„Vor einiger Zeit löste man aus einer Wand des Raumes, in dem der Kaiser gewohnt hat, eine von ihm ausgeführte Zeichnung: ein Hakenkreuz mit dem Datum 23. Juli mit einigen später entfernten Worten und schliesslich den Namen „Nikolai“. Das Stück der Wand wird jetzt im Museum bewahrt. Das Hakenkreuz gilt als glückbringend. Wollte der Zar das Schicksal um Gunst anflehen?“
Die angesehene Zeitung „Abo Underrättelser“ in Helsingfors, Finnland, bringt den Brief eines Bewohners von Jekaterinburg, der seit Jahren in der Nähe des Ipatiewschen Hauses wohnte, in dem die Zarenfamilie ihre letzten Tage verbracht hat. Es handelt sich augenscheinlich um einen Schweden, der scharfe Urteile über die Russen fällt, zugleich aber um einen Mann, der all das wiedergibt, was man in Jekaterinburg über das Schicksal der Zarenfamilie weiss. Mit einem gewissen Hohn wird das zurückgewiesen, was man in Westeuropa darüber zu ,wissen“ glaubt und was darüber geschrieben worden ist.
Die Ankunft des Kaisers, der Kaiserin und Dr. Botkins im April 1918 und die der übrigen Mitglieder der kaiserlichen Familie etwa einen Monat später, die Vertreibung des Ipatiew aus seinem Hause und dessen Umzäunung mit einer „Pallisade“ wird kurz erwähnt. Was hinter dieser Pallisade nun geschah, war äusserst schwer festzustellen. „Die Russen haben in solchen Sachen eine unglaubliche Phantasie. Ich, der ganz in der Nähe wohnte, habe eine Menge einander völlig widersprechender Auskünfte erhalten, die sich alle auf die Aussagen von Augenzeugen stützten.“
„Was wir wissen, ist, dass der Thronfolger am Mordtage infolge von Schreck starb. Eine Granate explodierte in einem Hause ganz in der Nähe mit einem unerhörten Knall. Das hat dem armen Schwachen einen solchen Choc gegeben, dass er starb.“ Aber auch dieser Mitteilung fügt der Erzähler hinzu: „Wenn das nur wahr ist.“ Dass Nicolai erschossen worden ist, scheint ihm allein sicher.
„Aber was das Schicksal der kaiserlichen Damen anlangt, so weiss man bisher nichts mit Sicherheit. Es ist ja möglich, dass auch sie ermordet sind. Aber ein Beweis dafür findet sich nicht. Sollte der Mord geschehen sein, wie berichtet wurde, indem man die ganze Familie zugleich niederschoss, so hätten wir, die in der nächsten Nachbarschaft wohnten, das hören müssen. Wir hörten ja auch hin und wieder einen Schuss von Ipatiews her, aber ein Russe, der Patronen in der Hand hat, kann sich das Vergnügen, hin und wieder in die Luft zu schiessen, nicht verkneifen. Salven haben wir nicht gehört.
„In der Zeit, als der Mord begangen wurde, hatten es die Bolschewiki ausserordentlich eilig. Koltschak drängte, und jede Minute war teuer. Dass sie unter diesen Umständen die Leichen sorgfältig verbrennen sollten, während der Mord der Bevölkerung in jedem Fall bekannt wurde, ist schwer anzunehmen. Selbst, wenn man in Betracht zieht, dass es sich um Russen handelt, die stets tun, was ihnen einfällt, das heisst viele Dinge, die andere Sterbliche nicht begreifen können. Man kann sich auch schwer vorstellen, dass sie dadurch Demonstrationen bei einem eventuellen Begräbnis verhindern wollten. Koltschak wäre in jedem Fall, bevor diese Sache von statten gegangen wäre, in der Stadt gewesen.
„Es heisst, dass die Leichen zum Teil verbrannt, zum Teil in einen alten Schacht geworfen worden sind. Wir untersuchten die Asche sehr genau, auch chemisch, ohne auch nur die geringste Spur von menschlichen Ueberresten zu finden. Einer meiner Freunde sass in der Kommission und berichtete mir eingehend über deren Arbeiten, so dass ich in diesem Punkte auf das Genaueste unterrichtet bin. Es fanden sich nur ein Teil Metallgegenstände, Brillanten und einige Bleikugeln. Letztere wären im Feuer natürlich geschmolzen. Da sie heil waren, waren sie später dahingeworfen worden. Der alte Grubenschacht wurde ausgepumpt und sorgfältig untersucht, aber auch hier fand sich nichts, ausser den Spuren einer Granate, die gegen ein Eisen geschlagen und dann explodiert war.
„Die Untersuchung hat also nicht zum Resultat geführt, das sie haben sollte. In Wirklichkeit findet sich nicht der geringste Beweis dafür, dass die kaiserlichen Damen gerade das Schicksal erlitten haben, das die Untersuchung darlegen sollte. Das schliesst natürlich nicht aus, dass sie trotzdem gemordet sind. Aber man kann sich ebenso gut denken, dass man sie aus irgend einem Grunde heimlich fortgeführt hat. Da war es natürlich notwendig, sorgfältig alles zu zerstören, was die Unglücklichen hätte verraten können. Sollten sie verschont worden sein, so sind sie tief zu beklagen, denn in den Händen von frechen Burschen muss ihr Schicksal in der sibirischen Wildnis furchtbar gewesen sein.
Von dem Platz, wo die Leichen verbrannt worden sein sollen, führte eine Automobilspur zu einem in der Nähe stehenden Zuge, der dort schon seit einigen Tagen vor diesem Ereignis auf einem Nebengeleis wartete.
Eine grosse Anzahl der Mitglieder der Koltschakschen Untersuchungskommission war der Ansicht, dass das Schicksal der kaiserlichen Damen unbestimmt sei. Uebrigens wurde diese Untersuchung sehr merkwürdig zu Ende geführt. Die Kommission begann ihre Erhebungen äusserst energisch. Als aber die gefundene Spur im Aschenhaufen, der die letzten Reste der Opfer bergen sollte, nicht ihren Abschluss fand, da wurde man nachlässig. Das ist übrigens echt russisch. Es sah beinahe aus, als wollte man nicht weiter suchen. Im übrigen wurde die Koltschakstellung unhaltbar . . .
„Natürlich gibt es eine Menge Menschen, welche die Wahrheit wissen. Sie haben aber bisher nicht zu sprechen gewagt. Hier glaubt man aber allgemein, dass die Damen in Jekaterinburg nicht ermordet worden sind.
„Vor einiger Zeit löste man aus einer Wand des Raumes, in dem der Kaiser gewohnt hat, eine von ihm ausgeführte Zeichnung: ein Hakenkreuz mit dem Datum 23. Juli mit einigen später entfernten Worten und schliesslich den Namen „Nikolai“. Das Stück der Wand wird jetzt im Museum bewahrt. Das Hakenkreuz gilt als glückbringend. Wollte der Zar das Schicksal um Gunst anflehen?“
Ueber das Schicksal der Kaiserfamilie, meint der kühle, kritische und jedenfalls durchaus ernste Berichterstatter, werde man erst dann etwas Genaues erfahren, wenn es nicht mehr lebensgefährlich sein wird, darum zu wissen.“
Siehe auch:
Deutsch-Amerika
Die Deutsch-Amerikaner und das Kaiserreich
Wie das alte Österreich starb
Wie das alte Österreich starb II
Die Deutschen in Amerika
Die Deutschen in Amerika II
Eine Audienz bei Richard II. (Richard Strauss)
Die Lüge als Fundament
„Deutsch-Amerikas“ Mission
Schundromane auf dem Scheiterhaufen
Lincoln und das deutsche Element
Die Geschichte der Revolution
Der Aufbau Palästinas
Deutschland und der Weltfriede
Vaterland vor der Wiedergeburt
Das Schicksal der deutschen Kolonien