aus dem Kunstmuseum Hamburg
Es ist da ein Verhältnis wie zwischen den alten Kaisern von Byzanz und den Patriarchen. In der Regel war der Kaiser bei weitem der mächtigere, es kam aber doch gelegentlich vor, namentlich zur Zeit der Bilderstürmer, daß ein Patriarch den Sturz eines Herrschers herbeiführte. Noch günstiger sind die Zaren gestellt; sie stehen unbedingt über dem Prokurator des heiligen Synods, selbst wenn das eine so energische Persönlichkeit sein sollte, wie es Pobjedonoszew gewesen ist. Nur einmal in der ganzen Geschichte, das ist aber schon ein viertel Jahrtausend her, hat sich ein Vertreter der griechischen Kirche, es war der Bischof Nikon, gegen den Zaren erhoben. Bekannt ist uns ja der beständige Streit zwischen unsern Kaisern und den Päpsten. Am genauesten jedoch entspricht das Scheich-ül-Islamat dem alten Patriarchat, das dem gleichen byzantinischen Boden entsprossen ist. Nun kommt es bei derartigen Doppelgewalten sehr viel auf die Konjunktur und auf die Persönlichkeit an. Seit dem Aufsteigen des Panislamismus ist die Tendenz für das geistliche Element günstig gewesen. Die Folgen davon werden sich bald erweisen. Der Padischah wird in seiner Würde als Kalife merklich verlieren. Ohnehin ist diese Würde nicht unbestritten.
Zunächst das Kalifat. Es ist richtig, daß es keineswegs in der Absicht des Propheten und seiner nächsten Nachfolger gelegen hat, das Kalifat in nichtarabische Hände geraten zu lassen. Sie dachten einfach gar nicht an eine derartige Möglichkeit. Das prägt sich schon in dem amtlichen Ausdruck Khilafat i Arabieh aus. Auch wurde selbst in der mohammedanischen Welt es schon öfters Abd ul Hamid zum Vorwurf gemacht, daß er weder vom Stamme des Propheten — ein Anspruch, den allein in Persien gewiß zum mindesten ½ Millionen Individuen, manchmal, wie bei Hamadan, ein Drittel einer ganzen Ortsbevölkerung, erheben — noch auch von der edlen Rasse der Araber sei. Trotzdem ist das Kalifat und die Fetwa ganz gesetzmäßig auf die. Türkensultane übergegangen. Im Jahre 1517 eroberte Selim I. Ägypten. Er vernichtete die Streitmacht der Mamelucken und bemächtigte sich der Fahne des Propheten, die von den Ommajaden auf die Abbassiden, und später, nach Bagdads Zerstörung durch die Mongolen, auf die Fatimiden übergegangen war. Die Fahne, der Sandschak i Scherif, ist jetzt im Serail in Konstantinopel. Nun galt es noch für Selim, auch.die Kalifenwürde zu erhalten. Das kann nur durch freiwillige Übertragung geschehen. Es gelang ihm jedoch das schwere Kunststück. Er vermochte den letzten Fatimiden, Al-Adhid, der kein sonderlich starker Charakter war, ihm seine Würde abzutreten. Allerdings ging es nicht ohne Anwendung von verhüllten Drohungen, von sanfter Gewalt — genug, der tatkräftige Sultan erlangte, was er erstrebte. Hätte er es aber mit einem hartnäckigen Gegner zu tun gehabt, der lieber gestorben wäre, als sich seiner Würde zu entäußern, so hätte keine Versammlung von Ulemas, hätte kein Scheich ül Islam jemals Selim I. oder seinen Nachfolgern die Fetwa erteilen dürfen. Nichtsdestoweniger ist es mehrere Male vorgekommen, daß Gegenkalifen sich erhoben, so Ende der 1880er Jahre der Scheich Hamideddin, der sich dann auch 15 Jahre lang behauptete, das arabische Sandschak Assyr nach der Ermordung des Mutessarif und der Besatzung eroberte und Entwürfe auf Mekka und Medina zeigte. Ja, auch von dem heutigen Khedive Abbas heißt es, daß er um 1900 nicht nur im geheimen Hamideddin unterstützte, sondern sogar die Absicht hegte, das Kalifat dem Nilland zurückzugewinnen. Von anderer Seite wird behauptet, daß die Engländer ebenfalls mit dem Plane umgehen, das Kalifat dem Khedive zu verschaffen, um dadurch die Gravitation der islamitischen Welt nach Ägypten, statt wie bisher nach Konstantinopel zu lenken.
Die Fäden der panislamitischen Bewegung liefen im Yildiz zusammen. Abd ul Hamid hatte diese Bewegung zwar nicht erfunden, aber sie in der geschicktesten Weise benützt, um seine Zwecke zu fördern.
Text aus dem Buch: Männer, Völker und Zeiten, eine Weltgeschichte in einem Bande, Verfasser: Wirth, Albrecht.
Siehe auch:
Männer, Völker und Zeiten – Anfänge
Der alte Orient und Griechenland
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Feudalherrschaften in China, Indien, Vorderasien und Hellas
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Assyrer und Perser
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