as Sittenbild ist diesseits der Alpen entstanden, es hat nur hier eine wirkliche Heimat gefunden und eine vielseitige glänzende Entwickelung gehabt. Nicht im öffentlichen Leben, sondern im Familienleben hat es seinen Boden; nur wo dieses die Basis des Volkslebens ausmacht, kann es sich voll entfalten. Den Schauplatz für seine Entstehung und Blüte kann nur ein freies Volk bieten; in seiner Existenz liegt der Beweis für den Geist der Unabhängigkeit, der sich in ihm spiegelt In den Niederlanden und in Deutschland zeigt sich schon in den Anfängen der modernen Malerei, seit den Tagen der Brüder van Eyck, Freude am Sittenbild; den religiösen Darstellungen fehlt der große monumentale Charakter der gleichzeitigen italienischen Kunst, ihnen eignet ein ausgeprägter genreartiger Zug. Die Heiligengeschichte spielt im eigenen Heim; die Figuren treten in den Kostümen und mit den Zügen der eigenen Familie auf. Im Laufe des 16, Jahrhunderts beginnt sich daraus, meist durch den Einfluß der italienischen Kunst, der es die nordischen Meister an Größe des Stiles und Erhabenheit des Ausdruckes gleichtun wollen, ein eigentliches Sittenbild loszulösen. Zunächst eine Schilderung des Volkslebens, das Treiben auf den Gassen und Landstraßen, auf den Märkten und in den Markthallen, Straßenküchen und schlechten Häusern. Die Künstler dieser Richtung, an ihrer Spitze der große Pieter Brueghel, interessieren sich noch wenig für das einzelne Individuum, vielmehr für die großen Volksklassen als Ganzes, vor allem für die untersten Stände, deren Leben sich offen und ungeniert im Freien, auf den Straßen und Plätzen und auf dem Felde abspielt. Sie schildern sie in ihren mannigfachen Beschäftigungen und ihrem bunten Treiben und geben mehr ein lustiges Bilderbuch mit zahlreichen kleinen Episoden als einzelne geschlossene Handlungen.
Nach der Loslösung der holländischen Freistaaten von den spanischen Niederlanden nimmt das Sittenbild in der nun selbständig dastehenden holländischen Kunst sogleich eine besondere und hervorragende Stellung ein. Ja, während in den spanischen Niederlanden das Genrebild auch im 17. Jahrhundert kaum über die Anfänge, über ein mehr typisches Bild des Bauernlebens hinauskommt und es dort überhaupt ohne Anregung von Holland aus nicht wohl denkbar ist, sehen wir hier durch etwa zwei Generationen das Sittenbild vom rein malerischen Bauern- und Soldatenstück bis zum tendenziösen Sittenroman der obersten Klassen sich entwickeln, so reich und mannigfaltig, von einer solchen Fülle bedeutender Künstlerindividualitäten gepflegt, daß selbst das 19. Jahrhundert nichts Ähnliches aufzuweisen hat.
Wenn wir die holländische Genremalerei auf den Inhalt ihrer Darstellungen prüfen, so ergibt sich uns, im Gegensatz zum vlämischen Sittenbild und zu dem, was die romanischen Schulen an Stelle des ihnen fehlenden eigentlichen Sittenbildes iarzubieten haben, eine deutliche Entwickelung vom Typischen zum Individuellen, von der Wiedergabe der äußeren Erscheinung zu der des inneren Lebens, und im letzten Stadium die Rückkehr zur Verherrlichung äußerlichen Prunkes und zu typischen Szenen.
Für die erste Zeit der holländischen Malerei ist es charakteristisch, daß die Künstler nicht auf den Einzelnen eingehen, sondern das Treiben ganzer Gesellschaftsklassen zu schildern suchen. Sie wählten dafür gerade die Stände, deren Treiben sich am wenigsten der Öffentlichkeit entzog und deren Benehmen fast jeden Zwanges und jeder Rücksicht bar war. Das Volksleben, wie es sich dem Beschauer auf Schritt und Tritt darsteilte: das ungenierte Treiben der Bauern und der ärmsten Klasse der Bevölkerung auf der Dorfgasse oder dem Jahrmarkt, in der Bauernhütte oder in der Kneipe und daneben das ausgelassene Treiben der Soldateska und ihres Anhanges in ihrer heilen farbigen Erscheinung reizt diese Künstler zur malerischen Darstellung. Während Pieter Brueghei und seine Nachfolger das Gehaben des Landvolkes nur in der allgemeinen malerischen Erscheinung, meist in der Verbindung mit der Landschaft und mit moralisierenden oder selbst allegorischen Anspielungen geben, suchen die holländischen Genremaler vom Anfang des 17. Jahrhunderts schon charakteristische Situationen aus dem Bauemleben herauszuheben und diese in abgerundeter Darstellung und schärferer Individualisierung der Szenen und selbst der einzelnen Typen wiederzugeben.
Als eine neue Erscheinung in der Kunst tritt uns daneben die Schilderung des Soldatenlebens entgegen, die sich gleichzeitig entwickelt und sich rasch in ganz Holland der größten Beliebtheit erfreut. Erst mit dem großen Freiheitskriege und als Folge desselben waren die Soldaten ins Land gekommen, die spanischen Truppen wie die Söldner, welche die nördlichen Provinzen gegen sie geworben hatten. In den Städten hatten sie den Winter hindurch ihre Standquartiere, und auf dem verwüsteten Lande spielten sich unablässig schreckliche Szenen von Kampf und Plünderung ab. Der ungewohnte Anblick, den das neue Leben in seiner malerischen Erscheinung darbot, mußte die Künstler anziehen, denn nachdem der furchtbare Vernichtungs-kampf der ersten Jahre sich ausgetobt und einem wechselvollen Kleinkrieg Platz gemacht hatte, gewöhnte man sich schließlich an diesen unliebsamen Zustand und fand Mut, dem Soldaten -treiben zuzuschauen. So bringen eine Reihe von Künstlern in Holland, ähnlich wie gleichzeitig in den spanischen Niederlanden, Scharmützel, Überfälle, Reiterirupps auf dem Marsche oder dem Auslug, Biwakszenen, wie Bilder aus dem Räuber- und Marodeurleben zur Darstellung. Den Hintergrund für diese Vorgänge bildet regelmäßig ein Stück der heimatlichen Landschaft.
Noch beliebter waren die Darstellungen aus dem Treiben der Söldner in den Städten während der Winterquartiere. Ihre bunten Trachten, ihr freies Leben zogen die Maler an, von denen gar mancher mit der Jeunesse dorée des Landes in das ausgelassene Treiben der Soldateska hineingezogen wurde. Welche Gesellschaft in den Darstellungen, die in den Katalogen als »Vornehme Gesellschaft« bezeichnet zu werden pflegen, in Wahrheit wiedergegeben ist, darüber lassen uns die alten holländischen Auktionskataloge nicht im Zweifel, die solche Bilder kurzweg als »bordeeltjes« oder ähnlich bezeichnen. Freilich war zu Jener Zeit das Treiben in diesen Häusern, die in der Nähe des Marktes und der Hauptkirche lagen, vielfach harmloser, als wir uns gewöhnlich vorstellen. Sie bildeten zugleich die Kneipen und Cafés chantants von heutzutage. Selbst manchen harmlosen Vergnügungen, wie dem Tanz, dem Spiel- und Weingelage, dem Rauchen, das in manchen Städten bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts verboten war, konnte die vergnügungslustige Jugend In Holland nur hier nachgehen.
Im Bauernbilde entwickelt sich zuerst mit der Wiedergabe der Innenräume der Sinn für ein intimes Eingehen auf die Lebensgewohnheiten der Insassen wie für das Innenlicht, das Helldunkel, und in den Gesellschaftsstücken bildet sich das Verständnis für Abrundung der Komposition, malerische Erscheinung und delikate Durchbildungaus. So vorbereitet geht die holländische Kunst rasch weiter zur Darstellung des bürgerlichen Lebens in seinen verschiedenen Kreisen. Bei der Charakterisierung der mannigfachen Beschäftigung des Einzelnen kommt das Individuum mehr und mehr zur Geltung. Während Frans Hals auf die malerische Ausbildung des Gesellschaftsbildes von hervorragender Bedeutung war, so vertiefte sich unter Rembrandts Einfluß die Schilderung des bürgerlichen Lebens zur intimen Wiedergabe des holländischen Familienlebens in seiner schlichten Einfalt und Herzlichkeit. Die Werke der Meister dieser Richtung, die Rembrandts künstlerische Mittel, namentlich sein Helldunkel verwenden, stellen zugleich den Höhepunkt der künstlerischen Wiedergabe und die vollendete Ausbildung des Genrebildes überhaupt dar.
Wie der niederländische Humor im Treiben der Bauern von vornherein komische und lächerliche Seiten entdeckte und mit Vorliebe auch in den Bildern zur Darstellung bringt, so geschieht es bald auch bei den Schilderungen aus dem bürgerlichen Leben. Diese bekommen allmählich, namentlich durch Jan Steen, einen satirischen Zug; nicht zum Vorteil der Kunst, die nicht selten schon an Karikatur streift oder zur Buchillustration wird. Die Indiskretion, mit der jetzt intime Szenen des häuslichen Lebens, wenn sie einen komischen Anflug haben, in den Gemälden an die Öffentlichkeit gezogen werden, reizte das Publikum mehr als feine Charakteristik und künstlerische Vollendung, Mit der Verkümmerung und Entsittlichung des bürgerlichen Lebens verkommt schließlich das Sittenbild in schlüpfriger Darstellung delikater Szenen, für die aber der hohle Pathos der Zeit das Mäntelchen biblischer oder mythologischer Geschichten verlangte. Die Kunst erstirbt auch hier in äußerlicher, kalter Stoff-malerei, bei der die Figuren wieder zu leeren, schablonenhaften Gestalten werden.
Diese Entwickelung, die von ihren ersten Anfängen bis zu den letzten Ausläufern etwa ein Jahrhundert umfaßt, vollzieht sich im einzelnen in zahllosen feinen Abstufungen und brachte eine Fülle eigenartiger Künstler hervor. Der Vorgang und Einfluß der großen Meister, vor allen von Hals und Rembrandt, bestimmt zwar die verschiedenen Richtungen und treibt sie zur Blüte, aber die starke Individualität zahlreicher bedeutender Künstler unter ihnen und verschiedenartige Einwirkungen ermöglichten die vielseitige Gestaltung des holländischen Sittenbildes.
Aus dem Buch: Rembrandt und seine Zeitgenossen : Charakterbilder der grossen Meister der holländischen und flämischen Malerschule im siebzehnten Jahrhundert. Bucherscheinung im Jahr 1906.
Siehe auch: Rembrandt und seine Zeitgenossen Teil 1, Rembrandt und seine Zeitgenossen Teil 2, Holländische Genremaler unter dem Einfluss von Rembrandt, Das Holländische Sittenbild, Rembrandt und seine Zeitgenossen – Frans Hals, Rembrandt und seine Zeitgenossen – JAN STEEN, Rembrandt und seine Zeitgenossen – GERARD TER BORCH, Rembrandt und seine Zeitgenossen – Die Landschaftsmalerei in Holland, Rembrandt und seine Zeitgenossen – HERCULES SEGERS, Rembrandt und seine Zeitgenossen – JAN VAN GOYEN UND SALOMON VAN RUYSDAEL, Rembrandt und seine Zeitgenossen – MEINDERT HOBBEMA.