aus dem Kunstmuseum Hamburg
Während Deutschland hier ein Inselchen, dort ein Statiönchen ergattert, teilten sich Briten und Russen in den Besitz Asiens. Bei dem Teilungsgeschäft kam 1904 Tibet an die Reihe. Die Russen hatten schon lange ein Auge darauf. Die ersten Beziehungen ergaben sich nach dem Jahre 1770, als Galdan, dessen Einfluß sich bis auf die Wahl des Dalai-Lama erstreckte, nach dem Sturz des Dsungarenreichs sich zu den Russen am Amur flüchtete, dann wieder, als Jakub Beg 1870 über Ostturkestan herrschte. Seitdem haben zahlreiche russische Forscher, Przewalsky, Grum, Grschmailo, Roborowsky, Kozloff, Bogdanoff, Gurkow, Tibet bereist. Im Jahre 1900 wurde ein Vertrag mit Tibet geschlossen, der eine Art russischen Schutzes gewährleistete. Zugleich unternahmen die russischen Grenztruppen einen Vorstoß auf dem Wege nach Tibet, einen Vorstoß nach Kuldscha. 50000 Mann wurden im Spätsommer 1900 dorthin gebracht, jedoch nach einigen Monaten wieder zurückgezogen. Man hat bei uns wenig davon gehört; nur durch einen Zufall erfuhr ich davon. Am Issyk-Kul hatte ein Pfund Fleisch 3—4 Kopeken gekostet, ein Huhn bekam man für 12—15 Kopeken. Da war ich nicht wenig überrascht, am Iliflusse, der nicht so weit davon, auf so teuere Preise zu stoßen. Fleisch galt bis 65 Kopeken. „Wie ist das nur möglich?“ „Ja,“ sagte der Posthalter, „hier sind so viele Truppen durchgekommen, die haben alles aufgegessen.“ „So? Woherkamen denn die?“ „Nun, eine Brigade von Omsk, ein Regiment von Taschkend, Artillerie von Tschimkend, Kosaken von Kopal, endlich Truppen von Barnaul.“ Alle diese Mannschaften, zusammen an 50000, hatten den Ili überschriiten, um nach Kuldscha zu marschieren. Das Tarimbecken und die Dsungarei kann man gegenwärtig schon als russische Einflußkreise betrachten. Das Wort der russischen Konsuln gilt in Kaschgar und Turfan mehr, als das der chinesischen Ambane. Da niemand im Tarimbecken dem Zaren seinen Einfluß streitig macht, und ein Angriff auf Tibet noch nicht an der Zeit scheint, so hatte man die erwähnten Truppen wieder zurückbeordert. Vielleicht auch haben die Reisen Sven Hedins den russischen Generalen die Augen darüber geöffnet, daß eine Invasion Tibets von Norden her geradezu eine Unmöglichkeit wäre. Durch diese furchtbaren Einöden, in denen der schwedische Forscher fast seine ganze, im Verhältnis doch sehr kleine Karawane verlor, Einöden, wo man, drei Wochen lang marschierend, kein menschliches Wesen antrifft, da könnte noch nicht einmal eine Kompagnie durchkommen. Bedeutend leichter ist die Sache von Süden her. Man muß ja allerdings steil hinauf, während man vom Küen-Lün in das Tal des Sanpo hinabsteigt,r aber es gibt doch dort überall Wasser und Futter, Menschen und Tiere können ihr Fortkommen finden, dazu ist die Basis zu weiterer Lieferung von Proviant, Munition und Truppen in unmittelbarer Nähe, ist durch Eisenbahnen, Telegraphen wohl versorgt, während dierussische Basis durch 2000 km von Lhassa getrennt ist. Wenn übrigens Petersberg ob des Vorgehens der Engländer so entrüstet war, und ältere und bessere Rechte Rußlands von den früheren Entdeckungen russischer Forscher herleitete, so war es völlig im Unrecht. Denn von Manning abgesehen, der Ende des 18. Jahrhunderts in Lhassa war, hat es auch im letzten Menschenalter nicht an britischen Reisenden gefehlt, die Tibet durchstreiften. Ich nenne Carey, Younghusband, Bowen, Littledale und verschiedene Pandits, die in britischem Aufträge Gegenden Tibets aufnahmen. Dazu eine stattliche Reihe von Sportsleuten. Wenn es sich bloß um Erforschungsrechte handelte, so könnte doch geradesogut Frankreich wegen der Reise von Bonvallot und dem Prinzen von Orleans, oder könnte Schweden, aufHedins Erfolge pochend, das weite Tibet für sich beanspruchen. Jedenfalls zeigte England 1904, daß es nicht gewillt ist, dem Vorschreiten Rußlands in Asien ruhig zuzusehen. Ob Tibet an sich begehrenswert — es ist im Südosten stellenweise recht fruchtbar und soll in vielen Gegenden reiche Mineralschätze besitzen — das kommt gar nicht so sehr in Betracht; der indische Kaiser kann es nicht dulden, daß eine fremde Macht in Tibet eine beherrschende Stellung einnehme, und die Einfallspforten nach Indien besetze. Die beste Parade aber ist der Hieb. Dazu war 1904 für England die beste Gelegenheit. Während die Heere des Zaren im fernen Osten vollauf beschäftigt waren, fand ein Hieb gegen Tibet nicht den geringsten Widerstand.
Der Dalai Lama entfloh und kehrte erst 1909 zurück, um 1910 abermals zu entfliehen, diesmal nach Indien.
Im Januar 1910 versuchte das amerikanische Kapital einen Vorstoß in die Mandschurei. Es erlangte einige Konzessionen von Peking, um gegen die russisch-japanische Bahn durch die Mandschurei eine Konkurrenzlinie zu bauen, die in Aigun, gegenüber von Blagowjestschentsk, enden sollte. Das Zusammengehen von China und Amerika zeitigte eine Aussöhnung zwischen Mikado und Zaren; ein Gegenbündnis wurde im Juli 1910 abgeschlossen. Die Spannung zwischen Zaren und Himmelssohn wuchs derart, daß Petersburg im Februar 1911 ein Ultimatum nach Peking sandte; doch ist auch hier ein Krieg vermieden worden.
Übermächtig dehnte sich die nordamerikanische Union gleichzeitig nach Süden aus. Ihr letzter Vorstoß geschah im März 1910, Er richtete sich gegen Guatemala und Mexiko.
Text aus dem Buch: Männer, Völker und Zeiten, eine Weltgeschichte in einem Bande, Verfasser: Wirth, Albrecht.
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Männer, Völker und Zeiten – Anfänge
Der alte Orient und Griechenland
Arier und Chinesen
Juden und Phönizier
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