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Der Krieg – Johannes Schlaf

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von Kunstmuseum Hamburg

WENN WIR IM FOLGENDEN über den Krieg handeln, so wird uns vor allem interessieren, welche Stellung unsere Gegenwart ihm gegenüber einnimmt, und ferner was solche Stellungnahme etwa für die Zukunft des Krieges bedeuten könnte.

In solcher Hinsicht ist mir nun heute von jeher nichts bemerkenswerter gewesen, als das schroffe Aburteil Leo Tolstois und des modernen Sozialismus, die sich nicht scheuen, den Krieg als einen Mord zu bezeichnen.

Ich sage nicht zuviel, wenn ich ausspreche, daß mich dieses Aburteil, als ich ihm zum erstenmal begegnete, erschreckt hat; ja, daß ich es geradezu als eine frevelhafte Blasphemie empfand. Es begreift sich indessen Erscheinungen wie Tolstoi und dem modernen Sozialismus gegenüber von selbst, daß man sich von einer so schroffen, ja viel-leichtsogar furchtbaren Form solchen Aburteils nicht verleiten lassen durfte, es von der Hand zu weisen, ohne zuvor seiner eigentlichen Meinung und den Ursachen seiner Formulierung auf den Grund gedrungen zu sein.

Ich fand einen solchen Grund zunächst in dem fast absoluten Mangel an historischem Sinn, der sowohl Tolstoi wie den bisherigen Formen des modernen Sozialismus eignet. Indessen, insofern beide genötigt sind, von unmittelbaren und zwingendsten praktischen Bedürfnissen, Nötigungen und gar Notständen auszugehen, wird man diesen Mangel, wenn schon nicht durchaus, aber doch vorderhand gelten lassen können. Auch die Ungerechtigkeit, ja die Blasphemie hat, wenn nicht gerade ihre Tugend, so doch sicherlich ihre Ratio und Notwendigkeit. Und wir dürfen vielleicht sogar sagen, daß diese Notwendigkeit und Ratio angesichts der hohen praktischen und entwicklungsfördernden Eigenschaften der Erscheinung des Sozialismus eine Zeitlang geradezu Tugend war. Historie ist ein sehr umschichtiger und beballasteter, und er ist gemeinhin ein viel zu einseitig, abstrakt theoretischer Begriff, als daß er nicht immer wieder durch die „ungerechte“ Notwendigkeit des weiterrückenden Lebens, sagen wir nur geradezu: brüskiert werden müßte. — Also wird denn doch wohl jenes Aburteil Tolstois und des Sozialismus dem Krieg gegenüber etwas meinen; es wird auf einer praktischen, sehr aktuellen neuen Notwendigkeit des vorschreitenden Lebens beruhen, die sich so brüsk der Historie, ihrer Objektivität und leidenschaftslosen Gerechtigkeit entgegenzusetzen genötigt sieht. Wir werden sehen, daß es in der Tat etwas meint.

Indessen nicht bloß der Historie gegenüber bedeutet jenes Aburteil eine Blasphemie, ja geradezu einen Frevel, sondern nicht minder jeder Psychologie und Ethik, jedem wahrhaft religiösen Gedanken und Gefühl, jeder menschlichen Wesenheit und Bestimmung gegenüber. Und dies muß durchaus erkannt und ins klare gestellt werden; nicht weniger aber muß zugleich die neue Vernunft und Notwendigkeit erkannt werden”, die jenem Aburteil zugrunde liegt und seine hohe Wahrheit und Bedeutsamkeit ausmacht. Und es muß gerade in einem Augenblick in Klarheit gestellt werden, wo gewisse Wertungen und Urteile des modernen Sozialismus durchaus unmöglich zu werden beginnen und zu den bedenklichsten Störungen des sozialen Lebens führen könnten; Störungen, bedenklicher vielleicht als selbst Kriege und blutige Revolutionen es sind; und zwar insofern, als sie die Sterilisierung, ja wohl ganz und gar eine totale Verkümmerung der zentralsten und lebenwirkendsten aller Empfindungen bedeuten: der religiösen.

Ich glaube, wenn ich im ersten Teil der folgenden Ausführungen auf diesen Punkt, auf jene frevelhafte Blasphemie Tolstois und des Sozialismus eingehe, und im anderen auf deren innere Vernunft und Notwendigkeit, werden wir zu einer Stellungnahme dem Krieg gegenüber gelangen können, die nicht etwa bloß so gerecht und objektiv ist, sondern die zugleich für die weitere organische Entwicklung menschheitlicher und moderner Kultur befreiend und fruchtbar sein wird.

DER AMERIKANER ADIN BALU, ein Schüler des berühmten Vorkämpfers der Sklavenbefreiung, William Lloyd Garrison, der selbst, ähnlich wie die Quäker, auf dem urchristlichen Prinzip fußend, den Krieg und Waffendienst ablehnte und der Begründer einer „Non-resistance“-Bewegung wurde, führt in einer seiner Flugschriften aus: „Ein Mensch darf nicht töten. Hat er getötet, so ist er ein Verbrecher, ein Mörder. Tun zwei, zehn, hundert Menschen dasselbe, so sind sie Mörder. Der Staat aber oder ein Volk darf töten, so viel es will, und das ist kein Mord, das ist ein gutes und lobenswertes Werk. Man braucht nur so viel Menschen als möglich zusammenzubringen, und das gegenseitige Morden von ioooo Menschen wird ein unschuldiges Werk. Aber wieviel muß man dazu haben? Das ist die Frage. Einer darf nicht stehlen, rauben, aber ein ganzes Volk darf. Aber wieviel Menschen sind dazu nötig? Warum dürfen denn zehn, hundert Menschen das Gebot Gottes nicht übertreten; warum aber dürfen es viele?“

Ich zitiere diese Stelle nicht bloß so als einen Obersatz dieses ersten Teiles meiner Ausführungen, sondern weil diese Kundgebung sich gerade aul amerikanisch-neuweltlichem Gebiet erhebt. Und zwar ist mir hierbei von Interesse, daß das offizielle Christentum in Amerika von vornherein weder in katholischer oder evangelisch-lutherischer, alsc eigentlichster Fassung, sondern lediglich in mehi oder weniger freier sektirerischer Fassung vorherrscht, so daß also, wenn man überhaupt angesichts amerikanischer Verhältnisse von einei solchen noch sprechen darf, die offizielle Staatsreligion von vornherein eine sehr freie und woh] verhältnismäßig dem reineren christlichen Ur-prinzip näher gerücktere ist. Unter diesen Sekten nun aber ist die der Quäker sicher numerisch nichts weniger als eine vorwiegende, wohl aber ist gerade sie es einer lebendigen, geistig-kulturellen Wirkung nach und besitzt sie nach solcher Richtung einen hervorragenden und vorwiegenden Einfluß. Denn nicht nur, daß die größten Männer der Union, die in den entscheidendsten Momenten von Amerikas staatlicher Entwicklung das Geschick der Nation leiteten, entweder direkt Quäker waren, oder doch wenigstens von Quäkern abstammten: auch was :ine rein und spezifisch amerikanische Geistes-cultur anbelangt, soweit eine solche überhaupt )is daher zu einer machtvolleren Äußerung ge-angte, so hat sie sich wenigstens mittelbar ge-ade auf dem Fundament des Quäkertums erhoben; md damit auf einem Fundament, das, als äußerste Konsequenz reinen Protestantentums, zugleich die >is daher möglichste, reinste und modernste und mgleich mit organischer Notwendigkeit gewordene Erneuerung des urchristlichen Prinzips bedeutet. — Ich meine, so wenig es nun auch bisher den Quäkern, oder jener neben ihnen bestehenden ,Non-resistance“-Bewegung gelungen ist, etwas Positiveres auszurichten, so werden sie dennoch ron vornherein immerhin in Amerika relativ eine ingleich größere Möglichkeit dazu haben, als sie n Europa besteht; und das scheint mir für eine zukünftige amerikanische Eigenkultur sehr viel zu ledeuten.

Also: wie für Tolstoi und den europäischen Sozialismus, bedeutete auch den Quäkern und der ,Non-resistance“-Bewegung der Garrisonschen Richtung der Krieg einen Mord, oder einen privilegierten Massenmord, um gleich den drastischeren und wohl sicher noch gehässigeren Ausdruck zu gebrauchen, dessen sich namentlich die Agitation des politischen Sozialismus zu bedienen pflegt. Man operiert hier wohl auch mit dem Begriff des „geheiligten Mordes“, in dem Sinn, daß solcher Mord von den Priestern der bisherigen Religionen geheiligt worden sei; und man bedient sich dieses Begriffes in nicht minder gehässigem Sinn.

Aber sollte man in einer Zeit, wo die empirische Wissenschaft in so hoher Blüte steht, nicht wahrnehmen müssen, daß es sich angesichts des Krieges tatsächlich um einen „geheiligten Mord“ handelt? Der empirisch-exakten Wissenschaft wird dieses Prädikat „geheiligt“ heute freilich nicht gemäß sein, sie wird es vielmehr durch das Prädikat eines „notwendigen Mordes“ ersetzen; sie wird sicher damit auch nicht unrecht haben, aber unsagbar viel macht fürs Praktische eine Nuance aus; und unzweifelhaft ist der Begriff eines „geheiligten Totschlags“ der tiefere der bessere, der fruchtbarere und wahrere. Es ist die für unsere Zeit und Kulturentwicklung so verhängnisvolle, man muß wirklich schon sagen — Gene der empirischen Wissenschaft, daß sie sich einer solchen besseren Begriffsnuance widersetzt; obschon bei Licht besehen aber auch nicht die mindeste Veranlassung dazu vorhanden ist, und obschon die Wissenschaft sich dadurch die Möglichkeit einer letzten umfassenden und vollkommenen Weisheit von vornherein unterbindet!

Also wir sagen: wie diese bisher vorgerückteste und im Bereich ihrer Methode so vollkommene exakte Wissenschaft bei Licht besehen lediglich bestätigt: heilig ist der Krieg und geheiligt der Totschlag, der im Krieg geübt wird. Und zwar ist er durchaus nicht durch irgend eine Priesterschaft oder durch irgend eine menschliche Fassung „offizieller Religion“ geheiligt, sondern er ist es durch eine höhere,immanenteNotwendigkeitallerEntwicklung.

Und zwar ist er so etwas durchaus anderes, als der Mord des einen, der zehn oder der hundert, der nichts bedeutet als die Handlung nicht eines Einzelwillens, sondern eines isolierten Einzelwillens, der, wo er auch immer auftritt und jemals aufgetreten ist, stets als das unheimlichste und inkommensurabelste Geschehnis nicht bloß vom Verstand, sondern von jeglichem organischseelischen Fühlen gewertet wurde.

Etwas ganz anderes ist der „Mord“, oder vielmehr doch wohl der Totschlag, der gegenseitig von Völkern und Nationen geübt wurde. Er ist nicht die Äußerung eines isolierten Einzelwillens, sondern er ist die Äußerung eines Gesamtwillens; dieser Gesamtwille aber ist identisch mit einem großen organischen Trieb — den wir in weiterer Hinsicht als eine Bewegung und einen Trieb organischer Entwicklung definieren müssen, und in noch weiterer und letzter Hinsicht als eine Bewegung und Betätigung von Ursein. — Es ist durchaus vonnöten, daß wir bis zu dieser letzten und äußersten Definition Vorgehen; denn nur erst, wenn wir sie vollzogen haben, werden wir die vollkommenste Einsicht in die Heiligkeit und die religiöse Eigenschaft des Krieges gewinnen — der allerdings unter Umständen auch Formen aufweisen kann, die sich mit jener so unheimlichen und inkommensurablen Handlung isolierten, oder aus allen organischen Zusammenhängen gerückten, schlechthin irrsinnigen Eigenwillens in Parallele setzen lassen.

Suchen wir solche Heiligkeit des Krieges jetzt zu erkennen, so würden wir uns vielleicht zunächst genötigt sehen, auf den Begriff des Einzeltotschlags einzugehen. Aber ich habe ja bereits das hier Wesentlichste und Notwendigste von diesem Begriff eben mitgeteilt. Es ist besser, auf die Notwendigkeit der Nahrung und einer Selbstbehauptung und Selbstförderung in solchem Sinne einzugehen. Auf diese Weise werden wir den Totschlag seinem innersten und am meisten religiösen Wesen nach am besten erfassen.

Freilich aber dürfen wir uns mit diesem Begriff der Nahrung dann noch nicht zufrieden geben. Er ist immer nur erst noch ein grober, ein äußerlicher, ein Vordergrundsbegriff. Wir müssen erst seine Identität mit einem höheren erkannt haben. Welches aber ist dieser höhere Begriff?

Wir gedenken, um zu ihm zu gelangen, jenes seltsamen Triebes des Urmenschen, der die Gestalt des Wesens, das er erlegen und verzehren wollte, mit möglichst genauen Umrissen auf seine primitive Waffe kritzelte, in der festen Überzeugung, daß er sich nun vermöge dieses Abbildes und dieser durch dasselbe geweihten Waffe des „Dämons“ jenes Wesens bemächtigt habe, oder daß er sich vermöge desselben dieses Dämons und Wesens bemächtigen werde. Er würde es jetzt erlegen und würde sich dessen Kräfte und Eigenschaften zu eigen machen; am innigsten und engsten, indem er dieses Wesen selbst verzehrte; sei es nun das Fleisch oder Knochenmark eines gewaltigen Bären, oder sonst eines starken, oder listigen, oder mit was für vorteilhaften Eigenschaften sonst ausgestatteten Tieres, oder sei es selbst auch das Fleisch irgend eines mit dergleichen von ihm geschätzten und begehrten Eigenschaften ausgestatteten menschlichen Gegners.

Wir sehen, daß es vor allem auf alle solche Eigenschaften ankommt; Eigenschaften, die also identisch sind mit dem ,,Dämon“, oder wie wir heute sagen würden, mit der Seele jener Wesen.

Wir erkennen, worauf es hinaus wollte: nämlich auf die Stärkung, Bereicherung, Förderung der Seele. Irgend etwas will Macht, Herrschaft, Freiheit, höchste und bewußteste, freiste Lebensentfaltung und -bewahrung; und dies „irgendetwas“ gewinnt das alles, indem es die geeigneten „Dämonen“ andrer Wesen möglichst innig in sich aufnimmt, als körperliche Nahrung vor allem und zunächst.

Und wir sind ferner, wenn wir sehen, daß Sein, Leben, Seele sich behaupten und einem höchsten, freisten, bewußtesten Zustand sich entgegen entwickeln will, wieder bei diesem Begriff und dieser letzten Tatsache der Entwicklung, zu der wir heute von allen Seiten her hingeleitet werden. Von ihr aus werden wir alle Heiligkeit und Notwendigkeit von Krieg und Totschlag erkennen.

Was wäre zur Erhaltung und Förderung unseres Lebens notwendiger als Nahrung? Und von was anderem sollten und könnten wir uns nähren, als von anderen Wesen, seien es solche mineralischer, vegetabilischer oder fleischlicher Art? So und einzig so fördert und entwickelt sich Leben und Seele. Die Entwicklung freilich zeigt uns, daß Eines sich aus Einem und sich selbst entwickelt, Leben und Seele schließlich aus Leben und Seele, und infolgedessen nähren wir uns im weitesten Umfang und Verstand, bei allem engsten und weitesten organischen Zusammenhang, von Wesen, die uns durchaus geschwisterlich sind, und im letzten Grunde von uns selbst. Unausweichlich ist diese Notwendigkeit; sie ist alle dira necessitas, und alle dira necessitas ist, daß wir uns beständig selbst verzehren müssen, um vermöge solcher Selbstverzehrung freilich zu einer höchsten Betätigung, Erfassung und Erkenntnis von Sein und Leben uns zu erheben; wir, in und mit und als alle Entwicklung von Sein und Leben.

Wir haben also eigentlich bereits alle Notwendigkeit und Heiligkeit von Totschlag und infolgedessen von Krieg erkannt; denn alle zahlreichen Formen von Totschlag und Krieg, die sich von der Urzeit her die Historie hindurch entwickelt haben, sind nichts als Ableitungen einer und derselben Urform; diese aber ist im weitesten Sinn die Ernährung, die innigste Aufnahme der lebensfördernden „Dämonen“, der Seele.

Das ist furchtbar, es gibt auf den ersten Blick keine entsetzlichere Erkenntnis. Aber abgesehen von der heiligen Notwendigkeit dieser Tatsache und dieses Geschehens: gäbe es denn keine Möglichkeit, sich in der Erkenntnis mit ihm zu versöhnen? Es scheint gerade in diesen neuesten Zeitläuften auf eine solche Versöhnung durchaus anzukommen. Vielleicht sogar so sehr, wie nie jemals zuvor; vielleicht sogar zum erstenmal, weil irgend ein höchster Zustand von Bewußtheit erreicht ist und damit ein grellster, klarster Blick, der solcher Versöhnung erst so recht bedarf.

In Vor- und Urzeiten, und selbst bis in die Zeit des ersten historischen Germanentums hinein, wurde das Bedürfnis einer solchen Versöhnung noch kaum empfunden. Diese rauhen Zeiten kannten — was heute und in jüngster Zeit weder historisch noch ethisch, noch psycho-physiologisch recht berücksichtigt wird — die hohen Kraftwonnen von Krieg, Kampf, Tod und Untergang. Das Leben wußte sich nur fühlend als Leben, und fühlte nichts als seinen großen, starken, heiligen Trieb und Trance. Das Leben war noch ganz und kannte noch keinen Knick.

Aber also: besteht nicht eine Möglichkeit, sich mit der Furchtbarkeit dieses Blickes und dieser Erkenntnis, wie sie sich heute schon durch den entsetzlichen Begriff des “struggle for life” kundgibt, zu versöhnen?

Diese Möglichkeit besteht allerdings und wir haben sogar bereits in den letzten Sätzen einiges von ihr angedeutet; wir haben sogar bereits die Hauptsache angedeutet. Es kommt bloß darauf an, daß wir noch etwas näher auf dieselbe eingehen.

Es muß uns eigentlich bei einem Denker wie Tolstoi sehr wundernehmen, daß er nicht selbst, und zwar aus Denkresultaten, wie er sie an anderen Stellen seines Werkes niedergelegt hat, über die Furchtbarkeit jenes Blickes hinwegkam. Wir wollen nicht sagen, daß er alsdann genötigt gewesen wäre, von seinem Standpunkt dem Krieg und Totschlag gegenüber gänzlich abzugehen — ich sage: er wäre es nicht gewesen, und im zweiten Teil dieser Ausführungen werden wir sehen, weshalb nicht — wohl aber wäre er genötigt gewesen, Totschlag und Krieg gerechter, und, wir müssen durchaus sagen, weniger blas-phemisch zu beurteilen. Doch hier brachte sein völliger Mangel an historischem Sinn, ferner seine, wenn schon verständliche und in vieler Hinsicht sicher zu unterschreibende, aber sicher auch allzu schroffe und im wesentlichen sehr unverständige Abneigung gegen die modernen Wissenschaften wie zu gleicher Zeit gegen die dogmatischen Religionen einen Knick und Widerspruch in sein Denken, der, nochmals, eigentlich völlig verwunderlich ist und uns an einer wahrhaft konzentrischen Eigenschaft dieses Denkens zweifeln machen könnte.

In seinem Buch „Über das Leben“ nämlich hat er sich in der bewundernswertesten Weise mit dem Begriff des Todes auseinandergesetzt. Hier finden sich von Kapitel 27 bis Kapitel 32 Gesichtspunkte wie diese:

„Die Furcht vor dem Tode ist nur das Bewußtsein des ungelösten Widerspruches des Lebens.“ Ferner: „Der leibliche Tod vernichtet den räumlichen Leib und das zeitliche Bewußtsein, vermag aber nicht das zu vernichten, was die Grundlage des Lebens bildet: die besondere Beziehung eines jeden Wesens zur Welt.“

„Die Furcht vor dem Tode entsteht daher, daß die Menschen das für das Leben halten, was nur ein kleiner, eben durch ihre falsche Vorstellung abgezweigter Teil desselben ist.“ — „Das Leben ist die Beziehung zu der Welt, die Bewegung des Lebens ist die Aufstellung einer neuen höheren Beziehung, und darum ist der Tod der Eintritt in eine höhere Beziehung.“ — „Das Leben des gestorbenen Menschen hört nicht auf in dieser Welt.“ — „Der Aberglaube des Todes entsteht daher, daß der Mensch seine verschiedenen Beziehungen zu der Welt verwechselt.“

Setzen wir hier einmal den Fall, daß der Erde wirklich ein großes Millennium allgemeinen Friedens bevorstände — es soll uns erst später näher interessieren, wie viel davon keine Utopie sein wird — so würde uns sogleich nichts so sehr beunruhigen, als die Vorstellung, daß durch zahllose Jahrtausende bisher Mord und Totschlag beständig und oft in den ungeheuerlichsten Formen und Umfängen gewütet haben, während nun mit einem Male solcher Mord und Totschlag ganz und völlig zu Ende wäre. Das würde uns vielleicht die intrikateste seelische Pein verursachen, die jemals irgend ein Wesen zu bestehen hatte. — Ich sage: diese Pein grassiert bereits in unseren Zeitläuften; und, hier nebenbei: ich halte sie für ein sehr bedeutsames Kennzeichen. Wohl mehr als einer hat es heute bereits ausgesprochen, daß wir mit ihr Schwereres zu dulden haben, als jemals die Menschen vor uns, selbst in furchtbaren Kriegszeiten, zu erdulden hatten. Und ich sage: sie bedeutet geradezu den Knick unserer modernen Zeiten, und alles kommt darauf an, ihre Beseitigung zu bewirken, damit wir nicht ganz und gar schlechter gestellt sind, als jene früheren Zeitalter. Aber ich frage: hat sie Tolstoi mit seinen oben zitierten Sätzen nicht bereits durchaus aufgehoben? Wenn er sie aber aufgehoben hat, was dann also, fragen wir ferner, haben jene Zeitalter denn so Schlimmes und Entsetzliches geduldet oder getan? Sie haben nichts geduldet und gewirkt als Übergangsformen und Metastasen des Lebens, denen sie nicht bloß gewachsen, sondern — alles, worauf es ankommt und was es besagt! —mit denen sie, alles gehörig in Betracht gezogen, in letzter Hinsicht durchaus identisch waren. — Treten wir aber wirklich in neue und wesentlich anders geartete Lebensformen ein, so werden wir ihnen sicher gleichfalls gewachsen sein, denn wir werden, auch unsrerseits, wiederum im letzten Grunde völlig mit ihnen identisch sein; sie sind nicht ohne uns und wir nicht ohne sie, und wir sind mit ihnen und als sie nichts anderes als Leben und Bewegung von Sein und Dasein. Und wir sind ferner, da ja das höhere Leben, indem es sich nährt, alles niedere oder andere Leben in sich aufnimmt, nichts anderes als zugleich der Inbegriff und das Kollektivum all dieses von uns aufgezehrten Lebens: das mit uns und durch uns und als wir zu seinen höchsten und jüngsten Vollendungen und Daseinserfassungen gelangt ist.

Wenn Tolstoi dies in jenen oben zitierten Sätzen im wesentlichen zu erkennen vermochte, wie war er dann imstande, auch nur einen Augenblick den Krieg so einseitig und blasphemisch unter den Begriff des Mordes zu rücken und ihn als solchen durchaus zu verurteilen und abzuweisen? War er nicht vielmehr ganz von sich selbst und eigenster Erkenntnis aus genötigt, seine Heiligkeit anzuerkennen und ihr gerecht zu werden? Mußte er ihn nicht sofort in die höhere und heilige Einheit der Entwicklung von Ursein gerückt sehen? Und wie Tolstoi, so die neuere „Non-resistance“ – Bewegung in Amerika und unser internationaler Sozialismus.

Der Begriff und die Tatsache der Entwicklung des Lebens darf uns durchaus nicht einseitig veranlassen, gewisse Formen der Entwicklung mit einem Odium zu belasten und in Grund und Boden zu verurteilen, weil etwaige neue und wesentlich anders geartete Formen jene andern abzulösen im Begriff sein möchten; die höchste Erfassung des Lebens wird vielmehr die sein, welche auch jenen früheren Formen ihrem Wesen nach gerecht wird und die Einheit allen Lebens so mit allem Fühlen wie mit allem Erkennen erfaßt. — Es ist eine sonderbare Sache, wenn Tolstoi oder der Sozialismus oder jene amerikanische Bewegung sich auf den Christus und das reine christliche Prinzip beruft. Sie sollten dann doch zunächst erkennen, daß der Christus zwar die Formen eines neuen Lebens vorausverkündet, formuliert und zugleich in das lebendige praktische Leben der Historie und aller höheren organischen Weiterentwicklung hineingetrieben hat, damit sie sich sicherlich — hier geben wir Tolstoi und dem Sozialismus recht — gerade durch eine „Nonresistance“, eine Nichtwiderstrebung gegen das Übel zu einem letzten klaren Sieg hindurchrängen; aber er hat von ihnen aus nicht einen Augenblick das alte Jus talionis der Antike und Vorzeit mit einem Odium belegt, was ja durchaus gegen sein Prinzip gewesen sein würde, sondern hat es in seiner berechtigten ehemaligen Notwendigkeit und Heiligkeit gelten lassen. Und wenn er keine neue Form eines Justalionis gegen die alte setzte, sondern vielmehr seine neue der Duldung des Übels, und wenn diese bis in unsre Zeit hinein mit jener alten Form zu ringen hatte, so hat er bereits eigentlich damit gerade die natürliche Ratio jener alten Form gelten lassen und anerkannt, und durch den passiven Widerstand seiner neuen Form und Ethik jene Ratio lediglich auf die gerechteste und freilich beharrlichste Probe ihrer ferneren Lebensfähigkeit und Berechtigung gestellt. — Nun, noch je scheiterte an dem Fels solcher fruchtbaren und zeugerischen Passivität aller wilde und blutige Aufruhr der dunklen, roheren und niedreren Lebensgewalten, und immer mehr ist jenes Jus talionis der Ur- und Vorzeit an dem Fels des neuen, aus aller Entwicklung heraus notwendig gewordenen christlichen Prinzipes erlahmt, sicher, um schließlich gänzlich an ihm zu zerschellen, oder, damit wir das Gleichnis verlassen, in eine neue und höhere Form und Einheit über- und einzugehen; aber gerecht, notwendig und heilig sind alle Gebote und Gesetze Gottes; und sie alle werden sich noch in einer letzten und höchsten Einheit versöhnen und rechtfertigen . . .

Dies alles ist eine hohe Einsicht, die, selbst wenn etwa all die Vorhersagungen einer großen allgemeinen Friedensära, welche der Menschheit bevorstehen soll, sich wirklich und ganz als Utopie erweisen sollten, uns dennoch mit einem neuen starken Gefühl und Trance von Leben über unseren modernen Knick hinausbringen und uns instandsetzen würden, irgend welche neuen blutigen Wirren der Zukünfte zu ertragen, mit denen wir uns ja, gerade wieder im Lichte einer jüngsten monistischen Erkenntnis des Lebens und des Kosmos, von neuem ebenso identisch zu wissen beginnen wie mit allem anderen, was das Leben uns auf der anderen Seite an Wonnen und tiefsten Freuden und Beseligungen, welcher Art auch immer, bietet.

Aber wir versuchen uns noch weiter mit dem Krieg zu versöhnen, und das blasphemische, ja schreckliche Odium, das ihm neuerdings angehängt wurde, zu beseitigen.

Krieg will Frieden, und des Krieges Preis ist Frieden. Alle Güter und Beseligungen des Lebens wollen ‘mit Mühe errungen sein; aber das Ziel durchwirkt ja Müh und Werk bereits mit tausend Freuden und hohen Seligkeiten, die höher, reiner und intensiver sind, als alle Freuden und Üppigkeiten eines faulen Friedens. Wer weiß aber, ob nicht alle Kriege auf irgend einen höchsten, letzten und reinsten Menschheitsfrieden hinaus sind, in dem alles bisherige Leben seine höchste Erfüllung und Selbsterfassung lebt? Vielleicht ist dies eine hohe Ahnung, die uns heute überall heimlich oder laut die Herzen schwellt.

Wir gingen oben von dem Begriff der Nahrung und Ernährung — Seele, die Seele in sich aufnimmt und sich durch Seele fördert und steigert — aus. Wir erkennen, daß alle Entwicklung sich durch Ernährung und Nahrung — diese Begriffe, obgleich im rohsten und primitivsten, so doch zugleich auch in jenem umfassendst höheren Sinn gefaßt, den wir eben in Parenthese andeuteten — vollzieht, und daß ohne Ernährung und Nahrung sie sich nicht einen Augenblick weiter vollziehen könnte. — Wir müssen sagen, daß wir diesen fundamentalen Ausgangsbegriff auch für alle und jedwede Form eines notwendigen und geheiligten Totschlages beibehalten und aufechterhal-ten müssen.

In dem rhythmischen Prozeß der Aktio und Reaktio von Urchemie und als solcher Prozeß vollzieht sich die Einverleibung von Nahrung schmerzlos, traumhaft und unbewußt. Und so verhält es sich auch noch auf den ersten Stufen der organischen Entwicklung. Erst später wird solche Aufnahme von Nahrung durch das zur Ausbildung gelangte Bewußtsein von Sensationen und Affekten, teils solchen des Schmerzes, teils solchen der Wonne begleitet und findet durch das Bewußtsein eine solche Enthüllung und Offenbarung ihrer vormaligen und jederzeitigen unbewußten Prozesse. — Welche von diesen beiden Sensationen wird nun aber wohl die stärkste, dauerndste und beständigste sein? Offenbar die der Wonne; die ja übrigens, wie wir wissen, selbst aus Schmerz und Pein gezogen werden kann; und sie wird von dem aufrichtig erwägenden Bewußtsein und Erkennen als die Hauptsensation und der Hauptzustand allen kosmischen Werdeprozesses gewertet werden müssen; und wir dürfen sagen: alle durch Aufnahme von Nahrung (ist nicht auch bereits der notwendige Begriff des sich von sich selbst Nährens, in den jeder andere von Ernährung notwendigerweise münden muß, ein erlösender?) sich vollziehende Entwicklung strebt, die die bewußten weitaus überwiegenden unbewußten Prozesse ihrer Bewegung als Wonne zu empfinden und zu werten; und als letzte tragende Grundstimmung des Seins Wonne zu erkennen und Lust. Man darf sagen, daß dem konsequentesten Erkenntnistrieb schließlich alle Lebensbetätigung sich auflösen oder einen und enthüllen muß als die Lust ein und derselben in Ewigkeit nie sich an sich selbst übersättigenden rhythmischen Bewegung. Denn der Erkenntnistrieb muß ja not-wendigerweise wahrnehmen, daß Bewußtsein und die es begleitenden Sensationen und Affekte nichts sind als eine vorübergehende Form des Unbewußten, und daß Bewußtsein in letzter Hinsicht mit Unbewußt und all seinen Zuständen und Vorgängen völlig identisch ist. — Also wäre eigentlich jedes Leid und jeder Schmerz schließlich ein Unding und Trug; und das war er denn auch noch je jedem starken (heldischen) Lebenstrieb, der noch je und je und immer wieder einen sich allzu laut machenden Pessimismus und solche peinvolle Lebensohnmacht auf die Probe seiner Wahrhaftigkeit stellte und ihm Erlösung brachte, entweder, indem er ihn mit geschwächten und lebensunfähig gewordenen Rassen und Arten vernichtete und ausrottete, oder ihn, soweit er doch noch lebensfähig war, ordnete und kräftigte. Immer wieder gewahren wir diesen Vorgang bei aller organischen und historischen Entwicklung als die ultima ratio und das Ceterum censeo des Lebens sich selbst gegenüber, und als eine ultima ratio, die freudige und heldische Bejahung des Lebens Seinem fundamentalsten Trieb und seiner letzten Grundstimmung gegenüber ist; und diese ist Kraft und das Wonnegefühl von Kraft, die auch dem Lebensunfähigen noch die Wonne des Vergehens oder der sich fügenden Ohnmacht bringt.

Was nun ist dies alles? Offenbar dies: das Leben lebt und es lebt sich aus und ein in einer Stufenfolge von Formen, dergestalt, daß eine ermüdende und sich zu Ende lebende Form eine neue, andere, frische aus sich herausscheidet, von der es mit irgend einer neuen wesentlichen Eigenschaft mit all seinen bisherigen Eigenschaften absorbiert und assimiliert wird, ein Prozeß, der sich im wesentlichen und umfänglichsten Sinn des Begriffes als Nahrungsaufnahme vollzieht. Was alles nur vorhanden ist, wird von einer höchsten Form und einem höchsten Trieb von Leben als Nahrung absorbiert, bis sicherlich im. Laufe aller organischen Entwicklung ein Punkt und Lebenszustand erreicht werden muß, der alles Bestehende sich, in jedwedem Sinne, als Nahrung assimiliert haben wird, und damit irgend einen äußersten, höchsten und umfassendsten Zustand von Leben erreicht haben und bedeuten wird.

Dies alles aber ist und bedeutet in letzter Hinsicht notwendige und heilige Entwicklung.

Wir sehen also, was es mit Lust und Schmerz, was es mit Entwicklung, und was es mit Ernährung, und also auch mit Totschlag und Krieg auf sich hat. — Denn meinen wir doch ja nicht etwa, daß wir um irgend einen Über begriff von Ernährung, Totschlag und Krieg jemals irgendwie herumkommen könnten! Kommen wir aber um ihn nicht herum, so auch nie um diese Unterbegriffe: wir werden es höchstens mit anderen Formen derselben zu tun bekommen, die sich in Zukunft oder Zukünften aller Wahrscheinlichkeit nach noch entwickeln werden und sicher bereits heute sich zu entwickeln begonnen haben, um immer konsequenter nun ihrerseits mit ihrer besonderen Wesenheit zu dominieren.

Was nun den Krieg in seinem engeren, im Lauf der menschlichen Historie bis heute gewordenen Begriff anbelangt, so werden wir ihn also sicherlich aus jenen Grundbegriffen der Ernährung und der vorwärtsstrebenden organischen Entwicklung ableiten müssen. Er ist nichts als eine komplizierte und differenzierte Form derselben; und aus ihrer heiligen und unverbrüchlichen Notwendigkeit her leitet sich auch die seinige.

Sicher nun aber gibt es sehr viele und unterschiedliche Arten von Krieg, die sich im Laufe der menschlichen Historie ausgebildet und gegeneinander differenziert haben.

Wir haben indessen gar nicht vonnöten, sie alle aufzuzählen und in Betracht zu ziehen. Zwanglos können wir sie von vornherein in zwei Gruppen sondern: in heilige und in unheilige Kriege; denn sicherlich gibt es, wie die Historie uns lehrt, auch unheilige Kriege. Diese beiden Eigenschaften bestimmen sich durchaus aus dem mehr oder weniger starken Grad der Notwendigkeit eines Krieges.

Wenn wir aber hierbei verharren würden, würden wir uns noch immer in einem unheimlichen Chaos befinden, und die Historie würde uns als nichts erscheinen, denn ein sinnloser Wechsel von Kriegen, resp. unter, aber sicherlich sehr seltenen, Umständen, als ein eigentlichster Ausgleich dieser beiden Arten von Kriegen. — Ich spreche von sehr seltenen Umständen: denn im übrigen werden, was sehr zu beachten ist, sehr viele Kriege, die im Laufe der Geschichte sich ereigneten, obgleich sie „ungerecht“ und „unheilig“ erscheinen, ihre Notwendigkeit von der andern Seite her gehabt haben. Große, im letzten Sinne heilige, weil zentrale Kulturrassen, bedürfen oft und immer wieder einer Provokation und einer Probe Solcher ihrer Eigenschaften, mag diese Provokation auch meist in solchen Fällen „frech“ und „unheilig“ erscheinen; ganz abgesehen davon, daß junge kräftige Rassen organisch durch ihre Überkraft zu willkürlichen Angriffskriegen gedrängt werden können.

Läßt sich nun aber in das Chaos der in der Historie sich ablösenden Kriege nicht ein bestimmter, organisch von einem Anfang bis zu einem Ende sich entwickelnder Sinn und Zusammenhang bringen?

Ohne Zweifel. — Hier können wir nun alle Kriege ungezwungen in irgend welcher Weise auf den Begriff des Rassekrieges zurückführen, oder mit ihm in Zusammenhang bringen, und dieser Begriff wieder, mit der heiligen Notwendigkeit der organischen Entwicklung in engsten Zusammenhang, bestimmt sogleich den Grad der Heiligkeit und Notwendigkeit eines Krieges; im Sinne des Angriffs wie der Gegenwehr. Und zwar wird es sich nun aber so verhalten, daß schließlich eine einzige und ganz bestimmte Rasse, und zwar sicherlich im letzten Grund eine solche, die in ihrem innersten Wesen den Keim zu einer höheren und höchsten organischen Art trägt, resp. fähig ist, durch Nahrung diesen Keim, durch welche Jahrhunderte- oder jahrtausendelangen komplizierten Kulturentwicklungen auch immer hindurch, von allen möglichen Seiten her in sich aufzunehmen, ihn zu bewahren und festzuhalten und irgend einer freieren Entwicklung entgegenzutragen, die maß-gebenste sein wird. Sie auch wird sicherlich die Rasse sein, die auch das bisherige Problem des Krieges selbst lösen wird, indem sie dem Kriege entweder eine neue Form geben, oder ihn in seinem engeren, bisherigen historischen Begriff völlig aufheben und beseitigen wird. Es liegt wohl in der Logik aller Entwicklung, daß in irgend einer und vielleicht nicht allzufernen Zukunft sich diese Beseitigung des Krieges ereignen wird.

Wir möchten wissen, welches diese Rasse sein könnte? Nun, sie ist vorhanden und auch nicht.

Sie lebt vermöge eines schwächeren oder stärkeren Glaubens. Es gibt neuerdings Rassetheoretiker, welche die germanischen Völker der grauen Urzeit und die Germanen der historischen als diese Rasse ansprechen. Männer wie Gobineau und Chamberlain gehören zu ihnen. Wir für unser Teil sehen uns aus guten und stichhaltigen Gründen genötigt, uns ihrer Meinung anzuschließen, wennschon nicht unbedingt, sondern mit Vorbehalt und dieser und jener Einschränkung. Wie dem aber auch sei, so ist es doch vor allem der Siegeslauf des großen und tiefwundersamen urchristlichen Prinzips, das uns erst die letzte und bedeutungsvollste, die frohste Botschaft und den sichersten Hinweis auf irgend eine solche erlösende und allen Krieg in eine höhere seelische Einheit auflösende Art verkündet.

Ich glaube, ich kann an diesem Punkte den ersten Teil meiner Ausführungen abschließen. Denn es ist hier und nach solcher Entwicklung der wesentlichsten und fruchtbarsten hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte wohl kaum nötig, daß wir uns im einzelnen historischen, kulturellen oder etwa gar technischen Betracht auf den Krieg einlassen; abgesehen, daß uns der Raum dazu fehlt. Es kann und muß uns genügen, Anregung gewonnen zu haben, solche Gesichtspunkte an die einzelnen kriegerischen Ereignisse der Historie und an alle politischen, technischen und sonstigen Fragen und Probleme anzulegen und an ihnen zu prüfen.

Im übrigen können wir, nachdem wir Tolstoi und dem Sozialismus und ihrem beschränkten und unhistorischen, und mit seiner blasphemischen Formulierung wohl gar bedenklichen Hauptgesichtspunkt gegenüber die durch alle Entwicklung bedingte Heiligkeit des Krieges betont und dargelegt haben, uns jetzt getrost dem zweiten Teil unseres Themas zuwenden.

WIR HABEN JETZT ZU UNTER-suchen, welcher Wert und welche Bedeutung andrerseits notwendigerweise der Stellungnahme Tolstois und des Sozialismus dem Krieg gegenüber zuzusprechen ist. Zu dem Zwecke haben wir zunächst das Prinzip in Rücksicht zu ziehen, auf welches sie sich direkt oder indirekt, wissentlich oder unwissentlich stützen, nämlich das christliche.

Dem mosaischen Gesetz oder dem Justalionis steht gegenüber die Ethik der Bergpredigt.

Ich habe bereits an andrer Stelle (in meinem Buche „Christus und Sophie“; Akademischer Verlag, Wien) über das Verhältnis der Ethik der Bergpredigt zu dem mosaischen Gesetz gehandelt. Ich darf mich also begnügen, ein hier notwendiges Resume jener meiner Ausführungen zu geben, nicht jedoch ohne noch diesen und jenen besonderen Gesichtspunkt hier hinzuzufügen.

Zunächst: ich habe an gedachter Stelle etwas dargetan, was eigentlich bis daher noch von niemand in Rücksicht gezogen wurde; nämlich, daß die Bergpredigt eigentlich keine kanonischen ethischen Tafeln aufstellt, sondern daß sie zunächst lediglich eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Pharisäern bedeutet, daß sie einerseits die verhängnisvollen Gebrechen einer alten bisherigen Elite rügt, und andrerseits ausspricht, wie eine neue Elite sich zu verhalten hat, und wie die alte Elite sich eigentlich verhalten sollte, wenn sie noch ferner die Bezeichnung und Würde einer solchen behaupten wollte. Ich habe an gedachter Stelle ferner hervorgehoben, daß die Bergpredigt das mit bewußter Absicht in unterstrichener und zuweilen sogar paradoxer Weise tut, um damit einen um so stärkeren und nachdrücklicheren Eindruck zu erzielen. — Ich habe mit alledem ein grobes Mißverständnis korrigiert, welches die Bergpredigt gerade in unseren neusten Zeitläuften allgemeiner erfährt.

Wir müssen uns nun aber zunächst noch einen andern, sehr wichtigen Umstand durchaus und so eindringlich wie nur möglich vergegenwärtigen, der eigentlich auch seinerseits bisher noch von niemand in Rücksicht gezogen wurde.

Das mosaische Gesetz und der Dekalog ist ein Gesetz, das seinerzeit einer Nation und Sondersozietät gegeben wurde, und das vor allem zunächst für eine solche galt. Es versteht sich, daß diese Sozietät — und fügen wir hinzu, jede Sozietät — nur dann sich selbst und anderen gegenüber bestehen und um so besser bestehen kann, je strikter sie den von Moses aufgestellten Dekalog beobachtet und einhält. Es spricht sich in ihm geradezu das Gesetz der Sozietät aus, und das heißt zugleich: der Begriff Sozietät schließt ein, daß die Einhaltung dieser Gebote ihr eigentliches Wesen ausmacht, und daß die Übertretung derselben, solange eine Sozietät noch eine solche ist, die verhältnismäßig sehr seltene Ausnahme ist. — Die Übertretung nun wurde durch das Gesetz mit dem Tode bestraft, und solchermaßen reinigte die Sozietät ihren Bestand und hielt ihn rein. Dagegen galt der Dekalog und das Gesetz aber im wesentlichen nicht anderen Geschöpfen und andern Nationen und Sozietäten gegenüber, für die also im besonderen das fünfte Gebot, das uns hier ausschließlich etwas angeht, nicht berücksichtigt zu werden brauchte; zum Zwecke der Nahrungsaufnahme und sonstiger Selbsterhaltung oder Selbstbetätigung der jüdischen Nation und Sozietät.

Christus nun läßt zunächst das mosaische Gesetz als solches gänzlich unbeanstandet. Er hat lediglich im Auge, in welcher Weise es die Elite der jüdischen Sozietät unter ganz bestimmten gegenwärtigen Verhältnissen der jüdischen Nation zu erfüllen und ihm nachzuleben habe; offenbar in der durchaus richtigen Meinung, daß, je strikter und reiner es von dieser Elite befolgt wird, es dann um so besser auch von der Nation im allgemeinen, die dieser Elite untersteht, befolgt werde. Und er meint überhaupt, daß der Begriff einer Elite gerade durch die reinste und strikteste Erfüllung des göttlichen Gebots ausgemacht werde. Wenn also das Gesetz darauf hinaus ist, Mord und alle andern Sünden in der Nation unmöglich zu machen, so dient dazu, nach Christi Meinung, am allerersten nicht die strikte und unbarmherzige Ausübung des Jus talionis, sondern das wahrhaft reine und vollkommenste Vorbild und solcher vorbeugende Wandel der Elite des Volkes.

Also, wir müssen immer streng im Auge behalten, daß Christus nicht so sehr auf das Volk und die Nation als solches und solche zielt, sondem durchaus auf den Inbegriff der Nation selbst, auf die Elite. Diese Elite aber waren damals weder die Herodianer, noch die Saduzäer (die eigentliche Priesterkaste, die in völliger Verrottung stand), sondern einzig nur die Pharisäer. Aber auch diese Elite befand sich in der Decadence; wenn vielleicht auch in einer solchen, die immer noch eine Spur von Rechtfertigung finden könnte. Denn im strengen Interesse der Nation, wie sie es auffaßten, und deren reinen Bestandes hielten sie einerseits äußerlich an den Gesetzesvorschriften mit schroffster und freilich kleinlichster Starrheit, und umgingen sie dieselben auch wohl hundertfältig, vermöge aller erdenklichen Spitzfindigkeiten und Klauseln. — Dazu war denn aber nun freilich zu sagen, erstlich mal, daß sie also tatsächlich das Gesetz selbst übertraten — gab es doch sogar eine Meuchelmordpartei unter ihnen — und Zweitens, soweit sie das etwa anstatt in ihrem persönlichen Interesse im Interesse der Reinerhaltung der Nation taten, eine solche Nation im alten reinen Sinn und Bestand der Vorzeit tatsächlich ja nirgends mehr in Judäa vorhanden war, außer etwa zur Not in ihnen

selbst und in ihrem immerhin noch zahlreichen Anhang im Land. Dies letztere ist nun ein Umstand, der von ganz außerordentlicher Wichtigkeit ist. Denn gerade hier setzt das große Werk Christi ein, und gerade von hier aus gewinnt es die schließlich weltumspannende Richtung und Ausdehnung seines Prinzipes.

Resümieren wir noch einmal: Mord, Totschlag und alle mögliche andre Sünde und Übertretung gab es in der Welt und auch in der Nation hundert- und tausendfältig. Aber solcher Übertretung war ein Ende zu machen. Und im besonderen war der damalige gemischte Rassenbestand Judäas in eine neue, festere nationale Einheit zu schweißen. Dazu aber war, dies alles ist die Meinung und Lehre Christi, vonnöten der reinste und lauterste, vorbeugende Lebenswandel einer starken, herrschenden Elite, welche ja selbstverständlich vermöge solcher Herrschaft auf alle übrige Sozietät von ausschlaggebendem Einfluß sein mußte. Es ist ja doch zu sagen, daß stets und immer alles auf die Elite ankommt; denn: „wie der Herr, so’s Geschirr“.

Vor allem muß das Gesetz solchermaßen befolgt werden, respektive seiner Übertretung solchermaßen vorgebeugt werden, versteht sich: innerhalb der Sozietät selbst; es gilt ja doch lediglich für eine Sozietät.

Nun kommt aber noch ein anderer, und der wichtigste hier in Betracht kommende Umstand hinzu: wie denn stand es damals mit der jüdischen Sozietät; und gab es denn überhaupt noch eine solche außer bloß dem Namen nach? Allerdings: nur noch dem Namen nach; in Wirklichkeit aber gab es keine jüdische Sozietät mehr, sondern sagen wir, eine Sozietät allerdings, die sicherlich durch das jüdisch-semitische Element noch halbwegs gebunden war, die aber im übrigen völlig die Sozietät eines Mischvolkes war. Und zwar eigentlich seit Jahrhunderten schon gab es keine reine jüdische Sozietät mehr, sondern eine, die zunächst mit anderen semitischen Elementen, sodann mit Persern, Babyloniern dicht durchsetzt war, zu denen in späteren Zeiten griechische Elemente, alsdann wohl gar römische, oder ganz und gar wohl auch noch germanische hinzugekommen waren. Es gab also anstatt einer jüdischen Sozietät, sagen wir: in kleinem Raum eine allgemein menschliche; eine, die in gewissem Sinne das im kleinen war, was das ganze gewaltige Imperium Romanum im großen: eine totale, menschheitliche Rassenfusion!

Man muß sagen, daß damals, in diesem großen römischen Weltreich, zum erstenmal der große Artbegriff und das große Artgefühl Mensch sich erhob und lebendig wurde; an hundert und hundert Stellen spekulativ und theoretisch-intellektuell, in jenem kleinen Judäa aber zum erstenmal in wundersamster und zwingendst fruchtbarer Weise aktiv-praktisch, in der Gestalt und Lehre Christi!

Angesichts der eben von uns angedeuteten nationalen Zustände im damaligen Judäa: muß nicht gesagt werden, daß die Lehre und das Wirken Christi, das zunächst ein rein jüdischnationales gewesen war, ein menschheitliches und sagen wir gleich anstatt national-sozietäres ein artliches werden mußte?

Nun hatte Christus zwar, wie wir oben sahen, bei seinen ethischen Lehren und Forderungen, wie sie in der Bergpredigt zum Ausdruck kommen, zunächst an die jüdische Nation gedacht, so wie sie damals schlecht und recht war. Es hatte sich eigentlich im Grunde ihr Problem wieder mal, wie schon oft vor dem Exil und besonders nach demselben, so gestellt, daß ein entstandenes Mischvolk so gut wie möglich dem alten nationalen Bestand und dessen Gesetz einzufügen war. Das heißt: so stand das Problem eigentlich; und in solcher Weise wurde es von Christus richtig erkannt; von dem noch vorhandenen reinen jüdischen Bestand indessen wurde es diesmal total mißkannt, denn dieser schloß, in Gestalt der Pharisäer und ihres Anhanges, diesmal jegliches Mischvolk im Land prinzipiell und total aus, ungeachtet doch offiziell dieses Mischvolk den sonstigen bestehenden staatlichen Forderungen und Gesetzen unterstand.

Wäre nun wohl das Problem in dem von Christus zunächst gedachten jüdisch-nationalen Sinn noch einmal zu lösen gewesen? Sicherlich alsdann, wenn es möglich gewesen wäre, den alten nationalen Kernbestand und sein Gesetz noch elastischer zu machen, und so elastisch wie Christus das Gesetz in der Tat machte. Aber man muß hier denn doch sagen, daß diese Elastizität ein altes, streng nationales Gesetz doch nicht mehr vermochte; dies lag schon außer der Möglichkeit dessen, was der antike Begriff der Nation zu leisten imstande war. — Oder wir können auch so sagen: Das nationale (mosaische) Gesetz vermochte diese Elastizität, mit Christus, in der Tat und dennoch, aber es sprengte in demselben Augenblick auch den engen Bann des antik nationalen Begriffes und dehnte diesen zum menschheitlich-artlichen aus. Und so ist es eigentlich erst ganz richtig und aller historischen Tatsächlichkeit nach formuliert. — Die Elastizität der Ethik Christi zersprengte und vernichtete den letzten mühsam und schon frevle-risch erhaltenen Schein eines strengeren jüdischnationalen Sozietätsgefüges; dieses ging wenige Jahrzehnte darauf für immer aus den Fugen, damit die neue Wahrheit und Notwendigkeit und der neugewordene Bestand und Inhalt jenes Gefüges offenbar wurde, der durch die unerhörteste Rassenfusion der damaligen Zeiten ein menschheitlicher geworden war, und als solcher in größere menschheitlich gewordene Weltreichzusammenhänge hinein mit unwiderstehlicher Gewalt expandierte als die historische Erscheinung des christlichen Prinzips und des Christentums.

Im übrigen aber, wie aus der Logik dessen, was wir eben ausgeführt haben, durchaus erhellt, hatte Christus mit seiner Eliteethik in der Bergpredigt ganz und gar recht. Auf diese Ethik kam es in Wahrheit durchaus an, wenn das neue Mischvolkproblem, wie es sich damals gestellt hatte, im nationalen Sinn gelöst werden sollte. Nur mit dieser, von einer Elite rein befolgten Ethik — eine Ethik, auf die ja übrigens doch die innerste Meinung und Tendenz des alten mosaischen Gesetzes durchaus hinaus wollte — hätte das Mischvolk diesmal dem nationalen Bestand einverleibt werden können. So war das nationale Problem zu lösen oder gar nicht.

Aber es ist also zu sagen, daß ja in demselben Augenblick, wo diese Ethik notwendig wurde, das Problem der antiken Nationalität überhaupt gelöst war, und daß damit deren Stunde geschlagen hatte. In demselben Moment hatte sich die antike, hermetisch gegen ihre Umgebung abgeschlossene Nation zur Menschheit und zur allgemein menschlichen Artsozietät erweitert; prinzipiell und zugleich aktiv-expandierend und damit eigentlich bereits faktisch. — Wie es ja denn auch damals faktisch keine Nationen mehr gab, sondern nur noch ein einziges Imperium Romanum. An Stelle der Nation trat als oberster Begriff der der Art; so daß tatsächlich von damals an durch die Jahrhunderte der Völkerwanderung hindurch bis heute es sich sicherlich nicht mehr so sehr um Nationalitäts-, als eigentlich und tatsächlich um Art- und neue Rassenprobleme gehandelt hat, und daß von der Völkerwanderung an bis heute alle großen Kriege in Wahrheit, trotz aller Vielfältigkeit ihrer Arten, durch große Rassenarrangements und eine mensch-heitliche Artvollendung im Grunde bedingt sind!

In Wahrheit hatte sich also damals die Nation und die Sondersozietät zur Menschheit und zur menschheitlichen Gesamtsozietät ausgewachsen.

Das hatte Christus, wie es gleich von Anfang in dem damals noch unbewußteren Grundprinzip seiner Lehre lag, im Verlauf seines erst freundschaftlichen, dann feindlichen Verhältnisses zu den Pharisäern immer klarer und herrlicher erkannt, und hatte sein Erlösungswerk aus einem nationalen zu einem menschheitlichen werden lassen.

Symbol und Vorbild für die Menschheit nun aber blieb die Nation und die Sondersozietät; und das Gesetz für die reifste Nation und nationale Elite mußte mit aller organischen Konsequenz die Ethik einer Elfte der Menschheit werden. Das ethische Gesetz, das für die nationale Sondersozietät gegolten hatte, und das für jede nationale Sondersozietät, weil mit ihrem Begriff völlig grundidentisch, schlechthin verbindlich ist, mußte von nun an notwendigerweise auch für die nur noch einzig und allein vorhandene große menschheitliche Sozietät gelten.

Jener Dekalog, der seine äußersten, letzten und höchsten Forderungen, wie Christus richtig und fruchtbarst erkannt hatte, vor allen Dingen an die Elite der Nation stellte, von deren reinstem und makellosestem Wandel nach dem Gesetz alles für die Nation abhing, wurde jetzt für eine Elite der Menschheit verbindlich, und zwar durchaus in der Weise, wie Christus es für die damalige nationale Elite und schließlich denn also für seine, die menschheitliche, in der Bergpredigt formuliert hatte. — Durch die reinste Befolgung derselben hat seine gewaltige Ethik damals alles antike Heidentum siegreich überwunden, und hat sie das urchristliche Prinzip in welch rauher, aber notwendiger Verhüllung auch immer der jungen germanischen Rasse zugetragen und ihr zu einer neuen, letzten und fruchtbarsten Diskussion übergeben; damit in derselben, die prinzipiell vom allerersten Augenblick an eine protestantische war — Germanentum und Protestantentum ist ein und das gleiche — der edle Kern des Ur-prinzipes, der völlig identisch mit einem rein menschheitlichen, umfassendsten Artprinzip ist, mehr und mehr wieder befreit und hervorgeläutert werde, irgend welchen letzten und reinsten Erfüllungen und Vollendungen menschheitlicher Art entgegen.

Kehren wir zu Tolstoi und dem Sozialismus zurück, so werden wir jetzt deren Verwerfung des Krieges und des Totschlages vollkommen verstehen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können, ja wir werden sogar die vollständige organische Notwendigkeit derselben erkennen. Hat das Christentum und sein Prinzip gesiegt und hat es Gültigkeit, so auch dessen Ethik. In einer Nation darf nicht totgeschlagen werden, eine Sozietät soll im friedlichen Zustand ihrer Mitglieder leben, und so soll es und muß es notwendigerweise auch eine allgemeine christliche Sozietät und also im eigentlichsten Verstand eine allgemeine menschheitliche; denn dies beides ist ja dem streng und rein christlichen Urprinzip, auf das alles ankommt, das gleiche.

Sind nun aber von diesem reinen und strengen Verstand aus alle bisherigen Kriege, die in der allgemeineren sogenannten christlichen Gemeinschaft sich ereigneten, mit einem Odium zu belegen? Keineswegs; hierin sehen Tolstoi und der Sozialismus nicht klar. Denn das christliche Prinzip, auf das alles ankommt, und das etwas anderes ist, als die historisch-offiziellen Niederschlage, die es bis daher gezeitigt hat, ist ja noch immer erst in Aktion; es hat sein Ziel, seine Vollendung und sein letztes Resultat noch nicht erreicht. Es hat sich immer noch mit den alten Beständen der Antike abzuringen, dieselben abzutun, respektive sie zu rangieren. Es ist noch immer der Sauerteig der Welt, der immer erst noch in fruchtbarer Gärung ist. Der alte, wilde gefräßige Trieb hat immer noch nicht sich völlig gesättigt, und noch immer erfährt er die notwendige heilige alte rauhe Hemmung nach dem Jus talionis; noch immer bekriegten und bekriegen sich die Nationen und Rassen, und der Boden keines anderen Erdteils ist so unheimlich mit Menschen- und also Bruderblut getränkt und weiß von so vielen Greueln und Massengreueln wie gerade der Boden Europas!

Aber das große christlich-menschheitliche Prinzip steht unverrückt aufrecht und übt mit unablässiger Mittlertätigkeit sein tiefwundersames, aus aller Logik und Konsequenz der organischen Entwicklung heraus notwendig gewordenes, großes Werk; und dürfen wir heute noch zweifeln, daß ihm die letzte große Vermittlung gelingen wird?

Sehen wir nun aber zu, was es bis daher erreicht hat.

Seine wesentlichste Wirkung können wir dahin formulieren, daß es die Nationen der Erde, deren es sich bemächtigt hat, und es sind doch wohl die, mit denen die Geschicke der Erde stehen und fallen, in ein großes, überaus wichtiges Dilemma gezogen hat. Es hat diese Nationen christlich gemacht und damit zugleich notwendigerweise auf das reine, urchristliche Prinzip verpflichtet; was von der jungen, die Antike ablösenden germanischen Rasse prinzipiell auch bereits mit aller Klarheit erkannt wurde, als die große germanische Diskussion des christlichen Prinzips von den Zeiten der Völkerwanderung an zur religiösen deutschen Renaissance und dem lutherischen Protestantismus gereift war.

Bevor wir aber auf diesen wichtigen Umstand und seine Konsequenzen noch näher uns einlassen, benötigt es wohl, daß wir noch einen anderen in Rücksicht nehmen. Man muß sagen, daß, wenn das christliche Prinzip das geistigkulturelle Vermächtnis der absterbenden Antike und des Imperium Romanum an die jungen germanischen Barbarenvölker war, neben diesem doch noch ein anderes, gleichfalls sehr wichtiges, zivilisatorisches geht. Beide sind eigentlich unzertrennbare Erscheinungen; und die technisch -kommerzielle Zivilisation, die das Altertum den Germanen vermachte, hauptsächlich durch die römische Organisation bis zu ihrer bis dahin möglichen Vollendung aus aller Antike hervor ausgebildet: man kann sagen, daß sie, allmählich im Lauf der antiken Jahrhunderte und Jahrtausende ihrerseits durch die großen geistigen Kulturfaktoren der alten Weltreiche Nordafrikas und des Orientes erzeugt, nun auch wieder der Geburt der geistigen Kulturerscheinung des Christentums Vorschub leistete, damit diese wiederum und ihre innerste Seele solche antike Zivilisation im Bezirk des Germanentums zu noch höheren und differenzierteren zivilisatorischen Betätigungen und Erscheinungen erweiterte und emporführte.

Denn obschon die antike Zivilisation bereits zur Zeit des noch herrschenden antiken Heidentums mit Straßen- und Städtebau, hauptsächlich zu Kriegs- und Verteidigungszwecken, in die germanischen Wälder drang, wurde so recht eigentlich antike Zivilisation, besonders in ihren segensreicheren friedlicheren Erscheinungen, den Germanen doch erst durch das Christentum und seine Missionare vermittelt.

So wirkt sie denn neben und mit dem eigentlichen, großen und neuen Kulturfaktor des Christentums und seiner Ethik zugleich an der Vollendung der Germanen, und der ihnen innewohnenden, höheren, dem innersten christlichen Kulturgeist entgegenkommenden und seiner gleichsam harrenden Rasseeigenschaften.

Das ist offenbar ein sehr wichtiger Umstand. Die christlich-antike Zivilisation lichtet die Nacht der Wälder, sie rodet und ebnet weite Flächen zu friedlichem Ackerbau; sie sammelt die verstreute und schweifende Bevölkerung in Städte; sie verbindet diese Städte durch gute feste Straßen; und diese Straßen sind etwas internationales, das politische und geographische Grenzen nicht achtet, und eine friedlichere Freizügigkeit zwischen den Ländern vermittelt, die im übrigen keine Nationen mit verschiedenen heidnischen Religionen mehr sind, sondern christliche Nationen; eine Freizügigkeit, die in den rauhen Jahrhunderten der Barbarei noch eine ganz unbekannte Sache war. Die internationale zivilisatorische Tendenz des antiken heidnischen Imperium Romanum, die hauptsächlich nur erst kriegerische Zwecke im Auge hatte, bekommt damit eine hochbedeutsame Erweiterung, die erst ihrerseits wieder für höhere Erscheinungen geistiger Kultur förderlich wurde.

Die eigentlich fruchtbare und wesentliche zeugerische Verbindung, die intim und mystisch wie Befruchtung und Eichen zusammenstrebte und zusammentraf, fand sicherlich statt zwischen dem urchristüchen Prinzip und der indogermanischen Seele der Germanen und deren höheren, verehrenden Stellung dem Weibe gegenüber, und sie war die Hauptsache auf die alles und das wesentlichste ankam; aber offenbar und unter allen Umständen mußte den Folgen solchen zeugerischen Prozesses die durch das Christentum vermittelte antike Zivilisation im hohen Grade zustatten kommen. Und zwar in einer Weise, daß ihre sich konsequent ausbildende Mechanik dem mit der germanischen Barbarei ringenden christlichen Prinzip in Augenblicken, wo etwa seine eigenste Kraft versagte oder selbst in Barbarei verrohte, mechanisch beständig zu Hilfe kam, und mit seiner unaufhaltsamen Tendenz zur Internationalität von Handel und Wandel intimst an dem äußeren, und infolgedessen auch an dem inneren Wesen und Leben der germanischen Menschheit im Sinne des urchristlichen Prinzips weiterarbeitete; in einer Weise, daß nun auch von hier, von dem aus, was man zivilisatorische Unwillkürlichkeit und Mechanik nennen möchte, feinere geistigseelische Kultur selbständig aus dem germanischen Rasseprinzip hervor sich entwickelte und herausbildete, die, obschon sie später dem, was man offiziell unter Christentum verstand, oft völlig gegensätzlich zu sein schien, sich dennoch, bei Licht besehen, wunderbarlich gerade als reinste Offenbarung reinsten christlichen Geistes dartut.

Im übrigen kommen wir jetzt zu dem zurück, was wir eingangs des vorigen Abschnittes hervorhoben. Wir sagten: das Christentum habe die europäischen Völker, indem es sie christianisierte, zugleich notwendigerweise auf das reine urchrist-liche Prinzip verpflichtet und sie, und alle Reste antiker und vorweltlicher Barbarei, damit in ein hochwichtiges fruchtbares Dilemma gezogen; und zwar in ein Dilemma zwischen diesem reinen Prinzip und seiner Ethik und der alten Barbarei der Vorzeit, wo das Jus talionis herrschte, oder der alten barbarischen Nahrungsaufnahme irgend eines sich entwickelnden organisch-psycho
physischen Hauptprinzips und Faktors, die sich noch in Gestalt von Einzel- und Massentotschlag vollzieht.

Es muß uns nach allem, was wir eben ausführten, gegenwärtig und selbstverständlich sein, daß für jene christlichen Barbarenvölker es außer jeder Möglichkeit stand, sich diesem Dilemma zu entziehen. Denn jenes Prinzip und seine Ethik war ja der feinste und allernotwendigst-organische Extrakt der Antike aus all ihrer eigenen Entwicklung und damit zugleich aus allen Zusammenhängen derselben mit der prähistorischen organischen Existenz heraus. Dieses Prinzip, das bis daher noch je das Gesetz jeder Einzelsozietät war, ohne welches deren Existenz nicht einen Augenblick möglich gewesen wäre, hatte sich ja, wie wir sahen, bereits tatsächlich als das Artgesetz und die Artethik der ganzen Menschheit enthüllt; zur Zeit des Imperium Romanum, welches sich zu einer allgemeinen ersten menschheitlichen Artsozietät bereits ausgewachsen hatte. Es war also keinerlei Möglichkeit denkbar, daß die Germanen sich jemals diesem Gesetz hätten entziehen können. Gewiß wurde es für ihren robusten, barbarischen Rassezustand ein sehr hartes Dilemma, aber eins, das sie unter allen Umständen zu lösen hatten. Nun, sie waren und sind, wie ihre Entwicklung bisher gezeigt hat, zu solcher Lösung wirklich berufen; sie haben sich tatsächlich als den eigentlichsten Christophoros unter den Rassen der Erde bewährt.

In einer Sondersozietät darf nicht totgeschlagen werden; offenbar weil, da mit Naturnotwendigkeit Totschlag endlos neuen Totschlag nach sich ziehen muß, die Sozietät sich vollständig vernichten würde. Sobald die Menschheit aber sich als Sozietät erkennt und fühlt, darf auch in ihr nicht totgeschlagen werden, weil von demselben Augenblick an das Gesetz aller Sozietät für sie verbindlich wird; das Gesetz der Sozietät, das ja zugleich völlig identisch ist mit deren Wesenheit und Begriff!

Freilich nun aber ist sie noch keine solche Sozietät, ist sie es noch nicht im vollendeten Sinn. Immerhin hat sie sich aber, offenbar von dem Auftauchen des christlichen Prinzips an, als eine solche zu fühlen und zu entwickeln begonnen.

Solches mit der Nachdrücklichkeit in Rücksicht gezogen, die hier vonnöten ist, hat offenbar Tolstoi und der Sozialismus völlig recht — der Sozialismus wird vielleicht, und wohl sicherlich, einst noch als die gröber wirkende zivilisatorische Instanz des Prinzips nach außen hin den zwingendsten Ausschlag geben —; und zwar ist ihr Recht ein besseres, notwendigeres und lebendigeres als das derer, die die Fürsprecher des Krieges sind. — Freilich ist nun aber das Dilemma selbst noch nicht völlig gelöst; und so bleibt der Krieg, der im übrigen durch die Notwendigkeit aller Entwicklung ein für allemal heilig und „gottgewollt“ bleibt, vorderhand noch immer wohl oder übel eine Notwendigkeit, die indessen, da Totschlag eine Sünde gegen die Sozietät und deshalb auszurotten ist, mehr und mehr ihr Recht, ihre Heiligkeit und ihren Sinn einbüßt und auf dem Aussterbeetat steht.

Trotzdem: wir können zurzeit noch nicht mit aller Sicherheit wissen, ob in Zukunft nicht doch noch größere Kriege in aller tieferen Notwendigkeit der organischen Entwicklung liegen; aber dann sicher und gewiß und unter allen Umständen nur noch einzig zu dem Zwecke, daß die Menschheit sich zu jener vollkommensten gefriedetsten Artsozietät ausbaut, auf die sie mit dem christlichen Prinzip mit unaufhaltsamer organischer Gewalt der eigentlich kulturellen wie der zivilisatorischen Entwicklung lostreibt; und vielleicht gerade in unseren jüngsten Zeiten mit einem bis daher unerhörten Tempo.

In welchem Sinn dürfte sich denn nun aber die Menschheit dereinst zu einer solchen vollkommensten Artsozietät entwickelt haben, die in allen ihren Teilen von dem festen organischen Gefühl einer solchen durchdrungen ist?

Jede Sozietät steht und fällt, ist vollkommen und unvollkommen nach Maßgabe und mit ihrer Elite. Und so wird denn notwendigerweise eine solche kommende allgemeine menschheitliche Artsozietät vollendet sein, sobald sich ihre Elite vollendet hat, d. h. sobald es eine einheitliche und sich in ihren Individuen völlig artgleiche Elite der Menschheit gibt, die sich im vollkommensten, festesten und unlösbaren organischen Zusammenhang weiß und empfindet. Diese Elite wird aber und kann notwendigerweise nur eine christliche sein; d. h. eine solche völlig im Sinne des reinen christlichen Urprinzips und seiner Ethik; und da mit dem Begriff der Elite der der Herrschaft in jedem Sinn eng verknüpft ist, wird die Menschheit in demselben Augenblick, wo diese Elite wirklich vollkommen ist und herrscht, gefriedet und vollendetste Artsozietät sein. — Diese Elite aber wird sagen: wir töten keinen Menschen mehr. Und sie wird es nicht bloß sagen, sondern sie wird, aus ganz besonderen psychophysischen, organischen Nötigungen gar nicht anders können! — Aber: sie wird gerade infolge solcher Eigenschaft herrschen! — Sie wird, obgleich sie das sagt und nicht anders kann ’— unerhört sich vorzustellen, für alles, was heute in uns noch vorzeitliches und antikes Wesen und Empfinden ist! — trotzdem und gerade deshalb Elite sein und herrschen!

Und warum? Weil ihr Milieu, die Menschheit, gleichfalls nicht anders kann; weil es, weil sie, seit den Tagen des Christus, gerade an dieser heimlichen, machtvollst immer mehr nach außen hin sich entwickelnden Elite müde geworden sein wird; müde, völlig müde der ewigen Greuel, wüsten und wüstesten Massentotschlags. — Wie sollte es anders sein? Wie sollte sie nicht seiner müde werden müssen? … In demselben Augenblick aber wird diese Elite frei, vollkommen und deutlich, und die menschliche Sozietät vollkommen geworden und gefriedet sein . . .

Diese Massentotschlags-Müdigkeit, wie so sehr interessant und bedeutsam und wie völlig unwillkürlich sie sich in unseren letzten Zeiten allenthalben zum Ausdruck gebracht hat und zum Ausdruck bringt! Wie gerade die Aisthesis des Menschen der jüngsten Moderne und mit welcher aus tiefster organischer Notwendigkeit emporsteigenden Hypochondrie sie gegen den Krieg und Massentotschlag reagiert!

Wir denken hier nicht an politische und soziale Parteiprogramme, wir haben vor allem Dichtung, Kunst und Historie im Auge; und nicht zum wenigsten wird uns gerade auch jene Dichtung, Kunst und Historie von Interesse sein, die dem Krieg durchaus nicht etwa feindlich gegenübersteht.

Ich hatte in letzter Zeit Gelegenheit, in einem Buch Hans Delbrücks zu blättern1) bei dem ich seinerzeit als Berliner Student über den Krieg 1870/71 hörte, eine Vorlesung, die zu meinen unvergeßlicheren und tiefdringendsten Eindrücken gehört. — Gewiß: niemand wird so leicht weniger als dieser Historiker die Theorie des Sozialismus oder gar Tolstois unterschreiben. Und doch: wie viel sagt, gerade zwischen den Zeilen, solche überaus objektive und vorurteilslos unparteiische Geschichtsschreibung! Wie viel sagt ihre kühle, klare Kritik! Wie gar sehr muß sie die Illusionen jener Empfindungen in uns abkühlen, ja zerstören, die so recht „urgermanisch“ sind und immer noch bis in unsre Generation herein den alten „furor teutonicus“ heimlich bewahrte, und den Schwarm für den Krieg und sein Heldentum! — Eine Wirkung, die ein Historiker von diesem Schlage sicher nichts weniger als üben will, und die er dennoch übt. — Ist dies aber nicht überhaupt die neue Schule der Geschichtsschreibung, und gehört ihr nicht die Zukunft?

Wie in der Geschichtsschreibung aber, so in der Dichtung. Man wird in Detlev v. Liliencron gewiß keinen Fürsprecher des ewigen Friedens im Sinn Tolstois und des Sozialismus erblicken; aber wem müßte- nicht die Ähnlichkeit seiner Kriegsnovellen mit der Kriegsnovellistik Tolstois, von individuellen, rein künstlerischen Unterschieden abgesehen, in die Augen fallen und bedeutsam sein? Immerhin ist Tolstoi so in seinem ,,Krieg und Frieden“ wie in seinen kleineren Kriegserzählungen gegen den Krieg noch gerechter als in seiner Theorie; obgleich gerade auch die hypochondrische Aisthesis, deren wir oben gedachten, bei Tolstoi deutlich genug zutage tritt. Ganz augenfällig aber wird sie in Werken wie Zolas „Debäcle“ und in den Gemälden Wereschtschagins. Man kann sich keine eklatanteren Symptome für die Kriegs- und Totschlagsmüdigkeit des modernen Europäers denken, als diese!

Am deutlichsten, interessantesten und kennzeichnendsten aber tritt dieselbe in der Dichtung und bildenden Kunst gerade Rußlands zutage. Und gerade von Rußland aus, dessen politische Machtstellung und östlich slavische ,, Kriegsgefahr“ Westeuropa seit vielen Jahrzehnten wie eine heimliche, dunkle Beklemmung in den Gliedern liegt, mußte die Anregung für den Haager Friedenskongreß ausgehen! — Man mag über die Resultate desselben denken wie man will: unter allen Umständen ist er ein bedeutungsvolles, einzigartiges Symptom für die zunehmende Abneigung Europas gegen den Krieg und seinen Massentotschlag, wie alle ferneren Konsequenzen, als Epidemien und sonstige Störung und Zerrüttung der sozialen Zustände der Länder und Rassen, die derselbe noch je und je nach sich zog.

Man mag also über diesen Friedenskongreß denken wie man will: immerhin ist dieser erste Vorschlag zu einer Verminderung des europäischen Kriegsapparates nicht nur, sondern gar zu einer allgemeinen Abrüstung der europäischen Nationen ein großes, hochwichtiges, symptomatisches Ereignis! — Und für eine Erscheinung von nicht minder symptomatischer Eigenschaft scheint die allgemeine lebendige Kolonial- und Marinepolitik der europäischen Nationen anzusprechen zu sein.

Wenn wir nun verstehen wollen, wie die allgemeine Stimmung solcher Kriegs- und Totschlagsmüdigkeit zustande gekommen ist, so werden wir bis zur Renaissance zurückgehen und die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung Europas von da bis hierher in Betracht ziehen müssen.

Die wichtigste Tat der Renaissance war wieder die germanische. Wir zeigen zwar heute eine ganz besondere und leider zu einseitige und überwiegende Vorliebe für die Kulturleistung der italienischen Renaissance; aber diese hauptsächlich artistische Vorliebe ist recht fraglich und zudem in mehr als einer Hinsicht bedenklich. Was man an der italienischen Renaissance als wirklich positiv wertvoll für einen allgemeineren europäischen Kulturausbau ansprechen muß: sicher gehen jene neueren Kulturhistoriker nicht fehl, welche auch diese Leistung vor allem dem germanischen Rasseeinschlag Nord- und Mittelitaliens gutschreiben. Die größte und wichtigste Leistung der Renaissance aber war die Klärung des christlichen Ur prinzips durch die deutsche Reformation. Gegen diese Tat verblaßt alle übrige, noch so bedeutende künstlerische Kulturleistung der Renaissance; und selbst jede andere steht noch hinter ihr zurück! — Auf diese Klärung kam zunächst alles an, und alle hervorragendsten Erscheinungen auf religiösem Gebiet hatten das ganze feudale Mittelalter hindurch zu ihr hingewollt; ob wir hier an die Wirksamkeit Abälards, oder an die Lehren der deutschen Mystiker denken, oder sonstige Großtaten des religiösen, rein christlichen Prinzips in der Feudalzeit.

Neben dieser Tat Luthers und der Reformation aber kommt vor allem in Betracht die anhebende zivilisatorische Entwicklung, deren Tempo sich seit jener Zeit in einer so erstaunlichen und wundersamen Weise steigerte. Es kommen die Erfindungen und Entdeckungen in Betracht, die Geburt der modernen exakten Wissenschaften, es kommt in Betracht der rapide technische und kommerzielle Aufschwung, der die durch den wissenschaftlichen Humanismus zunächst bewirkte moderne Internationalität in rapider Steigerung zu einer immer allgemeineren und vollendeteren werden ließ. Und es kommt in Betracht, daß diese Internationalität im Grunde gleichbedeutend ist mit einer intimeren Fusion und Durchdringung der europäischen Rassen, als sie jemals in aller bisher so gewaltsamen historischen Evolution erhört war. Erst nach alledem und in zweiter Linie sollten wir dem damaligen Hochstand der Künste sein Recht werden lassen.

Im übrigen erleben wir es wieder, und eigentlich gerade erst in unseren moderneren und modernsten Zeiten, daß jene erstaunliche zivilisatorische Evolution und ihre unwillkürlichere mechanische Funktion nun ihrerseits beiträgt, das reine christliche (menschheitliche) Urprinzip erst recht zu klären. Zwar zumeist in einer Weise, deren Resultate geradezu nach außen hin als eine direkte Negation des Christentums sich darbieten, von der wir aber heute zu erkennen beginnen, daß sie nichts bedeutet, als, von einer anderen Seite her, gerade eine sich vollziehende reinste und vollendetste Klärung des urchristlich reinen Prinzips.

Ich glaube, wir dürfen jetzt zusammenfassen.

Wir haben die frevlerische Blasphemie Tolstois und des Sozialismus zurückgewiesen; eine notwendige, von ihr aus dem Auge gelassene, historische und entwicklungshistorische Betrachtung hat uns die Notwendigkeit und Heiligkeit des Krieges und Totschlags dargetan. Wir haben uns aber genötigt gesehen, die Erscheinung des Krieges in diehöhere, allgemeinere Tatsache der organischen Entwicklung einzufügen. Indem wir das taten und zugleich die Bedeutung des in der Antike machtvollst sich erhebenden reinen christlichen Prinzips und die logische organische Notwendigkeit und Gültigkeit seiner Ethik erkannten, die, eine Ethik der Einzelsozietät, notwendig sich zu der einer menschheitlichen Gesamtsozietät erhebt — haben wir uns genötigt gesehen, der nach solcher notwendigen Ethik andererseits durchaus logischen und einzig möglichen Idee und Theorie Tolstois und des Sozialismus ihrem wesentlichsten Inhalt nach beizustimmen. Und es wird uns, nach den neuesten kulturell-zivilisatorischen Erscheinungen und Entwicklungen Europas, aus alledem plausibel geworden sein, daß zum wenigsten ein bevorstehender europäischer Friedenszustand kein utopistisches Unding ist. Was ein dauernder Friedenszustand der europäischen Rassen aber für die allgemeine fernere Entwicklung der Menschheit bedeuten könnte, ist, wenn nicht zu berechnen, so doch sicher bis zu einem gewissen Grade zu ahnen. Ist Europa pazifiziert, so sind es die führenden Eliterassen der Menschheit; und damit wird es, in irgend einem möglichen Sinne, zugleich die Menschheit sein . . .

Aus dem Buch: Der Krieg (1907), Author: Schlaf, Johannes.


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