruktion von Wasserrohrkesseln mit Wasserkammern und Dampfsammlern beschäftigten, die das Vorbild vieler neuzeitlicher Röhrenkessel wurden. Eine von ihm für die Plauer städtische Tuchfabrik gelieferte 30pfer-dige Dampfmaschine galt für eine der leistungsfälligsten Maschinen der Zeit und hat heute im Deutschen Museum in München Aufstellung gefunden. Sein Werk über die Hochdruckdampfmaschine erregte selbst in Amerika Aufsehen, seine landwirtschaftlichen Maschinen fanden vor allem in Rußland so großen Absatz, daß sich schließlich Zar Nikolaus I. bemühte, ihn zur Übersiedlung nach Petersburg zu veranlassen.
Auf seinen Leistungen ruht im Grunde das Wirken aller anderen Vorkämpfer der jungen mecklenburgischen Stahlindustrie. Mit Alban zusammen arbeitete zeitweilig der Rostocker Bildhauer Anderssen, der 1836 in Güstrow eine Eisengießerei gründete, die Keimzelle der heutigen Güst-rower Stahlwerke. Und auf der Pionierarbeit eines Alban fußt in übertragenem Sinne schließlich auch die 1850 in Wismar von Schulze und Kalderack begründete Eisengießerei, welche 1879 in den Besitz des Kommerzienrates Heinrich Podeus überging, nächst Alban imzweifelhaft der bedeutendste mecklenburgische Industrieführer des 19. Jahrhunderts. Die Podeus’schen Unternehmungen, zu denen sich neben einer Holzbearbeitungsfabrik bald eine Reederei gesellte, welche als erste mittels großer Dampfer die Kohleneinfuhr aus England im großen Stile betrieb und seit 1894 ferner eine Waggonfabrik, die zeitweilig den Großteil des Waggonbedarfs der dänischen Staatseisenbahnen deckte, bezeichneten eine erste Blüteperiode des heimischen Großgewerbes. Kommerzienrat Podeus’ Söhne, die Vizekonsuln Heinrich und Paul Podeus, bauten die väterlichen Unternehmungen noch weiter aus. 1907 gliederten sie ihnen eine Automobilfabrik an, welche die ersten Raupenschlepper für landwirtschaftliche Zwecke in Deutschland und die ersten Motorpflüge anstelle der bisherigen Dampfpflüge baute und während des Weltkrieges unter die wichtigsten Erzeugungsstätten der deutschen Kraftfahrzeugindustrie rechnete. Auch in sozialer Hinsicht suchten die Brüder Podeus vorbildlich zu wirken, indem sie es bereits unternahmen, den Thünen’schen Gedanken der Gewinnbeteiligung in die Tat umzusetzen — ein Experiment, das freilich in krassem Widerspruch zu dem liberalistischen Wirtschaftsdenken der Zeit stand und deshalb schließlich im Verein mit der Inflation zum Zusammenbruch der gesamten Unternehmungen führte. Einzig die Waggonfabrik überdauerte unter anderer Firmenbezeichnung die Katastrophe und an ihrer Stelle siedelte sich später die Luftfahrtindustrie Wismars an.
Zäher als Podeus noch erwies sich trotz all der zahlreichen Fehlschläge ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte die Güstrower Stahlindustrie. Ausgangs des 19. Jahrhunderts richteten belgische Ingenieure hier nach dem neuen französischen Bessemerverfahren die erste Bessemerstahlgießerei auf deutschem Boden ein. Eigentlichen Aufschwung aber nahm das Unternehmen erst, als 1910 Richard van Tongel die Firma übernahm, der er 1918 auch die ehemals Kähler’sche Maschinenfabrik angliederte. Dieser Aufstieg ist um so mehr zu bewundern, als man vor dem Weltkrieg auf amtlicher Seite durchaus einer Industrialisierung Güstrows ablehnend gegenüberstand und in satter böotischer Selbstzufriedenheit dem alten van Tongel erklärte, man sähe es lieber, wenn an Stelle eines Industriellen von Unternehmungsgeist und neuen Plänen ein Rentier mit großem Vermögen sich in Güstrow niederlassen würde.
Wenn sich die van Tongelschen Stahlwerke trotzdem in schwieriger Zeit zu behaupten verstanden, so hatten sie das einmal ihren qualitativ hochstehenden Erzeugnissen zu verdanken, deren Absatzgebiet bis nach Nordamerika und Ostasien reichte, und zum anderen der Tatsache, daß der Weltkrieg endlich auch in Mecklenburg die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer nach neuzeitlichen Methoden arbeitenden Industrie weckte. Nach dem Weltkriege baute die Firma eine Zeitlang den Tongel-Rohölmotor, der Absatz in Deutschland, den Balkanländern und der Türkei fand, bis er gegenüber dem Dieselmotor zurücktrat. Später stellte sie sich auf Hohlguß um, und für das Jahr 1941 ist die Aufstellung einer Hochfrequenz-Ofenanlage geplant, die es ermöglichen soll, in noch größerem Maßstabe als bisher hochwertigen Guß für Sonderaufgaben zu liefern, vor allem für den Flugzeug- und Schiffbau, so daß sich auf diesem Gebiet die älteste und die jüngste Industrie Mecklenburgs vortrefflich ergänzen.
Dieser Ausblick leitet über zu Mecklenburgs jüngster und bedeutsamster Industrie: dem Flugzeugbau. Auch hier reichen die Wurzeln weiter zurück, als die meisten Menschen in unserer schnellebigen Zeit sich noch bewußt sind. Das Jahr 1913 ist nicht nur das Gründungsjahr der ersten mecklenburgischen Luftfahrtvereinigung, des Rostocker Aeroklubs, sondern in diesem Jahre begründete auch bereits der in Niederländiseh-Indien geborene, damals dreiundzwanzig-jährige Flugzeugkonstrukteur Antoni H. G. Fokker die erste Flugzeugfabrik auf mecklenburgischem Boden in Schwerin. Der Weltkrieg brachte für das Werk einen enormen Aufschwung, Schwerin wurde eine der Pflanzstätten der deutschen Luftfahrtindustrie, die besten Flieger Deutschlands, Boelcke und Immelmann, flogen Fokker-Jagd- und Kampfeinsitzer; der berühmte, durch glänzende Steigleistungen sich auszeichnende Fokker D VII konnte für einen der besten Apparate der damaligen deutschen Luftwaffe gelten. Gleichzeitig wurde noch während des Weltkrieges im Jahre 1916 in Warnemünde der Grund zu einer weiteren Flugzeugfabrik, den heutigen Aradowerken, gelegt, die damals von der Dornier-Flugbootwerft in Friedrichshafen als Montagewerk für Flugzeuge eingerichtet wurden, da sich in Warnemünde der Sitz des Seeflugzeug-Versuchskommandos befand. Der Zusammenbruch des Jahres 1918 unterbrach zunächst die Entwicklung. Fokker flüchtete unter abenteuerlichen Umständen aus Schwerin und siedelte nach Amsterdam über; aus dem Montagewerk der Domierwerft entstand eine Fabrik für Fischkutter und Motorboote, und nur die kleine Flugzeuggesellschaft Sa-blatnig und die für den Luftverkehr nach Skandinavien tätige Lloyd-Luftreederei führten in Warnemünde kümmerlich die Überlieferung fort. Diese Verhältnisse änderten sich erst, als der schon aus dem Weltkrieg rühmlich bekannte Flugzeugkonstrukteur Ernst Heinkel 1922 die beiden letzteren Betriebe übernahm und zu einer neuen Flugzeugfabrik ausbaute. Schon vier Jahre später, 1926, stellte seine He 5 als erstes deutsches Flugzeug nach dem Weltkrieg wieder Weltrekorde auf. Mit der Konstruktion der He 70 im Jahre 1932, dem ersten europäischen Verkehrsflugzeug, das die 300-Kilometer-Grenze überschritt, übernahmen die Heinkel-Werke die Führung in der Entwicklung des Schnellflugzeugbaues in Europa. Abnehmer der neuen Heinkel-maschinen war zunächst vorwiegend das Ausland, bis mit dem Jahre 1933 der Wiederaufstieg Deutschlands die Schaffung einer eigenen machtvollen Luftwaffe nach sich zog und damit die Basis für das Aufblühen der Heinkel-werke wie der mecklenburgischen Luftfahrtindustrie in Wismar und Ribnitz lieferte, so daß Mecklenburg neben seiner Bedeutung für die deutsche Ernährungswirtschaft nun auch eine zunehmende Bedeutung für die Erringung der deutschen Wirtschafts- und Wehrfreiheit erlangte.
Damit stehen wir an der Schwelle des großen Geschehens der Gegenwart, das dank der nationalsozialistischen Erhebung nach der furchtbaren Krise der Jahre bis 1932, in denen dank dem Unverstand der damaligen Machthaber die mecklenburgische Wirtschaft, vor allem die Landwirtschaft als Rückgrat des Landes, am Rande ihrer Kräfte angelangt war, auch für Mecklenburg neues Leben auf allen Gebieten entstehen ließ. Jene Probleme, die aus der geschichtlichen Entwicklung des Landes sich ergeben hatten, wurden jetzt endlich entschlossen angepackt, wenn auch der uns von England aufgezwungene Krieg ihre endgültige Lösung teilweise noch hinausgeschoben hat. Die Grundfrage blieb die Korrektur des ungesunden landwirtschaftlichen Besitzverhältnisses der Vergangenheit, das durch das schrankenlose Übergewicht einer bevorrechteten Schicht entstanden war. In engem Zusammenhang damit stehen zwei andere Fragen, die Bekämpfung der Landflucht, für die das enorme Anwachsen gerade des heimischen Großgewerbes nach der Machtübernahme zunächst eine neue Verlockung bildete sowie der Bau gesunder Arbeiterwohnungen sowohl für die land- wie für die stadtarbeitende Bevölkerung, d. h. also die Auswertung aller materiellen wie kulturellen Errungenschaften der Nation für die arbeitenden Schichten des Volkes. Durch die Verlagerung lebenswichtiger Industrien nach Mecklenburg infolge der neuen strategisch bedeutungsvollen Lage dieses Raumes und dem dadurch bedingten Menschenzuwachs erhält diese Frage ein doppeltes Gewicht. Gleichzeitig aber bedingt diese Verlagerung die Fortführung einer gesunden Industrialisierung, vor allem hinsichtlich der Schaffung einer Verbraucher- und Zubringerindustrie, so daß endlich der volkswirtschaftlich gebotene harmonische Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Gewerbe auch in diesem Raum hergestellt wird. Die vielleicht wichtigste Etappe auf diesem Wege wirtschaftlicher Neugestaltung aber bildet die Verwirklichung der alten bereits von Johann Albrecht I. und Wallenstein gehegten Pläne eines Ostsee und Elbe miteinander verbindenden Kanalbaues, der Mecklenburg die Möglichkeit geben würde, seine Rolle als Mittlerin zwischen dem mitteldeutschen Industrieraum und dem Norden voll zu erfüllen, eine Rolle, die ihre eigentliche Bedeutung zweifelsohne erst mit der Neuordnung der Verhältnisse im Ostseeraum nach dem Kriege erhalten dürfte. Es gibt heute innerhalb Deutschlands keine unabhängigen Teilräume mehr, sondern jeder Gau, jede einstige Landschaft ist zu einem unlösbaren Bestandteil des großen Ganzen geworden und alles Streben und Planen hat nur dieser großen Gemeinschaft zu dienen, aber gerade eine Betrachtung wie diese mag zeigen, wie auch der mecklenburgische Gau bestrebt ist, sein Bestes innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft zu leisten.
Text aus dem Buch: Des Reiches unbekanntes Land Mecklenburg, Author: Goerlitz, Walter.
Textübersetzung aus dem Kunstmuseum Hamburg