aus dem Kunstmuseum Hamburg
DAS Jahrhundert deutscher Malerei, von dessen Reichtum die folgenden Blätter eine Anschauung geben sollen, ist in weiteren Kreisen noch kaum gekannt. Einige wenige Namen — Dürer, Cranach, Holbein —, und wiederum fast mehr noch die Namen als die Kunstwerke selbst, scheinen der Vergessenheit zu trotzen. Und doch ist es eine Epoche voll unermüdlicher und vielseitiger Bildfreudigkeit, reich an bedeutenden und eigenartigen Persönlichkeiten, wie selten in der deutschen Kunst. Gewiß, manches mag und wird immer dem ersten Blick fremdartig, ungefällig und unfrei erscheinen — aber trotz solcher Altertümlichkeiten, die nicht beschönigt werden sollen: es ist ein Stück unserer nationalen Kultur, eins der besten und inhaltreichsten, das uns wieder lebendig werden soll. Ohne in irgendeiner Weise dem großen Mißverständnis archaisierenden Kunsttreibens entgegenkommen zu wollen — der künstlerische Geist auch der Gegenwart wird aus diesen Schöpfungen einer in aller Gebundenheit naiven, ebensowohl treuherzigen wie großartigen Bildphantasie eine immer neue Erfrischung des eignen Empfindens gewinnen können.
Es konnte eine Zeitlang scheinen, als sei der Zusammenhang der Tradition mit diesen Zeugnissen der spätmittelalterlichen Kultur Deutschlands ganz verloren gegangen. Noch bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein war der Ruhm wenigstens Dürers lebendig geblieben, dann waren auch sein und Holbeins Namen einer nur mehr antiquarischen Gelehrsamkeit verfallen. Es konnte nun freilich wohl nicht anders sein, als daß der Epoche der Aufklärung die Schätzung der Werke jenes überwundenen Zeitalters abging. Indem die vollendete Beherrschung der Form als erste, unentbehrlichste Voraussetzung alles künstlerischen Schaffens galt, mußten die Befangenheit, der trockene Ernst, die formale Ungeschicklichkeit jener primitiven gotischen Malerei unleidlich scheinen. Die aristokratische Vornehmheit der Epoche konnte da nichts anderes als ein Gefühl unendlicher Überlegenheit, ein geringschätziges Lächeln oder entschiedene Mißachtung aufbringen. Dazu die Stoffe: wie waren doch jene Bilder in ihrem erzählenden Inhalt unverständlich geworden, außer aller Beziehung zu den lebendigen Idealen der Gegenwart! In dem Überwiegen der kirchlichlehrhaften Historie schien das Mittelalter selbst mit seiner geistigen Finsternis, dem Wust seines Aberglaubens in voller Leibhaftigkeit fortzubestehen, ein Schreckbild fast der heiteren und selbstgewissen Natürlichkeit des aufgeklärten Geistes. Die Quellen der eignen künstlerischen Bildung konnten nur in der Antike und bei den großen italienischen Künstlern des 16. Jahrhunderts gefunden werden.
Erst einer neuen Weltanschauung konnte cs gelingen, diese selbstgezogenen Schranken des Verständnisses zu überwinden. In der Anschauung der Wirklichkeit selbst ergab sich das Unzulängliche und Einseitige der Interpretation und Formung des Weltbildes, wie die Aufklärung es hatte vollenden wollen — eben indem sie danach strebte, alles zu verstehen und überall den größtmöglichen Reichtum gesunden Lebens hervorzubringen, mußte sie in sich selbst die Kräfte aufrufen, die, in lebhaftester Opposition, zugleich ihre Auflösung und Fortbildung hervorbrachten. Es entsteht das Bedürfnis, nun wirklich den ganzen Umfang der Welt in seiner Vielgestaltigkeit und Freiheit und seinen unendlichen Werten vermittels des individuellen Bewußtseins zu durchdringen und zu umfassen. Nicht nur den Umkreis der Regel, die mathematische Korrektheit — das Leben selbst will man verstehen. Ein neues Bedürfnis der Echtheit, der vollen und ursprünglichen Natur, der Größe des Erlebnisses. Indem Ernst gemacht wird mit dem Begriff von den natürlichen Einheiten der Welt und des Lebens, entsteht die Anschauung der nicht von außen, sondern von innen her begründeten Notwendigkeit und Gesetzlichkeit des historisch gewachsenen Körpers, entsteht das lebendige Gefühl der Nation und der Kontinuität und unverlierbaren Eigenart ihrer Bildung. Das historische Bewußtsein wird die Grundlage alles Verstehens und Schaffens, weist ihm die Wege und gibt ihm sein Recht — und damit beginnen alle Schätze der nationalen Vergangenheit wieder zum Licht des Tages emporzusteigen. Es ist bekannt, wie bereits dem jugendlichen Überschwang Goethes die herbe Deutsch-heit Dürers riesengroß vor Augen trat — eine zusammenhängende, zugleich begeisterte und planvolle Beschäftigung mit der älteren deutschen Kunst beginnt doch erst mit der Romantik. Seit den Tagen Wackenroders bekommt das „Ehrengedächtnis“ Albrecht Dürers einen neuen Klang — seit dieser Zeit der frühen Romantik gibt es für uns wieder das Bewußtsein, wie einer nationalen Kultur, so auch einer „altdeutschen Malerei“. Gewiß, es läuft da zunächst viel von einer falschen Rührung für diese „fromme“ Kunst mit unter, wie denn die ganze mittelalterliche Kultur von einem sehnsuchtsvollen Schimmer sentimentaler Verklärung umgeben wird. Aber, soviel im ganzen wie im einzelnen zunächst verfehlt sein mag — der Grundton, der den Unterschied zu aller Renaissancekultur darstellt: daß der echte, unverstellte Ausdruck des Gefühls allen Gedanken einer kunstmäßigen Darstellung voransteht, ist aus der Sehnsucht der eignen Zeit heraus doch richtig verstanden. Auch die Nachahmung der Altdeutschen (ebenso wie der frühen Italiener) durch die Künstler selbst, so äußerlich sie verstanden wurde, und so unfruchtbar und verderblich dieses Archaisieren für die lebendige Entwicklung der Malerei wurde, mußte doch zur Erneuerung des Verständnisses und der inneren Beziehungen zu jener längst vergessenen Kunst beitragen. Wie denn die „historischen Stile“ des 19. Jahrhunderts ganz allgemein selbständige und bleibende Werte nicht zu produzieren vermochten, wohl aber für die Erweiterung und Vertiefung der historischen Weltansicht Unschätzbares geleistet haben. Alles in allem sind in den genialen, poesievollen Ahnungen der Romantiker die Umrisse gezogen, zart und unsicher, die nun die wissenschaftliche Arbeit von Gegenwart und Zukunft mit voller klarer Sicherheit der Anschauung zu erfüllen suchen muß.
Die Wissenschaft ist hier noch weit vom Ziel, und eine völlige Wiederherstellung der künstlerischen Entwicklung wird niemals möglich sein. Ein großer Teil der Denkmäler ist verloren — wieviel ist nicht schon durch den Bildersturm in manchen Gebieten Deutschlands vernichtet worden! Dazu kommt, daß die historische Überlieferung wenigstens für das 15. Jahrhundert vollständig verschüttet ist und nur mühsam mit Hilfe kärglicher Dokumente und einer allmählich sich vervollkommnenden Stilkritik wiederhergestellt werden kann.
Und dieser Mangel eines deutschen Vasari oder Karel van Mander wird um so empfindlicher, als in der vielfältigen Zersplitterung der deutschen Territorien die Zusammenhänge ohnehin doppelt schwer zu übersehen sind.
Solche Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Aufhellung des künstlerischen Entwicklungsganges scheinen nun freilich den kunstliebenden Laien wenig anzugehen. Indessen, die italienische Kunst dankt ihre bedeutende Gesamtwirkung und ihre zweifellos leichtere Zugänglichkeit doch nicht zum wenigsten der klaren und scheinbar ganz einfachen und logischen Übersichtlichkeit des Ganzen, wo klar bestimmte Persönlichkeiten an einer ebenso klar zu bezeichnenden Stelle des Gesamtplans wirkend eingreifen. In der deutschen Kunst trägt der große Eindruck der einzelnen Persönlichkeit oft genug den Charakter des Überraschenden, Entlegenen und Rätselhaften. Eine Erscheinung wie etwa diejenige Grünewalds hat in der unerklärten und unvermuteten Plötzlichkeit ihres Auftretens etwas Beunruhigendes — und wird es bis zu einem gewissen Grade wohl immer behalten. Denn schließlich ist es doch kein äußerer Zufall, daß die altdeutsche Kunst in ihrer Gesamtheit dem Verlangen des Forschers nach einer verstandesmäßig klar zu fassenden Disposition so wenig entgegenkommt — es ist, als ob die einzelnen Persönlichkeiten mehr für sich dahingehen als anderswo, weniger an die Regel gebunden, von einer starken Innerlichkeit, die ebensowohl in einsamer Verträumtheit oder schnurrigem Spiel, wie in explosiver Gewalt und grotesker Schreckhaftigkeit hervordrängt. Und dabei als der gleichsam normale Grundton des nach außen gekehrten Verhaltens eine trockene philiströse Sachlichkeit. Die italienische Kunst scheint daneben, um von allem andern zunächst abzusehen, von größerer Einheitlichkeit und Abgeklärtheit, von einer Normalität des künstlerischen Verhaltens, die dem modernen Beschauer wohl immer leichter ent-gegenkommen wird. Hier, in dem eigentümlichen Charakter der altdeutschen Malerei mehr noch als in der Unvollkommenheit ihrer Überlieferung, liegen die Gründe, die ein heutiges Publikum von ihr fernhalten. Und es soll nicht die lächerliche Anforderung gestellt werden, nun einfach alles und jedes mit Stumpf und Stil hinzunehmen oder gar zu bewundern — nur weil es deutsch ist. Die moderne Bildung ruht ja doch letzthin auf der Arbeit der Aufklärung, und es wäre nicht nur Undank, sondern Unsinn, wenn man die Resultate dieser Bildungsarbeit verleugnen wollte. Auch damit wird sie recht behalten, daß die italienische Renaissance für die Grundlagen unserer künstlerischen Kultur Unvergängliches und Unentbehrliches geleistet hat, für die mehr technischen Fragen der formalen Darstellung ebenso wie für den Ausdruck bestimmter, immer wiederkchrender Lebensgefühle. Was Dürer bereits gesehen und in seiner künstlerischen Praxis selbst eingestanden hat, wird man auch heute anerkennen müssen: eine Überlegenheit der italienischen Kunst, die nicht absolut genommen oder gar im Sinne der persönlichen Qualität gefaßt werden soll, doch aber in der allgemeinen Art ihrer Anschauung derart ist, daß ein inneres Ergänzungsbedürfnis den Deutschen immer wieder zu ihr hintreiben wird. Wir glauben auch nicht, daß die altdeutsche Malerei es nötig hat, daß man ihr Vorzüge andichtet, die sie nicht besitzt, und die Mängel leugnet, die sie doch einmal hat: sie bietet in sich selbst genug, um dem Betrachter den Eindruck einer vollen, alle Nebengedanken ausschlicßendcn Ergriffenheit mitzuteilen. Wer freilich immer nur die ,,klassische“ Form und eine saubere, schöne Klarheit und Anmut verlangt, wird bei ihr nicht zu seinem Recht kommen. Etwas von Mühe und Unbequemlichkeit des Sehens wie der allgemein geistigen Auffassung wird für uns bei der altdeutschen Kunst immer zu überwinden sein, aber es gehört, wie wir meinen, gegenüber der Aufklärung zu einer heutigen Weltbetrachtung notwendig hinzu, daß sie das Leben versteht und wertet auch da, wo es nur schwer und mühevoll ergriffen wird. Eine naive Ehrlichkeit und Kraft der Bildanschauung, die Lust volksmäßiger Erzählung, die unmittelbare Herzlichkeit des Ausdrucks, die ernste, nachhaltige Vertiefung des Geistes — hierfür muß man den Sinn offen halten, und diese Kunst wird ihren reichlichen Lohn bringen. Hier liegt dann auch das Recht jener Tat der Romantik. Renaissance und Mittelalter schließen sich, so gegensätzlich ihre Grundbegriffe auch sein mögen, für uns nicht mehr aus — es muß das beste Ergebnis unserer historischen Bildung sein, daß es uns gelingt, die Quellen und damit auch die weiteren Möglichkeiten unserer Kultur unbefangen und mit freudiger Bejahung zu erkennen.
Die altdeutsche Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts gehört dem Zeitalter eines erstarkenden Individualismus an, der in Deutschland ebenso wie in Italien emporkommt und in stetem Zusammenhang mit dem lebhafter werdenden Gefühl der Nationen von ihrer Eigentümlichkeit und Gegensätzlichkeit sich fortbildet. Das Neue in dieser Entwicklung ist dabei nicht so zu verstehen, als ob erst jetzt Wille und Kraft der Persönlichkeit erwachten — vielmehr liegt hierin, in jenem brutalen, zügellosen Egoismus der Epoche doch nur das Erbteil der mittelalterlichen Jahrhunderte, der immer noch vorhandene Überschuß elementarer Naturkraft. Das vielmehr ist neu, daß die Persönlichkeit das volle Bewußtsein ihrer selbst zu gewinnen beginnt, planmäßig Mittel zum Ausdruck ihres Willens, Kulturformen zu schaffen mit Erfolg bemüht ist. Es hängt fast notwendig mit diesem erwachenden Bewußtsein der inneren Selbständigkeit und Reife zusammen, daß die überkommenen Ideen und Institutionen der Kirche an innerer Bedeutung verlieren; das Gefühl eignen Könnens macht allenthalben das Leben weltlicher, weltfreudiger, reicher an diesseitigen Werten. Auch das künstlerische Schaffen soll hierzu helfen: zu dieser Erweiterung und Realität des Weltbildes — der Persönlichkeit sollen neue Mittel und Formen gegeben werden, sich selbst, ihr Wollen und Können, ihren inneren Reichtum und ihre Sehnsucht, ihr Interesse und ihre Idealität auszusprechen. Man mag die Anfänge dieses Geistes schon in dem Zeitalter der Gotik erkennen: an die Stelle überkommener Formeln tritt die eigne, Empfindung vielleicht mehr noch als Anschauung. Ein natürlicher, lebhafter und zarter Ausdruck für allgemeinste Erlebnisinhalte wird gefunden. Die Summe ist zu gering, die Formeln zu typisch, um einem stärkeren Unterscheidungsbedürfnis genügen zu können, und die fortschreitende künstlerische Arbeit des 14. Jahrhunderts, die, wie natürlich, sich innerhalb der einmal gegebenen Formeln der Gesamtauffassung fortbewegt, verliert zuletzt die Möglichkeit, Ausdruck des großen und starken, schaffenden Geistes der Epoche zu sein. Bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts der Bruch erfolgt: auf Grund der nunmehr errungenen Leistungsfähigkeit und doch als schärfster Protest gegen die Inhaltsarmut einer formelhaften, lebensarmen, gleichsam „akademischen“ Art der künstlerischen Produktion. Die Nationen gehen ihren eignen Weg, und das Italien der erneuerten Antike tritt mit vollem Bewußtsein aus dem Gemeingefühl der „barbarischen“ Völker heraus — die Kunst der Frührenaissance beginnt. In den Niederlanden kommt es zu jener glänzenden Tat der Eycks, die bald einen fast legendarischen Ruhm erlangt. Auch die deutsche Kunst kann nicht Zurückbleiben.
Die Weltlage Deutschlands in dieser Epoche ist dadurch bestimmt, daß die Nation als Einheit aufgehört hat, in den allgemeinen Beziehungen der Staaten zueinander entscheidend mitzuspielen. Überall frische Rüstigkeit, in einem Überströmen der Kraft, so daß hier und dort das deutsche Element dabei und vielfach voran ist, aber ohne Zentralisation, versprengt, in immer engeren Kreisen sich zusammenschließend. Außerhalb Deutschlands spielen die großen Kämpfe, ist lebendiger Ehrgeiz einer Gesamtheit. Italien herrscht durch die Kirche und, bald allgemein anerkannt, durch seine neue Bildung. In den internationalen Handelsbeziehungen begegnet zwar überall der deutsche Kaufmann, doch ohne daß der Anteil der Nation hinter ihm stände; bei den Entdeckungen steht Deutschland ganz abseits. Soviel Reichtum sich auch in den deutschen Städten anhäufen mag das große Leben der europäischen Welt rauscht außerhalb der Grenzen Deutschlands. So nun auch in der Kunst: im 15. Jahrhundert bieten die burgundischen Niederlande, im 16. Jahrhundert Italien den deutschen Künstlern den glänzenden Anblick einer einheitlichen, weit vorangehenden Entwicklung — vielfache Anregung und Förderung strömt von dort in die deutschen Gebiete über, teils durch Wanderungen der Künstler selbst nach den fremden Orten, teils durch Mittelwege, in jener im einzelnen kaum festzustellenden Verbindung, mittels deren auch die entlegensten Orte einer Kulturgemeinschaft an den Fortschritten teilnehmen, die an den Mittelpunkten des allgemeinen Lebens gemacht werden. Das bedeutet zunächst wenigstens, bis zum vollen Sieg der Renaissance — nicht eine Unterwerfung des eignen Selbstgefühls unter die fremde Kultur. Aber die Zentren der „modernen“ Entwicklung auch der Malerei liegen doch außerhalb der deutschen Grenzen: bei aller Fülle eigenartiger und bedeutender Leistungen hat die deutsche Kunst nur provinziale Geltung. Mit der Reformation wird das anders: in den allgemeinen, europäischen Fragen scheint die deutsche Nation, von einer großen Bewegung vorwärtsgetragen, die Führung übernehmen zu wollen. Gleichzeitig gewinnt, während doch der Einfluß Italiens sich bereits durchzusetzen beginnt, auch die deutsche Kunst eine internationale Bedeutung in der Persönlichkeit Dürers. Alles das nur für kurze Jahre dann erlischt alle Einheit und Selbständigkeit.
In dieser vorwiegend nach innen gewandten Sonderexistenz der Gesamtheit entfaltet sich eine sehr eigentümliche Kultur des Geistes. In den Städten, vornehmlich den oberdeutschen, mit ihrem Reichtum und Selbstbewußtsein, entwickelt sich ein reges bürgerliches Leben: eng im Umkreis, aber ohne Engherzigkeit, trocken, aber dabei doch das Gegenteil aller geistlosen Pedanterie, in naiver, phantasievoller Fröhlichkeit, noch nicht erstarrt in der Abschließung vom Land und von der Natur. Nach allen Seiten erweitert sich der Umkreis des Interesses und des Wissens, des Lernens und Verstehens. Die Kunst steht innerhalb dieser bürgerlichen Wohlhäbigkeit und Betriebsamkeit. Es fehlt die Steigerung der Kultur einzelner Kreise zu einer gewählten, den breiten Massen des Volkes unzugänglichen Vornehmheit des Geistes und des äußeren Verhaltens; wie es denn auch kein im besonderen Sinne höfisches Leben gibt. Trotz aller wirtschaftlichen und Standesunterschiede, trotz aller erbitterten Kämpfe ist doch das Niveau der Bildungsansprüche im ganzen gleichartig. Mit diesem Durchschnittston des bürgerlichen Geschmacks muß sich der Künstler abfinden. Er selbst gehört den mittleren Kreisen an, ist Handwerker in seiner Zunft, wie die Mitglieder aller andern Zünfte auch; die großen und die geringen Aufträge übernimmt er gleichermaßen. Schlecht und recht, tüchtig und haltbar, für die Allgemeinheit des Volkes verständlich und wirkungsvoll -— solchen Forderungen einer in allem Stolz doch kleinbürgerlichen Gesellschaft hat das Werk des Künstlers zunächst zu genügen. Welchen Spielraum aber hat dabei doch die individuelle Bildlust, und wie arbeitet auch der Künstler mit an der Bereicherung und Erweiterung des allgemeinen Horizonts des seelischen Lebens! Die Städte sind der Sammelpunkt solcher Tätigkeit, geben ihr aber nicht die Grenze — bis in das kleinste Dorf dringen die bedeutendsten Schöpfungen. Erst in der Zeit Dürers und wiederum unter seiner persönlichen Führung wird mit der veränderten Zusammensetzung der Gesellschaft auch die soziale Stellung des Künstlers anders — in einer neuen Weise beginnt er an der Führung der Nation teilzuhaben. Sein Schaffen bekommt damit neue Bedeutsamkeit, einen neuen Inhalt und neue Formen.
Über die tägliche Arbeit hinaus erhält das bürgerliche Leben seine höhere Idealität aus der Welt der religiösen Vorstellungen. Was für Italien die Renaissance ist: das innere Ziel aller geistigen Tätigkeit, soweit sie das Leben befruchten will — ist für Deutschland die Reformation. Es liegt in dem gleichsam privaten ebenso wie in dem allgemein bürgerlichen Charakter des deutschen Daseins, daß die Fragen der „Gerechtigkeit“ der Lebensführung einen besonderen Ernst erhalten, den schweren Ton der Einstellung dieser irdischen Existenz unter das Gericht der ewigen Wahrheit: einen jeden gehen sie an, einen jeden für sich allein. Die Hinwendung zur Antike war in Deutschland zunächst ausgeschlossen — die allgemeinen Probleme der mittelalterlichen Religiosität, die doch immer noch keine befriedigende Lösung gefunden hatten, mußten voranstehen, da es sich bei ihnen nicht nur um formale Bildung, sondern um die innere Sicherheit, die Ruhe und Zuversicht der Seele, um die Grundbegriffe des Lebens selbst handelte. In diesen Vorstellungen lebt jeder, der Höchste und der Geringste: in dem Gedanken an die Reinheit der Seele, die erreicht werden muß und doch nicht erreicht werden kann, in der Furcht vor dem Zorn Gottes und der ewigen Vergeltung, in der Hoffnung auf die Helfer und Gnadenmittel der christlichen Kirche. Alle diese Vorstellungen erscheinen in der starken, bildmäßigen Leibhaftigkeit des Mittelalters, wie denn in allem, in der gegenseitigen Abwägung, dem Inhalt und der Durchbildung der einzelnen Gedankenkreise die mittelalterliche Tradition ununterbrochen fortgeführt wird. Sie durchflicht sich nur mit dem bunten Zierat der empirischen Weltansicht, in einem Durcheinanderwirken der neuen Weltlichkeit mit dem doch vorwaltenden religiös-spekulativen Interesse. Diese ruhige, etwas schwerfällige, durchaus konservative Geistesrichtung hat nichts von freier, blendender Genialität, aber eine ungemeine Ehrlichkeit und Gründlichkeit. Und schließlich handelt es sich hier nicht weniger um Probleme des modernen Individualismus als in der italienischen Renaissance — das Mittelalter ist auch für uns nicht nur Vergangenheit, seine Fragestellungen behalten ewige Gültigkeit.
In diesem Umkreis eines Strebens nach „moderner“, d. h. klar erlebter und selbständiger Religiosität, auf dem Grunde doch der mittelalterlichen Bildung, hat die Kunst ihre Stelle. Die geistige und materielle Machtstellung der Kirche hat freilich überall zur Folge, daß in der europäischen Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts die kirchlichen Themata voranstehen — aber für Deutschland gilt das in einem besondern und fast ausschließlichen Sinne. Die Erzählung der heiligen Geschichten ist lebhafter und eindringlicher als anderswo, von einem erregten, fast leidenschaftlichen Interesse an der Sache, mit einer deutlichen Richtung auf tiefe, schmerzliche Ergriffenheit — die Passionsbilder sind besonders häufig und erhalten in der Kunst Dürers ihre großartigste, wenn man will, klassische Form. Gewiß, daß bei diesen Zeugnissen damaliger Frömmigkeit eine pietistische Feinfühligkeit nicht auf ihre Rechnung kommt — man greift derb zu, und oft genug ist mehr der rohe Griff der schweren Landsknechtsfaust zu spüren als eine tiefere Regung des Herzens. Oder aber: es scheint nichts als lauter wirklichkeitsfreudige Bildlust da zu sein. Immer aber ist doch die Rechtfertigung und der eigentliche Anstoß des Bildschaffens in dem auf die religiösen Fragen gerichteten Bildungsbedürfnis des deutschen Bürgertums gegeben. Die bildende Kunst hat auch das echt mittelalterlich —¦ ihre Funktion innerhalb des Lebens der bürgerlichen Gesellschaft darin, daß sie mit den naiven, schlagenden Mitteln einer ganz ursprünglichen Anschauungskraft, gleichsam als eine ungeheure biblia pauperum, das für die Seele heilsame Erziehungswerk der christlichen Religion vollenden hilft. Nichts wäre falscher, als wenn man die moderne auf das Formale gerichtete Kühle des Sinns in diese altdeutschen Bilder hineintragen wollte das lebhafteste inhaltliche Interesse verbindet Stück für Stück des Bildes mit dem Beschauer.
Im 16. Jahrhundert wird auch das anders. Das Bild beginnt seine unmittelbar für das Leben selbst bedeutsame Gegenwärtigkeit zu verlieren. Indem die Renaissancestoffe in die Kunst eintreten, tritt das veränderte Verhältnis zu den Gegenständen der künstlerischen Anschauung klar hervor: der inhaltliche Wert und die moralisch-religiöse, auf eine innere Umbildung des ganzen Menschen gerichtete Absicht verschwinden aus dem Prozeß der Bildgestaltung. Auch hier ist das Auftreten Dürers von entscheidender Bedeutung.
Man muß sich diese Dinge zur inneren Anschauung gebracht haben, wenn man die folgenden Bilder verstehen will. Es ist nicht möglich, der Kunst der Vergangenheit gerecht zu werden, wenn man von dem einen Standpunkt moderner Kunstbetrachtung die verschiedenen Lösungen immer wieder derselben Probleme festzustellen und in einen psychologisch folgerichtigen Fortgang der Entwicklung zu bringen sucht. Die Auffassung von dem, was Kunst ist und was sie soll, ihre Beziehungen zur Gesamtkultur und ihre Wertung innerhalb der geistigen Welt verschieben sich — auch heute ist die Kunst nicht schlechthin „Kunst“ als etwas, was ganz für sich ist, gleichsam im leeren Raum: sie ist als Gesamterlebnis ein Teil unserer geistigen Kultur, mit dieser untrennbar verbunden. Und so ist eine Umschaltung unseres ganzen Bewußtseinsstandes unumgänglich, wenn wir die Kunst früherer Zeitalter verstehen und ihr die Werte abgewinnen wollen, die, weil die wahrsten, auch die besten sind. Der Eindruck des Kunstwerks als lebendige Totalität, sowie er in der altdeutschen Malerei verstanden worden ist, und damit auch die von den Künstlern angewandten Formen erklären sich erst aus einer historischen Gesamtanschauung der Zeit, für die hier nur einige Grundlinien gezogen werden sollten. Wie entgegengesetzt ist doch in der deutschen Kultur des Reformationszeitalters gegenüber der italienischen Renaissance das Verhältnis von Kunst und Religion in ihrer Bedeutung für das Gesamtleben der Nation! Welche Subordination des künstlerischen unter das religiöse Interesse — der italienische Künstler mochte das emphatische Gefühl haben, daß er und sein Schaffen „die Blüte des Volkes“ bezeichneten; wie aber könnte man, trotz aller persönlichen Größe des Malers, das deutsche Leben der Epoche in Dürer statt in Luther gipfeln lassen wollen?
Zunftmäßig ist die Künstlerschaft organisiert. Nicht das Atelier — die Werkstatt ist der Entstehungsort des Gemäldes. Unter dem Schutz ihres Patrons, des heiligen Lukas, des Malers der Madonna; nach festen Gesetzen, wie etwa über die Zahl der Gesellen, und festen Regeln für Technik und Material wird gearbeitet. Ein Meisterstück, etwa ein Marienbild in bestimmter Größe und Ausführung, erschließt neben einer Geldleistung dem Gesellen den Zutritt zur Zunft. Die Güte des Werkes wird nicht so sehr nach der in ihm zutage tretenden Phantasieleistung als vielmehr nach der Solidität der technischen Herstellung bewertet. Man muß etwa die Briefe Dürers an Heller lesen, um zu sehen, wie noch in unserm phantasiegewaltigsten Künstler diese handwerkliche Wertung des eignen Schaffens selbstverständlich voransteht: er rühmt die „große Mühe“ und den „großen Fleiß“, die Sorgfalt in der Auswahl und Zubereitung der Tafel, die Kostbarkeit des Farbmaterials und die peinliche Zuverlässigkeit der Ausführung „von Reinigkeit und Beständigkeit wegen“, so daß sie nun „500 Jahre sauber und frisch sein werde“. Kein Wort von „rein künstlerischen“ Problemen. Die Gesellen arbeiten mit, und es wird dann wohl im einzelnen von den Bestellern ausbedungen oder vom Künstler versprochen, wieweit die eigenhändige Vollendung des Werkes durch den Meister selbst gehen soll und was der Ausführung durch die Gehilfen zufällt. Denn die Persönlichkeit bedeutet doch bereits unendlich viel — sieht man das Nebeneinander dieser Künstlercharaktere des 15. Jahrhunderts, so scheint es, als ob im ganzen Mittelalter ein persönliches Schaffen überhaupt nicht existiert hatte, als ob jene alten Werke, soweit sie einer Epoche angehörten, unter sich ununterscheidbar, wesensgleich seien.
Der Anlaß der Arbeit wird durch den Auftrag gegeben. Natürlich kommt es vor, daß auch ohne das ein oder mehrere Bilder in der Werkstatt hergestellt werden — aber doch nur, wie man sich mit einem Vorrat an fertiger Ware versieht, in Rechnung auf baldigen Absatz. Die freie Wahl des Themas fehlt ganz, nun gar die freie Erfindung des Gegenstandes durch den Künstler selbst‘ scheint ausgeschlossen. Immer wieder derselbe enge Kreis von Aufgaben, der erst mit dem beginnenden 16. Jahrhundert durchbrochen wird. In einer primitiven und natürlichen Festigkeit des Verhältnisses erhält so der Künstler seine Stelle innerhalb des Organismus der bürgerlichen Welt. Als Besteller erscheinen die einzelnen Mitglieder der verschiedenen Stände, die Korporationen, die Stadtgemeinde selbst, und sieht man von den (nach unserer Auffassung) rein handwerklichen Aufgaben, wie Stuben und Mobiliar anzustreichen, ab, so ist es vornehmlich der eine große Monumentalauftrag, der der Werkstatt überwiesen wird: der Altar. Offenbar, daß dieser „Tafelmalerei“ in Deutschland die erste Stelle gebührt — die Wandgemälde stehen dagegen durchaus zurück, obwohl auch sie ursprünglich, besonders in Oberdeutschland, äußerst zahlreich gewesen sind. Die dekorativen Aufgaben überwiegen hier, und die Entwicklung geht nicht auf die Wandmalerei hinaus — das Verhältnis von Tafelbild und Fresko ist in Deutschland entgegengesetzt als in Italien. Endlich sind auch „Tüchlein“, Bilder auf Leinwand, oft gemalt worden, jedoch nur in allergeringster Zahl erhalten. Unter den Aufgaben der Tafelmalerei ist neben dem Altar nur noch das Porträt von selbständiger und immer größer werdender Bedeutung.
Die Vollendung der Altarform ist auf dem Gebiet der bildenden Kunst die größte Leistung dieser Epoche. Von den kleinen, oft nur zweiflügligen Haus- oder Reisealtärchen erheben sich Umfang, Pracht und Bedeutung der Arbeit bis zur denkbar großartigsten Monumentalität. Es ist die Art, in der das gesteigerte Selbstbewußtsein des Einzelnen, der Gilde, der Kommune sich ausspricht, die Art, in der das Individuum sich ein Denkmal von Ewigkeitswert errichtet: aus der Angst der Seele heraus, als eine vollgültige äußere Repräsentation der Frömmigkeit und als ein Mittel der Versöhnung mit Gott. So ist der Altar zugleich eine der für die allgemeine Kulturentwicklung wertvollsten Formen der spätmittelalterlichen Werkgerechtigkeit — eine sichtbare, dem Gottesdienst und der Erbauung des Einzelnen bestimmte Darstellung der kirchlichen Lehrbegriffe. Fast alles, was von Bildern dieser Zeit in unsern Museen hängt, auseinandergenommen und auseinandergesägt, muß wieder in diesen ursprünglichen Zusammenhang zurückgedacht werden; ebenso fast alles, was auf den folgenden Blättern abgebildet ist. Es sind keine Bilder für sich, nur Teile von großen Bildgebäuden; Einzelstücke aus einem scholastischen System. Auch für die etwa einzeln errichtete Tafel gilt doch immer, daß sie sich einem solchen wenigstens gedanklich gegenwärtigen größeren Zusammenhang einordnet — wie das ganz deutlich wird an den einzelnen Darstellungen des Stationsweges: gleichsam ein für ein Nacheinander der Betrachtung aufgelöster Altar; denn schließlich ist dieser doch nur der vollkommenste Ausdruck dafür, daß dem einzelnen Kunstwerk Sinn und Bedeutung nur innerhalb des Zusammenhanges der ewigen Wahrheiten der christlichen Erlösungslehre zukommt. So fest scheinen diese gefugt, daß alles auf sie bezogen wird.
Der Altar ist, wenigstens der Regel nach und stets bei den größeren Aufträgen, keine Schöpfung allein der Malerei. Er ist ein vielgliedriges Ganzes, das in immer reicher werdender architektonischer Rahmung Plastik und Malerei vereinigt: holzgeschnitzte Figuren oder Reliefs und die Tafeln des Malers. Alles buntfarbig und vergoldet: in dem Gesamteindruck trotz aller trockenen Schärfe der Einzelausführung eine den Blick verwirrende, unübersehbare Unendlichkeit. Schreinerarbeit ist das Ganze, der letzte, große Triumph des gotischen Kunstgewerbes oder, wie doch besser zu sagen wäre, Handwerks. Schon an der Staffel oder Predella, dem niedrigen Unterbau des Schreins, kann die Füllung der Fläche dem Maler übertragen werden. Die wichtigste Arbeit aber fällt ihm bei den Flügeln zu, die an das Hauptstück des Schreins selbst angeschlossen sind. Zwei hohe und schmale Tafeln, oder gar vier, als Doppelflügel übereinander gelegt, wozu dann wohl noch, wie etwa bei Grünewalds Isenheimer Altar, feststehende Seitenstücke kommen können. An Werktagen sind die Flügel geschlossen, an Festtagen wirkt dann die breite Pracht des Nebeneinander der geöffneten Flügel und des geschnitzten Mittelstücks. Nichts lehrreicher als diese glänzendste Darstellung des mittelalterlichen Katholizismus mit den pompösen Schaugerüsten des Barock zu vergleichen: wie da das in aller Kunst doch Kunstlose, in aller Schnörkelhaftigkeit doch Primitive und Selbstverständliche , Wahrhaftige und Ernste jenes alten Katholizismus herauskommt. Für die künstlerische Auffassung bedeutet das, daß der spätgotische Altar die bewußte Scheidung der Künste noch nicht zur Voraussetzung hat, vielmehr Plastik und Malerei in einfacher Koordination verbindet — gegenüber jener rauschenden Steigerung des Ensembles, die der Barock aus der bewußten Verwertung und Verbindung der verschiedenen Wirkungen der beiden Künste herzustellen weiß. Bei jenen älteren Werken erfaßt das Bewußtsein nicht so sehr die Kunstform als die Sache: die Figuren der heiligen Geschichte, einzeln und in Historien vereinigt, stehen unter sich in unmittelbarer Zusammengehörigkeit, und für diese starke und ursprüngliche Auffassung des sachlichen Zusammenhangs tritt der Eindruck, ob Plastik oder Malerei, als bedeutungslos zurück. Die optische Erscheinung wird mit einer naiven Sehfreudigkeit verstanden, die auch das Diskrepante nicht bloß erträgt, sondern fordert: bunte und lebensfrische Mannigfaltigkeit, nicht kunstvoll gegliederte Einheit.
Es ist in einzelnen Fällen strittig, wie die Verteilung der plastischen und malerischen Arbeit in der Werkstatt, der der Auftrag überwiesen wurde, zu denken ist; ob die Erfindung oder gar die Ausführung dieser und jener Dinge ein und demselben Künstler zuzuweisen ist. Sieht man von diesen Fragen ab, die nur von Fall zu Fall entschieden werden können, so wird doch wenigstens anzunehmen sein, daß bei dem Entwurf des Ganzen der Maler den Vorrang hatte. Zu seiner Tätigkeit gehört denn auch die Vollendung der Schnitzereien durch Bemalung und Vergoldung. Wichtiger aber ist, daß der Werkstattbetrieb und der Geist deutlich werden, innerhalb dessen die Entstehung der altdeutschen Gemälde gedacht werden muß, und der so ganz von den heutigen Gewohnheiten und heutigem Denken abweicht. Es ist der mittelalterliche Trieb zu genossenschaftlicher Vereinigung der einzelnen und die Unterstellung ihrer Tätigkeit unter den Schutz und in den Dienst der Kirche. Die eigentliche Höhe dieser Altarkunst fällt in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, d. h. in eine Zeit, wo jene Zusammenhänge der Gesellschaft und der Kirche doch bereits sich aufzulösen beginnen. Reformation und Renaissance führen ihr Ende herbei.
Die besonderen Stoffe, zugleich aber auch die Auffassung des Inhalts und die Behandlung der Darstellungsform, der „Stil“ der altdeutschen Malerei, können nach dem bisher Gesagten nicht anders gedacht werden als im Zusammenhang und in unmittelbarer Fortsetzung der mittelalterlichen Entwicklung. Die vielgetadelte Bezeichnung dieser Kunst als „Spätgotik“ scheint jenes Verhältnis noch immer am einfachsten auszudrücken. Ein volles Ausleben der alten Anschauungsformen, und aus der so gewonnenen Kraft und Reife heraus ihre Vollendung zugleich und innere Überwindung.
Der Stoffkreis der deutschen Malerei der Spätgotik umspannt den ganzen, im Laufe der Jahrhunderte so unendlich erweiterten Umfang der christlichen Heilsgeschichte. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, wie alle diese Dinge für das Bewußtsein innerlich Zusammenhängen, wie von dem einzelnen Bild die gedanklichen Beziehungen nach allen Seiten ausgreifen: alles, Personen und Ereignisse, hat seine Stelle in dem Ablauf der großen Welthistorie, die von der Sünde zur Erlösung und zum Jüngsten Gericht führt. In die biblischen Vorstellungen und Geschichten ist das ganze ungeheure Erzählungsmaterial der Legenden eingeschaltet worden, und man bekommt in der deutschen Kunst vielleicht mehr als anderswo einen Begriff von der unübersehbaren Fülle dieser der christlichen Historie entnommenen Darstellungen. Dabei überwiegen in der Malerei durchaus die Bilder erzählenden Inhalts gegenüber der einfachen Repräsentation der heiligen Gestalten. Das in Italien so häufige Andachtsbild der Madonna mit Heiligen fehlt fast ganz; offenbar, daß die bloß plastische Gruppierung ohne Geschehen für den Deutschen die Möglichkeiten der malerischen Darstellung nicht genügend ausschöpft, als Bildinhalt nicht ausreichend erscheint. Die weltliche Erzählungslust, die noch keine eignen für das Gemälde darstellungswürdigen Stoffe besitzt, strömt nun in die Legenden und biblischen Geschichten ein und ergeht sich dort in immer reicherer Ausmalung und Ausschmückung der ursprünglichen Motive. Eine, je nachdem, heiter bewegte oder dramatisch spannende, mehr vielleicht noch grausliche und gräßliche Novellistik mit vielen anekdotischen Zügen: der Ton ist durchaus naiv und volksmäßig. Es ist selbstverständlich, daß man, mit einigen phantastischen Zutaten, das Kostüm der Zeit und die wohl-bekannte Umgebung dazu benutzt, die heiligen Vorgänge so glaubhaft wie nur möglich herauszustaffieren. Es ist das ebenso wie bei den großen, mit allen erdenklichen Zutaten ausgeschmückten geistlichen Spielen, mit denen die Malerei durch die lebhaftesten Beziehungen verbunden ist. Letzthin aber ist doch in diesem geistlichen Mummenschanz so viel innerer Anteil, so viel herzliche Ergriffenheit, daß das religiöse Empfinden immer wieder zu seinem Recht kommt.
Und es ist oft und richtig betont worden, daß der besondere Grundton in der Stoffwelt der altdeutschen Malerei doch schließlich durch das Vorwiegen der Passionsfolgen bestimmt ist. Die dargesteilten Dinge erinnern über den ästhetischen Eindruck hinaus an die ernstesten und wichtigsten Fragen des Lebens, und immer ist für diese Kunst charakteristisch, daß der Anblick der äußeren Erscheinung in dem Beschauer einen Ablauf von Gedanken und Gefühlen erzeugen soll, der weit über den Umkreis der sinnlichen Gegenwart hinausgreift. Ein Ausspinnen der inhaltlichen Beziehungen, ein Sinnieren und Grübeln haftet, auch außerhalb der kirchlichen Stoffe, der deutschen Kunst an.
Die bei allen Schnörkeln der Erzählerphantasie doch immer sachliche Absicht kommt in dem Stil der Darstellung zum deutlichen Ausdruck. Es liegt in den allgemeinen Verhältnissen der historischen Entwicklung, daß die romanisch-germanischen Völker des Mittelalters eine von Grund aus eigentümliche, nur aus ihrer Naturanschauung abzuieitende Kunst nicht hatten hervorbringen können. Das kulturelle Übergewicht der Antike und die schlechthin maßgebenden Anforderungen der Kirche hatten sich dahin verbunden, daß bei aller naiven Bildfreudigkeit doch die Elemente der Bildanschauung konventionell, von den erstarrten Bildformeln der Spätantike hergeleitet waren. Von Anfang bis zu Ende trägt die Kunst der mittelalterlichen Kirche den Lehrcharakter: daß die Dinge nicht so sehr dem Auge dargestellt als der geistigen Aufmerksamkeit gezeigt werden — nicht weil sie schön oder für das künstlerische Erlebnis wertvoll, sondern weil sie ihrer geistigen Bedeutung nach wichtig sind; so daß ihre Verbindung in nichts anderem bestehen kann als in einer chronistischen Nebeneinanderreihung auf der Bildfläche. Dieses Verhältnis — eine Absicht des Zei-gens und Lehrens als die erste und letzte des Kunstwerks und ein Konventionalis-mus der Gesamtauffassung bei aller naiv malerischen Empfindung und aller immer stärker eindringenden Wirklichkeitstreue und Weltfreudigkeit — bleibt in Deutschland bis zum Ende der Spätgotik wirksam. Wir erinnern an das, was über die innere Zusammengehörigkeit der gemalten und der Schnitzfiguren des Altarschreins gesagt wurde — die Figur steht außer oder vielmehr über allem Bildzusammenhang, ist so sehr Hauptsache, daß die andern Dinge nur Beiwerk, inhaltlich bedeutsame Flächenfüllung sind. Diese ursprünglich mittelalterliche Auffassung wird durch die reichere Ausgestaltung der räumlichen Umgebung wohl verdeckt, aber nicht durch eine prinzipiell neue Begründung der Bildeinheit ersetzt, wie sie in Italien, bei scheinbar gleichem Vorwiegen der Figur, durch die Empfindung ihres plastischen Charakters und durch die Herstellung der klaren Raumeinheit gewonnen wird. Es hängt das innerlich aufs engste zusammen: der unmittelbar und direkt zu dem Beschauer sprechende Lehrcharakter des Bildes hört auf, sobald es nicht nur gefühlsmäßig, sondern bewußt auf der Grundlage ästhetischer Wertung als Einheit gebildet wird. So erklärt sich das Irrationelle und Ungeordnete der Bilderscheinung. Die Gesichtspunkte der Flächenfüllung und der Darstellung der Räumlichkeit gehen nicht ineinander auf — Figuren und Dinge, die im Raum gedacht, aber nicht in ihm gesehen sind — überall ein innerer Widerstreit, wie er jener Disharmonie der Weltanschauung entspricht, in der die Dinge dieser und jener Welt sich miteinander kreuzen. Es fehlt die Einsicht der bildmäßigen Ordnung und die Kenntnis der elementaren Gesetze der Anschauung, wie sie selbst der freien Irrationalität der Darstellung zugrunde liegen muß — statt dessen immer noch sachliche Rücksichten, wenn nicht allein maßgebend, so doch die Komposition im voraus beeinflussend. Es fehlt die Einheit und Klarheit des modernen Bewußtseins.
Es ist nur ein besonderes Kennzeichen dieses allgemeinen Verhältnisses: daß die Perspektive versagt. Vielleicht wird dem heutigen Beschauer gerade das am störendsten auffallen, daß in der Unstimmigkeit der ganzen Bilderscheinung die Verkürzungen fehlen oder falsch gegeben sind, daß also der Eindruck der einheitlichen Raumillusion nicht zustande kommt. Die Dinge stehen, wie sie nicht stehen sollten — es ist hier für jeden am leichtesten nachzurechnen, daß diese Bilder „alt“ sind, und daß ihre Entstehung der Feststellung der Grundbegriffe unseres Denkens und Sehens vorangeht. Noch bei Dürer, der doch als erster — von Pacher ist hier abzusehen — die perspektivische Konstruktion beherrscht, ist diese Inkongruenz der einzelnen Bildstücke bis zuletzt spürbar: die Klarheit der Anordnung entsteht nicht aus einer natürlichen Freiheit der Anschauung, sondern trägt den Charakter des Erzwungenen; und darin Hegt das Großartige seiner Wirkung.
Wiederum nur ein besonderer Fall dieser spätgotischen Art der Bilddarstellung kommt in der Auffassung der menschlichen Figur zutage. Ihr Wert liegt in mittelalterlichem Sinne nicht in dem künstlerischen Erlebnis der plastischen Form, sondern in der geistigen Bedeutung, im Charakter und Ausdruck, in der Gebärde. Es ist nicht anders: die Figuren noch bei Dürer sind oft einfach falsch, unmöglich in der Körperbildung und verrenkt in der Bewegung, und wo — wir werden noch sehen, wie — die äußere Richtigkeit der Zeichnung erreicht ist, fehlt doch der freie Rhythmus, die von innen her lebendige Gesetzlichkeit der Gestalt. Auch hier fehlt in dieser direkt aus dem Mittelalter herzuleitenden Entwicklung die doch unentbehrliche, ernste und nachhaltige Beschäftigung mit den Problemen der formalen Richtigkeit und Klarheit. Die Allgemeinvorstellung vom menschlichen Körper bleibt leer, schematisch, indem noch immer nachklingt, daß die mittelalterliche Figurenzeichnung nicht von einer künstlerischen Bewältigung der Natur, sondern von Variationen antiker Vorbilder ihren Ausgang genommen hatte. Plastik und Malerei der Spätgotik zeigen gleichermaßen immer wieder, daß das Gewand den Körper aufzehrt, ihn gleichsam aus den Fugen bringt — damit der Ausdruck prononcierter spricht. Als ob mit den Linien des Gewandes auch die einzelnen Stücke des Körpers in unruhige Verwirrung gerieten — es sind ja doch nur Stücke, nicht Teile eines in sich empfundenen Organismus.
Auch wo die äußere Korrektheit der Zeichnung hergestellt ist, lebt die Figur nicht von einem plastischen Gesamtmotiv, sondern in dem inneren Glühen des Geistes. Wenn auch geläutert, ist Dürers Apostel Paulus die letzte und großartigste Gewandfigur, die in dieser mittelalterlichen Absicht entworfen ist. Es war nötig, diese gleichsam negative Bestimmung des spätgotischen Stils vorauszuschicken und positiv zu begründen. Der moderne Beschauer muß diese „Mängel“ der altdeutschen Malerei zugute rechnen. Sie sind, historisch gesehen, die selbstverständliche Kehrseite der großen positiven Leistungen dieser Kunst.
Nur indem die Aufgaben der plastisch-räumlichen Klärung des Bildes zunächst hintan blieben, war die bunte Vielseitigkeit und objektive Gerechtigkeit des Weltbildes zu erreichen, wie es sich in der altdeutschen Malerei enthüllt. Es wird jedem auffallen, wieviel mehr verschiedenartige Dinge mit offenbarster Freudigkeit in diesen Bildern dargestellt sind als in den Werken der italienischen Malerei: Pflanzen und Tiere, alle möglichen toten Dinge, zum Teil schon fast von stilllebenartiger Wirkung, die Stoffe und Einzelteile des Kostüms usw., vor allem, entsprechend der ausführlichen Behandlung des Innenraums, die Landschaft.
Ein stark ausgesprochener Wirklichkeitssinn wird deutlich. Die niederländische Kunst, die bei alledem durch eine innere Gemeinsamkeit mit der deutschen verbunden und zugleich ihr voran ist, hat da gerade mannigfach eingewirkt. In dem feinen Gefühl für Farbe und Licht kommt ihr die deutsche Malerei kaum jemals gleich, dafür aber hat diese nun die größere Energie der Zeichnung voraus, eine stärkere und härtere Empfindung für die Wirkung der Linie. Mit ihr gelingt die Ausbildung der verschiedensten, in Form und Ausdruck scharf betonten Typen: die menschliche Welt scheint in ihrem Reichtum an individuellen Formen fast über alle Möglichkeit hinaus vervielfacht und erhöht. Und was für eine Fülle von eigenartigem Ausdruck, Gefühl, Stimmung kommt zusammen, wenn man sich diese deutschen Varianten des menschlichen Antlitzes und der Gebärden zu vergegenwärtigen sucht. Der immer noch anhaltende mittelalterliche Grundzug dieser Psychologie ist deutlich: mit dem Hervorheben von einzelnen, äußerlich scharf markierten Zügen, mit der darin liegenden Vereinfachung zugleich und Übertreibung der Charakteristik. Im ganzen noch mehr Reichtum und Kraft als Feinheit — wo diese zu suchen wäre, findet man dann aber Herzlichkeit und Innigkeit und wird gewiß nicht enttäuscht.
Die Darstellung dieser bunten und noch ungeordneten, aber ebensowohl heiteren und kuriosen wie bedeutenden Welt erstrebt und erreicht eine Präzision der Formbezeichnung, die über alles hinausgeht. Natürlich gibt es auch in der deutschen Kunst nach dieser Seite hin Unterschiede, im allgemeinen aber wird eine zähe, harte und eigenwillige Genauigkeit der Sachangabe erstrebt, wie sie dann in der vielbewunderten und in der Tat ja unübertrefflichen Schärfe der Dürerschen Zeichnung zur höchsten Vollendung kommt. Doch wohl hierin zuerst lag es, daß seine Kunst europäischen Ruhm gewann. Man mag, in Verbindung mit jener objektiven Vielseitigkeit der deutschen Kunst, hier das Vorwalten eines Sinns für wissenschaftliche Richtigkeit und Exaktheit erkennen. Und es wäre damit zu verbinden, was über das Streben des deutschen Malers nach handwerklicher, technischer Vollendung und Solidität gesagt wurde. In der Tat ist genug von beidem dieser Kunst zu eigen. Aber dem Bereich des Prosaischen und Philiströsen, dem somit diese Anschauung verfallen scheint, wird sie durch ihre stets vorhandene innere, durchaus künstlerische Lebendigkeit entzogen. Überall, und so auch vor allem bei Dürer, ist klar, daß die Absicht niemals mit einer toten, photographischen Ähnlichkeit zwischen Kunstwerk und Objekt zusammenfällt. Die Dinge werden gesteigert nach der Seite des inneren Ausdrucks und der Bewegung der Oberfläche — es ist kein nüchternes Konstatieren und Aufzählen, sondern ein Erleben der Form von allerhöchstem künstlerischen Wert. Sicher wohl, daß hierin, in dem Willen mehr noch zum starken Ausdruck, zum Lebenatmenden als zur genauen Form, der eigentümlichste Antrieb der deutschen Kunst liegt. Es ist die Umbildung des in mittelalterlichem Sinne „Sprechenden“, Bedeutungsreichen der Erscheinung zu einer persönlichen Auffassung, in der an Stelle des Symbolischen das wirkliche Erlebnis tritt.
Nur von hier aus kommt man auch zur Erklärung der letzthin wohl bezeichnendsten Eigentümlichkeit dieser spätgotischen Kunst: ihrer Empfindung für die Linie. In ihr vor allem kommt ja die besondere „Stilisierung“ der äußeren Erscheinung zustande, jene Durchdringung der geschauten äußeren Form mit der inneren 14 Lebendigkeit des künstlerischen Geistes. Die Präzision und Schärfe des Strichs, dazu eine unruhige und gespannte Bewegung durch ebendiese Eigenschaften der Zeichnung werden jene Genauigkeit der Formangabe und die doch zugleich gesteigerte Lebhaftigkeit des Eindrucks erreicht. Endlich aber die harte Festigkeit der Hand: das „Holzgeschnitzte“ der Figuren, vielleicht am deutlichsten jedoch die, je später im 15. Jahrhundert, desto auffälligere Gewandzeichnung mit den hart-brüchigen, scharfwinklig ineinander stoßenden Faltenzügen und den wenigen, aber wie aus Stahl elastisch gespannten Kurven —und das sind doch eben nur die wichtigsten Zeugnisse einer natürlich überall durchgreifenden Empfindung. Es ist hier, wie ja klar, ganz unmöglich, von einem „Naturalismus“ im eigentlichen Sinne zu sprechen, und die alten materialistischen Erklärungsversuche aus der Art der damals getragenen Stoffe oder aus der Technik der Holzschnitzerei werden heute von niemandem mehr ernst genommen. Es ist die Umbildung der konventionellgotischen Linie nicht im Sinne einer Naturannäherung, sondern zu einem neuen Konventionalismus, der aber diejenige Ausdruckskraft besitzt, die dem neuen Weltgefühl entspricht: nicht mehr weich und fein, innig und gefühlsselig, sondern stark und hart, „wahr“, d. h. ein Protest gegen idealistische Schönfärberei der Erscheinung. Die dekorative Bereicherung dieses Stiles, der noch vor der Mitte des Jahrhunderts sich durchzusetzen beginnt, zeigt dann immer deutlicher, wie irrational, rein aus einem Gefühlsbedürfnis heraus, diese Behandlung des Linearen zu verstehen ist. Man sieht das besonders am Gewand: ein ungemein lebhafter „malerischer“ Totaleindruck, im einzelnen aber die Willkür eines unruhigen, in aller energischen Schärfe ziellosen Hinundherfahrens des Strichs — bis dann mit der Festigung der Stimmung und der Klärung der Form auch die Vereinfachung und schließlich Rationalisierung der Linie eintritt.
Die altdeutsche Malerei ist mehr noch Erlebnis als Abbild der äußeren Welt, wie denn auch die Farbe des eigentlichen Wirklichkeitscharakters entbehrt. Es ist doch immer dasselbe: daß das ganze Bild mit aller Anhäufung von Einzelwirklichkeit doch eben nicht als Ausschnitt eines wirklich geschauten Weltbildes entsteht, sondern als Erfüllung einer inhaltlich verstandenen und daher konventionellen Darstellungsform mit äußerer Wirklichkeit und innerem Leben. Nimmt man die Summe dieser altdeutschen Malerei, so sind in ihr gleichsam die Schichten des historischen Bildungsprozesses in unmittelbarer Gegenwärtigkeit sichtbar: die lebendige, fast kindliche Naivität der Bildanschauung als das unverbrauchte Erbe einer ursprünglichen Naturkraft — die Gesamtform der übernommenen kirchlich-spätantiken Bildauffassung als der notwendige Rahmen der eignen Kulturleistung — endlich der neue Gewinst an äußerer Wahrheit und seelischer Durchdringung.
Das ist nun die eigentümliche Idealität dieser Weltanschauung: eine Gerechtigkeit des Sinns, eine ehrliche und bescheidene Anerkennung der unendlich vielfältigen Möglichkeiten des Daseins — damit untrennbar verbunden eine offene Freudigkeit und herzliche Zustimmung, zugleich aber die stärkste Spannung eines nach innen gewandten Sinns. Demütig vor der Erscheinung fremden Lebens als vor etwas Göttlichem, und zugleich ein unbekümmerter Ausdruck der eignen, nach Vollendung drängenden Subjektivität. Eine Mischung von nüchterner, verstandesmäßiger Beobachtung und kühnster Phantasie, beides verbunden in einem männlichen, tiefen Ernst der Weltauffassung, die sehen will, nicht nur wie die Dinge sind, sondern wie sie sein sollen. So ist diese Erklärung der Welt auch, aber nicht allein „Anschauung“, und es fehlt ihr die Möglichkeit des „Bildens“ einer schönen Einheit der Erscheinung. Die Kunst ruht hier mehr als in der Renaissance auf dem Grunde einer Weltansicht, die vom Gefühl aus, durch ein Nach- und Neuerleben dem objektiven Dasein nahekommen will — das Erlebnis ist jedoch nach außen wie nach innen nicht fertig, birgt sich noch in der Hülle der mittelalterlichen Formeln. Es ist eine Zeit des Suchens, der Unruhe und des Kampfes — keine in sich vollendete Kultur. Wer deutsche Kunst gesehen hat, weiß, daß sie einen Überschuß von Innerlichkeit, von Gedanklichem und Gefühlsmäßigem, und daß sie Antriebe des Willens von innerlich bildender, ethischer Kraft enthält. Die Epoche ist vielleicht die größte Zeit der deutschen Geschichte für die Ausbildung des Charakters und der sittlichen Freiheit des Individuums, und es ist, historisch gesehen, vielleicht doch die größte Leistung der altdeutschen Kunst, daß sie an dieser Charakterbildung des Volkes den lebhaftesten Anteil gehabt hat. Was bedeutet nicht allein das Schaffen Dürers für die Bereicherung der Nation mit Werten innerlichster und reinster seelischer Kultur!
Heißt das nun, den Wert der Kunst nach einem außer ihr Liegenden bestimmen? Für den Deutschen jener Zeit gewiß nicht: es war so, daß die künstlerische Anschauung in aller ihrer Frische ihm doch nur ein Teil des allgemeinen Welterlebens sein konnte.
Es zeigt sich bei näherem Zusehen, daß die deutsche Kunst des spätgotischen Zeitalters in ihrer Auflösung in einzelne Lokalschulen der geschlossenen Einheit ebenso entbehrt — wie die Nation selbst. Natürlich: territoriale Unterschiede, Lokalschulen gibt es ebensogut auch in Italien und den Niederlanden, aber es scheint, als ob die Dinge sich in Deutschland mehr noch durcheinanderschieben, mannigfaltiger und zugleich weniger stationär sind.
Die erste große Scheidung — zwischen Ober- und Niederdeutschland — ist freilich in allem wesentlichen klar. Die niederdeutschen Gebiete sind mit den stammverwandten Niederlanden, auch durch die in der Hansa begründeten Handelsbeziehungen, kulturell aufs engste verbunden. Entweder findet ein reger Import niederländischer Kunstwerke statt, oder es steht, wie am Niederrhein und in Westfalen, die einheimische Kunsttätigkeit in engsten Abhängigkeitsbeziehungen zu derjenigen der Niederlande. Große Teile von Niederdeutschland, Sachsen und Brandenburg, werden im 16. Jahrhundert durch den Einfluß der Cranach-Werkstatt an die oberdeutsche Kunst angeschlossen; sonst aber schien es durch jene inneren ebenso wie durch äußere Gründe zweckmäßig, die Darstellung der im eigentlichen Sinne niederdeutschen Entwicklung demjenigen Bande vorzubehalten, in dem die niederländische Kunst behandelt werden soll. Auch die kölnische Malerei nach Lochner, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und im Beginn des 16. Jahrhunderts, wird dort erst eingefügt werden. Es schien das kleinere Übel, daß dabei die Zusammenhänge innerhalb der kölnischen Schule preisgegeben wurden — die Fäden, die entsprechend den sonstigen Kulturbeziehungen nach den 16 Niederlanden hinführen, sind doch mindestens ebenso stark. So wird mit einer besonderen Ausschließlichkeit der Begriff der „altdeutschen Malerei“ so verstanden, wie er dem allgemeinen Sprachgebrauch nach ohnehin meist verstanden wird: als der Malerei in den oberdeutschen Kunstgebieten.
Es sind diejenigen Gebiete, in denen auch die mittelalterliche Literatur ihre Blütezeit gehabt hatte. Eine freie Regsamkeit und Freudigkeit des Sinns, lebendig und heiter, eine ursprüngliche Bildlust scheinen untrennbar mit dem Charakter dieser Bevölkerung verbunden — der Norddeutsche wird dagegen immer stumpf und trocken, unfroh und schwerfällig erscheinen. Wir kommen in die ehemaligen Lande des schwäbischen, bayerischen und fränkischen Stammes, und auch noch die Kunstgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts muß vielfach an diese alte Stammeseinteilung anschließen, um die einzelnen Schulen zusammenzufassen und von einander zu scheiden. Aber man kommt nicht mehr damit aus, wie denn ganz allgemein die Grenzen der Stämme verwischt, mehr noch aber durch die fortschreitende territoriale Aufteilung neue engere Zusammenhänge geschaffen worden sind. Die großen Handelszentren und andere Stätten gesteigerten Verkehrs bilden besondere Lokalschulen, in denen unter dem Einfluß von besonders hervorragenden Künstlern eine eigne Tradition sich erzeugt — die Lebenskraft und Bedeutung aber dieser Schulen ist ungleich: auf eine glänzende Entwicklung folgt ein schneller Absturz, während gleichzeitig, scheinbar aus dem Nichts, die Kunst an anderer Stelle mit rätselhafter Schnelligkeit emporblüht. Einigermaßen stationär und gut faßbar scheint der Gegensatz der schwäbischen (Ulmer und Augsburger) und der fränkischen (Nürnberger) Kunst: dort breite, volle und weiche, hier spitze und scharfe Formen — eine ruhige, gelassene, (wenigstens von deutschem Geschmack aus) schönheitsvolle Empfindung gegenüber dem fränkischen Trieb zu ernster und herber, wohl auch bitterer Charakteristik — schwäbisch dann endlich ein lebhafteres Gefühl für die mild oder prachtvoll leuchtende Farbe entgegen der mehr linearen, in der Farbe trocknen Nürnberger Art. Dann etwa der derb grimassierende, fast karikaturenhaft lebendige Stil der bayrischen Kunst — und so könnte man auch für die andern Schulen nach Formeln suchen (und hat es zum Teil schon getan), in denen ihr Stilcharakter gefaßt werden könnte. Doch hat man es hier mehr noch mit den Ergebnissen einer durch äußere Zufälligkeiten wenigstens mitbestimmten historischen Entwicklung als mit deren Grundlagen zu tun.
In dem Überblick über die Epochen und die führenden Persönlichkeiten in der Geschichte der altdeutschen Malerei wird notwendig auch von den einzelnen Lokalschulen und ihrer Eigenart die Rede sein müssen.
Um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert hatte, zuerst in den Zentren des französisch-niederländischen Kulturgebietes, ein Stil sich zu entwickeln begonnen, in dem die Elemente einer neuen Naturanschauung sichtbar wurden. Noch keine entschiedene, in bewußter Opposition vollzogene Scheidung von dem Geist der Gotik des 14. Jahrhunderts, kein Bruch der Tradition, ein allmähliches Fortschreiten auf bereits gebahnten Wegen. Auch die deutsche Malerei nimmt innerhalb jener großen Kulturgemcinschaft der romanisch-germanischen Nationen — an dieser Entwicklung teil, wenn auch im einzelnen die Art der Vermittlung vom Zentrum der Bewegung zur Peripherie hin nicht mehr festgestellt werden kann. Die Werke, mit denen unsere Abbildungen beginnen, gehören dieser vor der eigentlichen Entscheidung liegenden Übergangszeit an, etwa dem Jahrzehnt von 1420- 30. Noch überwiegen, wenigstens für den ersten Eindruck, die gleichmäßigen, typischen Zuge. Ein Kölner — der früher so genannte „MEISTER Wilhelm“ —, ein mittelrheinischer und ein wohl oberrheinischer Meister, Lukas Moser in Schwaben, dei MEISTER FRANCKE als der führende Künstler in Hamburg — kaum, daß zwischen zweien von ihnen direkte Zusammenhänge anzunehmen wären, aber die persönliche Nuance, die sie voneinander unterscheidet, ist noch so gering, daß sie dem ungeübten Auge, wenigstens in der verkleinerten Schwarz-Weiß-Wiedergabe, kaum als sehr wesentlich auffallen wird. Wie rücksichtslos bis zur Brutalität drängt sich dagegen in der folgenden Generation das Persönliche, Eigenwillige dem Beschauer auf! Die Gesamterscheinung weich oder doch von einer milden Gehaltenheit, ohne heftiges Zufahren, eine leise Vornehmheit und viel noch von der „minniglichen“ Holdseligkeit der vorhergehenden Epoche. Das Körperliche von einer unfesten, flaumigen Lockerheit, ohne rechte Schwere und Wucht des Auftretens, der Raumeindruck auch da, wo Wert auf ihn gelegt wird, nicht klar und jedenfalls nicht schlagend entwickelt. Und doch ist überall sichtbar, wie der Künstler über die Typik hinaus der Natur nahekommen will, und wie in diesem Streben nach Bereicherung und Differenzierung des Eindrucks die Persönlichkeiten auseinander treten. Das Bild des himmlischen Minnegärtleins mit seiner kindlich-harmlosen Zartheit, mit dem Unerschlossenen, Knospenhaften auch der menschlichen Bildung mag am weitesten zurück scheinen, und jedenfalls ist kein Zweifel, daß Moser, allen übrigen voran, den Zielen dieses beginnenden Realismus besonders nahekommt. Ein Blick auf die See, mit nur wenig kräuselnder Bewegung der Oberfläche, auf dem Wasser der Kahn, mit der Spitze nach vorn, den Kiel in die durchsichtige Flut hinabsenkend — es ist, für uns wenigstens, das erste Landschaftsbild der deutschen Kunst, das erste, in dem die Landschaft so gegeben ist, daß sie für den Gesamteindruck maßgebend wird. Freilich, in der schmalen Tafel liegt der Horizont viel zu hoch, und das mit den großen Figuren dicht besetzte Schiff im Vordergrund geht mit den zurückliegenden Teilen nicht zusammen; die Bildung der Küstenformen ist schematisch, unmöglich; an Stelle des Himmels leuchtet noch der Goldgrund — aber trotz alledem: gegenüber jenem Garten, der trotz (oder wohl auch wegen) der vielen Blümlein noch so gar nicht ein Bild der wirklichen Natur zu scheinen vermag, ist der Fortschritt offenbar. Und ähnlich ist es mit der Architektur auf dem zweiten Bild, die auf ihre räumliche Wirkung und Klarheit hin etwa mit derjenigen auf Meister Franckes Geißelung verglichen werden mag — auch hier kann man bei Moser leicht noch auf Schwächen und Fehler hinweisen, wie denn die interessante und sehr wirksame, aber phantastische Zusammenschiebung der einzelnen Stücke auch hier nicht ganz auszudenken wäre. Dann aber steht, verblüffend selbstverständlich, mitten in dieser fremdartigen Umgebung ein schwäbisches Fachwerkhaus, völlig echt, direkt aus der Natur herübergenommen. So ist es nun mit allem: die abstrakte Idealität der Bildung beginnt sich mit wirklichem Leben zu erfüllen. Die körperliche Erscheinung wird breiter, knochiger; die Linien, vornehmlich des Gewandes, die bei dem 18 Meister Francke noch ganz die schlängelnde Weichheit der früheren Zeit haben, werden härter; die Bewegung und die Zusammenfügung der Gestalten verlieren die gefällige Anmut, die am reizendsten in den zierlichen Engelgrüppchen des Kölner Veronika-Bildes hervortritt. Das Stimmungsmäßige, die Charakteristik des Psychischen bekommt gegenüber der so fein empfundenen, aber in aller Lebhaftigkeit noch etwas dünnen Art des Meister Francke einen schwereren Klang, etwas von stiller, fester Nachhaltigkeit. Aber über dem Ganzen liegt doch auch bei Moser noch jener Duft keuscher Frömmigkeit, jene Schüchternheit der Seele — die dann von der folgenden Generation mit gewaltsamem Ansturm zerrissen wird.
In STEPHAN LOCHNERS, des Kölners, Werken wird freilich von diesem neuen Sinn nur wenig fühlbar, trotzdem er zeitlich bereits ganz der Epoche angehört, die etwa von 1430 bis über das Jahr 1450 hinaus zu rechnen ist. Das persönliche Temperament des Künstlers mag da mitsprechen — es gibt ja auch sonst Beispiele dafür, daß in einzelnen Künstlern der Geist des Trecento bei äußerem Anschluß an den Fortschritt der Stilentwicklung bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts lebendig bleibt. Aber es ist doch vornehmlich die besondere Richtung der kölnischen Schule, die von jenem „Meister Wilhelm“ eine besondere Zartheit der Empfindung als Erbteil übernimmt und auch in der Tätigkeit des um eine Generation späteren Künstlers festhält. Mit dem Anmutreichen der Bildung bleibt auch die lichte und blumige Farbigkeit, rosig und locker. Aber es kommen tiefere Klänge dazwischen, und selbst da, wo der Reiz des Bildes nur in jener holdseligen Weichheit und kindlichen Heiterkeit des vorhergehenden Stils zu liegen scheint, ist doch deutlich, daß die Körperlichkeit voller und rundlicher, die Gruppenbildung klarer und entschiedener, die Raumwirkung bewußter geworden ist. In der Darstellung des Seelischen tritt eine letzte Verfeinerung zu reinster Süßigkeit der Empfindung ein. Dann aber zeigt die sehr bedeutende Erfindung des „Dombildes“, daß der Maler einen großen Eindruck reich und edel, mit einer feierlichen Großartigkeit zu gestalten weiß. Die Symmetrie der Komposition — wobei der eine von den Königen auf gleiche Stufe mit den Gefolgsleuten zurücktreten muß —, dazu die Anordnung der Figurenmenge, in der das Gedrängte der Erscheinung in den Scharen der Ritter und Jungfrauen und die freie Übersichtlichkeit der Hauptszene stark kontrastiert sind: all das gibt dem Bild eine neue, klar empfundene Monumentalität. Man muß dabei die (hier nicht abgebildeten)
Flügel mit den Heiligengruppen zu dem Mittelbild hinzudenken. Es ist dann nochmals — für uns wenigstens – eine Steigerung, wenn die Flügel des Altars sich schließen und die einfach-großen Gestalten der Verkündigung Mariä vor dem Beschauer erscheinen. Und doch bleibt auch hier, in dieser vielleicht großartigsten Schöpfung Lochners, der eigentümliche Charakter seiner Kunst: daß alle Gewaltsamkeit und Härte, alles Erzwungene dieser Größe der Erscheinung fern bleibt. Es ist eine innere Hoheit der Gesinnung, die die Berührung der niederen Wirklichkeit scheut. Schlechthin vollendet auch in dem Sinne jedoch, daß eine lebendige Fortbildung dieser idealistischen Kunst nicht möglich scheint.
Einzelne Töne der Lochnerschen Art klingen in der ganzen weiteren Entwicklung der kölnischen Malerei bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts nach ihre direkten Nachfolger aber, vor allem der „Meister des Marienlebens“, leiten entschieden zu einer Vorherrschaft des niederländischen Einflusses über, von dem diese Schule dann niemals wieder ganz loskommt. Die eigentümliche Idealität der kölnischen Malerei hat in Lochner ihren Höhepunkt und in gewissem Sinne ihren Abschluß erreicht.
Die wesentlichen Aufgaben der Zeit waren mit solcher im besten Sinne edlen Friedfertigkeit des Geistes nicht zu gewinnen — Erobererstimmung, die vor nichts zurückscheut, ein brutales Selbstgefühl und ein temperamentvoller Naturalismus charakterisieren diejenigen Persönlichkeiten, in denen der Fortschritt der neuen Kunst am deutlichsten hervortritt. Es ist nicht möglich, bei der Erklärung solcher Erscheinungen wie des KONRAD WITZ und MULTSCHERS von formalen Problemen auszugehen: als ob nur eine so und so bestimmte Umbildung der malerischen Darstellung ihr Ziel und der Grund ihres Schaffens gewesen wäre. Man würde so niemals die Leidenschaft der neuen Auffassung, den wilden Protest gegen die Kunst der Vergangenheit verstehen. Es ist das Hervorbrechen eines neuen Gesamtwillens der Persönlichkeit, eine neue Weltanschauung und damit auch eine veränderte Wertung der Kunst, ein neuer Begriff von der Art der Eindrücke, die das künstlerische Schaffen erzeugen, und durch die es eine innere Erhöhung des allgemeinen Lebensgefühls hervorbringen soll. Das Bewußtsein der Selbständigkeit des Individuums gegenüber traditionellen Wertungen ist niemals wieder gleich stark und schlagend zum Ausdruck gekommen. Man hat diese Formeln einer durch die Konventionen der Gesellschaft und der Kirche geforderten Idealität so gründlich satt, dieses ewige Predigen von seelischer Reinheit und keuscher Zurückhaltung, von feiner Zierlichkeit und einer Unterdrückung der Leidenschaften, von einer wesenlosen Verklärtheit des Geistes. Diese Begriffe haben ihr Salz verloren, haben nicht mehr die kulturerhöhende, begeisternde Bedeutung, die sie einmal hatten, geben nur mehr eine holde, auf die Dauer unerträgliche, langweilige und einschläfernde Schwächlichkeit des Sinns. Man will etwas leisten, und die Möglichkeiten des alten Systems sind erschöpft. Immer nur Goldgrund und lichte Zartheit! Es ist das gute Recht dieser neuen Zeit, daß sie die Ehrfurcht nicht kennt und wild und grob zuschlägt — denn es ist keine Spur von dekadentem Zynismus dabei, von krankhaftem und leistungsunfähigem Eigendünkel. Nur gesunde, überquellende Schaffenslust, die derb zugreifen darf, weil neue Werte aus ihr hervorgehen. Sie stellt neue Aufgaben: die Entwicklung der starken, großartigen Gesinnung und die Entzündung mächtiger, Leben schaffender Leidenschaft, die Fülle und Wahrhaftigkeit der Anschauung von Dingen und Verhältnissen des äußeren Daseins. Man spricht von dem neuen Naturalismus: voran steht, daß der Eindruck des Kunstwerkes helfen soll, Größe und Intensität der allgemeinen Lebensauffassung zu erzeugen. Eine starke, letzthin eine heroische Weltanschauung, vermittelt durch die Formen der künstlerischen Darstellung, ist das Ziel, und Konrad Witz kommt ihm wenigstens nahe — sonst ist es notwendig mehr noch ein wilder Tumult, aus dem erst durch lange fortgesetzte Arbeit und Läuterung des eigenen Willens die wahre Größe sich emporhebt: in der Kunst Dürers. Es ist entscheidend, daß die deutsche Malerei den ethischen Sinn dieser Wandlung vor allem ergreift — die niederländische Kunst, die ihr vorangeht und so vielfach das Vorbild gibt, ist ruhiger, existenzfroher, und die 20 Italiener suchen mehr den Eindruck der formalen Geschlossenheit der Erscheinung.
Die Kunst des Witz hat etwas stoßartig, gewaltsam Vordringendes der Anschauung, eine aggresive Stimmung, die auf den Betrachter mit den gröbsten sinnlichen Mitteln eindringt, ihn beunruhigt, zu innerer Aktivität und zum Kampf um die Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts zwingt. Die Behandlung des Körperlichen und des Raumes hat bei ihm diesen Sinn: daß der Betrachter zurückprallt, daß er verblüfft, geschlagen (fast im wörtlichsten Sinne) dasteht. Man muß, um diesen auch heute noch sehr starken Eindruck ganz zu verstehen, sich auf den Standpunkt jenes wirklichkeitsschwachen Stils noch vor der Kunst Mosers zurückversetzen. Als ethisch gerichtet in einem höheren Sinne durchgebildeter Kultur kann diese Kunst des Witz natürlich nicht gelten, aber sie enthält die Kraft zur Erweckung des Willens, des Charakters, der Männlichkeit. Die Gestalt des alttestamentlichen Priesters ist, soviel Unedles und Dumpfes ihr noch anhängt, doch nicht nur in formalem Sinne der bedeutendste Vorläufer der Dürerschen Apostel.
Konrad Witz stammte aus Konstanz und war vornehmlich in Basel tätig, aber wir wissen, daß seine künstlerische Bildung durch die niederländische Malerei aufs stärkste beeinflußt worden ist. Bereits der Vater, Hans Witz, von dessen Kunst wir freilich noch keine sichere Vorstellung haben, war längere Zeit am burgundischen Hofe tätig gewesen. In nächster Nähe des Jan van Eyck — dem Stil nach scheint jedoch die Art des Konrad Witz mehr noch als der Kunst des Eyck derjenigen des sogenannten Meisters von Flemalle verwandt zu sein. Es sind hier einmal ganz direkte persönliche Beziehungen, in denen jenes allgemeine Verhältnis der deutschen zur niederländischen Malerei sichtbar wird — man wird sich sonst meist begnügen müssen, die Tatsache der Abhängigkeit bzw. Anregung festzustellen, ohne über die Art der Vermittlung im einzelnen etwas Sicheres sagen zu können. Der malerische Reichtum in den Bildern des Witz, die Stofflichkeit und Brillanz der Erscheinung, die Raumbehandlung — die wesentlichsten Elemente der neuen Naturdarstellung stammen aus den Niederlanden, und neben den kleineren Einzel Übereinstimmungen, die heute noch halbwegs exakt festzustellen sind, wird vor allem eine Fülle der Anregung nach den verschiedensten Seiten hin anzunehmen sein. Das bedeutet nicht die Unselbständigkeit des Künstlers wie könnte eine starke Natur durch Aneignung fremder Bildung gebrochen, wie müßte sie dadurch nicht erst recht belebt, in ihren eigentümlichsten Fähigkeiten entwickelt werden? Das Verhältnis der deutschen zu den niederländischen Künstlern ist, wenigstens bei den bedeutenderen unter ihnen, ein freies Wetteifern, auf Grund freilich der in den Niederlanden zuerst aufgestellten Prämissen. Und schließlich läßt sich dem Gesamteindruck nach nichts mit den Bildern des Witz vergleichen. Diese stämmigen, untersetzten Gestalten der Basler Tafeln, von einer unerhörten Wucht der Plastik; die intensivste Pracht der Farbe, die das Auge fast blendet — auch der Goldgrund, wo er bleibt, wird jetzt ganz materiell, ohne mystischen Schimmer verstanden —; die obschon ungenaue, doch schlagende Wirkung der Verkürzungen — das sind Dinge, die nicht äußerlich gelernt, sondern ganz und gar erlebt sind.
Die Landschaft auf dem Bilde mit dem Fischzug Petri: wie weit liegt da doch die Kunst Mosers zurück! Hier zum erstenmal ist die Naturporträt mäßig nachgebildet — noch heute ist das Urbild an den Ufern des Genfer Sees nachzuweisen. Wo sind vor diesen Heiligenbildern des Witz die Stimmungen einer zärtlichscheuen Andacht? Die Straßburger Tafel gibt nur das erhöhte Gefühl einer robusten, prachtvollen und seelenlosen Existenz. Es ist eine instinktive Sicherheit in diesen Bildern, eine derbe Sinnlichkeit mit fast animalischen Zügen, dabei eine in groben Umrissen doch ungemein sprechende Gebärde und, alles in allem, eine imposante Größe, die das nicht nötig hat, was man wohl Idealisieren nennt. — Dieses Beste seiner Kunst war nicht zu vererben.
Der „Schwäbische Meister um 1445“ der sein unmittelbarer Nachfolger doch wohl in Basel selbst gewesen ist, ist in aller Tüchtigkeit und bei einer sehr reizvollen Behandlung der Landschaft doch nur ein Künstler von etwas beschränkter Biederkeit. Auch Hans Multscher in Ulm reicht mit seinen Bildern von 1437 nicht an die Höhe des Witz heran. Ein wie es scheint wenig älterer Zeitgenosse des Baslers, hat auch er sich von der niederländischen Kunst anregen lassen — die auffallenden Stilleben mit Büchern und Geräten in der verfallenen Hütte, vor der die Anbetung des Christkindes stattfindet, können kaum anders erklärt werden — aber die Beziehungen sind wesentlich entfernter. Und es ist ein anderer Stand der Kultur, dem die Bilder Multschers sich einordnen, als bei Witz. Das Brillante, Reiche, ja Üppige der geschmückten Erscheinung, das Witz so gern gibt, fehlt; der Grundton der Bilder hat etwas Proletarisches, zeigt eine sichtliche Freude an Niedrigkeit und Gemeinheit der Erscheinung und fanatischer Niederträchtigkeit der Gesinnung. Die Klarheit der Anschauung reicht, im Räumlichen wie in der Behandlung der Figuren, nicht entfernt an Witz heran — gewiß sind diesem Künstler die Bilder um so willkommener gewesen, je mehr er von breiten, wild verzerrten Physiognomien aneinander drängen konnte. Man soll das Brüllen und Stoßen der Menge spüren. Dazu gehört eine gewisse Monotonie der Typen, und auch in den Gebärden fehlt es dem Künstler an abwechslungsreicher Erfindung. Die Naturdarstellung vollends ist gegen Witz von einem primitiven Schematismus. Überall, auch in den Gewändern, nur eine plumpe Schwere und Massigkeit, ohne die Präzision der Zeichnung des Witz, der den neuen scharfwinklig brechenden Gewandstil bereits aufs vollendetste zu handhaben weiß. In demselben Verhältnis zu der vorhergehenden Überlieferung steht auch die Farbe: es ist selbstverständlich, daß die zarte Lichtheit der früheren Kunst entschieden abgelehnt wird, aber ebenso fehlt das Ideal der neuen saftigen und tief leuchtenden Farbigkeit. Eine bleiche, trübe Farbmaterie, ohne Feinheit in der breitflächigen Zusammenstellung und im ganzen auch ohne das Vermögen stofflicher Charakteristik, dabei aber doch von einem eigentümlichen tonigen Reiz. Der neue Realismus ist in diesen Bildern eigenartig genug verstanden. Schon die Kunst des Witz würde in unmittelbarer Vergleichung mit der niederländischen Malerei summarisch, vielleicht sogar grob erscheinen — bei Multscher vollends ist die Entlegenheit von den damaligen Mittelpunkten der malerischen Kultur mit Händen zu greifen. Und der positive Zuwachs naturwüchsiger Empfindung, der ja damit notwendig zusammenhängt, wird bei ihm den Betrachter nicht in so vollem Maße entschädigen können, wie es bei Witz der Fall ist.
Ein dritter SCHWÄBISCHER MEISTER, der jedenfalls noch dieser Generation des Multscher und Witz angehört, wenn auch seine beiden einzigen uns erhaltenen Bilder erst um 1450 entstanden sein mögen, ist vorläufig noch ohne Namen. Auch hier noch die ungefüge und unbekümmerte, zugleich wuchtige Großartigkeit dieser Künstler, in denen die Naturanschauung mit einer durch den Protest gegen die ältere, zahme Art um so lauteren Gewalt ergriffen wird. Die energische, scharf akzentuierende Raumanschauung in der Art des Witz verbindet sich mit einer Multscher näher stehenden breiteren, rundlicheren Typik, in einem ganz selbständigen Eindruck von dumpfer und starker Lebendigkeit. Wie weit liegt von dieser taghellen, prosaischen Festigkeit und irdischen Leibhaftigkeit der Materie jener Hauch inniger Empfindung, der in Meister Franckes und noch, fast gleichzeitig, in Lochners Anbetung des Christkindes als die eigentliche Absicht und als das Beste des künstlerischen Eindrucks hatte gelten sollen!
Es sind trotz aller lokalen und persönlichen Unterschiede doch immer dieselben Züge, in denen das neue Lebensgefühl sich ausspricht, und auch bei dem Nürnberger Künstler, den man früher irrtümlich als „Pfenning“ benannte, dem MEISTER des Tucherschen Altars ist dieser Zusammenhang deutlich: in der kraftvollen Schwere der Gestaltenbildung, in der ernsten Geschlossenheit der Silhouette. Und endlich nach anderer Seite hin auch bei dem in Salzburg tätigen KONRAD LAIB, von dem wir einen Ausschnitt seines vielfigurigen Kreuzigungsbildes vom Jahre 1449 abbilden. Die übermäßige Gedrängtheit der Figuren mag mit den Berliner Bildern Multschers verglichen werden — in den wesentlichen Eigenschaften seiner Kunst aber kommt Laib vielmehr dem Konrad Witz nahe: in der scharf und lebhaft prononcierten Behandlung der Einzelfigur, in dem metallisch Blitzenden der farbigen Erscheinung. Die schneidige Verve der psychologischen Charakteristik erreicht bei ihm sogar eine auch über Witz hinausgehende Intensität. Es stimmt zu dieser Auffassung, daß die Beziehungen der niederländischen Malerei hier wieder deutlicher hervortreten; wie man denken möchte, mit einem Gefühl siegreicher Rivalität: den Wahlspruch des Jan van Eyck selbst schreibt Laib auf seine Tafel — „als ich chun“.
Die Entwicklung in den Niederlanden war zu dieser Zeit, wo dem deutschen Künstler noch Jan van Eyck als der Erste unter den niederländischen Malern galt, bereits auf ganz andern Bahnen. Unter der Führung des Rogier van der Weyden und des an ihn anzuschließenden Dirk Bouts waren der malerischen Darstellung neue Ideale und damit ein neuer Stil gewonnen worden. Nicht etwa, daß die Eycksche Kunst nun zu wirken aufgehört hätte. Die Vorbildlichkeit dieses unmittelbar überzeugenden und farbenprächtigen Realismus blieb in Geltung, auch nachdem der Anspruch, mit dem man an das Kunstwerk herantrat, und seine Wertung sich wesentlich verschoben hatten. Man kann von einer Art Kompromiß sprechen, zu dem die neue Weltanschauung notwendig sich entschließen mußte, wenn sie sich überhaupt durchsetzen wollte. Es waren doch schließlich die religiösen Vorstellungen, an deren Stoffkreis der Maler sich gebunden sah, und es war also der Natur der Sache nach unmöglich, das religiöse Gefühl, das nach Reinheit und Idealität, nach dem Ausdruck der Innigkeit und Ergriffenheit verlangte, einfach auszuschalten. Wie die Dinge einmal lagen, hatte dieses Verlangen nach einem sentimentalen Inhalt des Bildeindrucks, nach edler Durchgeistigung der Erscheinung ein unleugbares Recht: die bloße, wenn auch noch so starke Existenzfreudigkeit, die sinnliche Kraft der Bildanschauung für sich allein, konnte nicht als eine wirkliche Lösung gelten. Und dann, wenn man von den formalen Fragen ausgeht: die naive Ursprünglichkeit und gefühlsmäßige Sicherheit des Totaleindrucks, die das Zeitalter des Jan van Eyck auszeichnet, enthält für sich allein noch nicht die Garantien einer stetig fortschreitenden Entwicklung — diese bedarf einer Zerlegung der Probleme, einer bewußten Durcharbeitung der einzelnen Teile des Bildorganismus. Nicht mehr die lebendige Freiheit der Anschauung, vielmehr die Durchbildung und Komposition sind dasjenige, worauf es nunmehr ankommt. Und so entsteht diese Kunst des Rogier und des Bouts mit der etwas dünnen Übersichtlichkeit der Bilderscheinung und den hageren Figuren, die eine deutliche Betonung der Form, der Bewegung und des Ausdrucks zeigen, mit der Auflichtung der Farb-flächen und endlich mit jener starken seelischen Atmosphäre, die durch die Mischung von Empfindsamkeit und Nüchternheit charakterisiert wird. Wie man sieht, leben in alledem die Forderungen der älteren Kunst wieder auf — aber doch nur, weil und soweit ihnen wirkliche Berechtigung innewohnt. Wir empfinden heute, wie es scheint, vor allem den (unvermeidlichen) Abfall dieser von Rogier bestimmten Generation an freier Ursprünglichkeit und genialer Größe — aber es wäre absurd, von einem Rückschritt sprechen zu wollen, wo doch jetzt erst die eigentlich praktische Auseinandersetzung des neuen Lebensgefühls mit den bestehenden Aufgaben beginnt. Erst so bildet sich ein Können, das, unabhängig von der glänzenden Intuition des einzelnen, dauernde Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
Die deutsche Kunst hätte diesem Fortschritt der niederländischen Malerei schon deshalb folgen müssen, weil das allgemeine Übergewicht der dort entwickelten Kultur auch weiterhin in Geltung blieb. Die Abhängigkeit von den fremden Vorbildern wird sogar jetzt, wo die große persönliche Leistung fürs erste kein Feld mehr findet, deutlicher sichtbar als vorher, wo noch der Eindruck eines lebendigen Wetteifers überwiegt. Aber schließlich liegen doch auch in Deutschland dieselben inneren Notwendigkeiten wie in den Niederlanden dieser Entwicklung zugrunde. Auf dem Gebiet der allgemeinen Geschichte zeigt sich dasselbe Schauspiel. Mit wie kühnen und weitausgreifenden Plänen beginnt doch das Basler Konzil — als ob die ganzen kirchlichen und politischen Verhältnisse von Grund aus neu geschaffen werden sollten. Und der Ausgang zeigt dann dasselbe Paktieren mit den historisch gegebenen, wirklichen Verhältnissen, kleinlich und kläglich, wie man gern sagt, aber doch wohl unvermeidlich. Der Aufbau der neuen Weltanschauung fordert mehr als die glänzende Impetuosität eines genialen Willens, verlangt die durchdringende und anhaltende Arbeit von Generationen.
Der Anfang dieser neuen Entwicklungsphase der altdeutschen Malerei wird, wie natürlich, wesentlich später als in den Niederlanden sichtbar, erst nach der 24 Mitte des Jahrhunderts, mit voller Deutlichkeit wohl erst um 1460. Die Tafeln in STERZING vom Jahre 1458 zeigen bereits das Eindringen des neuen Geistes und die Umbildung der Formensprache. Wie urkundlich feststeht, war der Altar jenem Hans Multscher in Auftrag gegeben worden, der im Jahre 1437 die vorerwähnten, jetzt in Berlin befindlichen Malereien vollendet hatte. Die allgemeine Wandlung kann nicht deutlicher werden, als an diesen beiden Altären, die in einem Zwischenraum von zwanzig Jahren aus derselben Werkstatt hervorgingen. Freilich, Multscher hat mit der Ausführung der Gemälde von 1458 nichts mehr zu tun — ein unbekannter, aber durchaus selbständiger Werkstattgenosse hat sie entworfen. In dem Geist und vielleicht auch mit einigen direkten Anlehnungen an die Kunst des Rogier van der Weyden — im ganzen jedoch so selbständig, daß bei der fragmentarischen Überlieferung der künstlerischen Dokumente dieser Zeit eine letzte detaillierte Erklärung der Herkunft dieses besonderen Stils kaum möglich ist. Genug, daß die wesentlichen Fragen schon durch die bloßen Daten zwingend entschieden werden.
Es ist das gerade Gegenteil, was dieser Künstler will, und was Multscher im Jahre 1437 hatte geben wollen: bei dem älteren Bild eine volksmäßig grobe Derbheit der Auffassung und eine ungeschickte, aber lebhafte und naive Bildanschauung — die Sterzinger Gemälde dagegen edel und von einer vornehmen Mäßigung im Ausdruck, klar in der Komposition; durchaus so, daß man die sukzessive Herausarbeitung einer möglichst planmäßigen und übersichtlichen Bildanordnung empfindet. Der Unterschied gegenüber der älteren Generation liegt in diesem absichtsvollen, bewußten Abstimmen des Eindrucks: auf eine höhere Kunstmäßigkeit der sinnlichen Erscheinung ebenso wie auf geläuterte Idealität der seelischen Haltung. Eine gewisse Künstlichkeit und Leere der Empfindung werden gegenüber der brutalen Lebensfülle des jungen Multscher sichtbar, dessen künstlerisches Verdienst man vielleicht nun erst recht zu würdigen vermag.
Andererseits zeigen jedoch Bilder, wie die Verkündigung und das Gebet Christi am Ölberg, eine reine, gemessene Schönheit, wie sie in dieser doch immer noch kraftvollen Art der deutschen Kunst nicht oft zu eigen ist. Große ruhige, etwas kahl und trocken behandelte Flächen mit einfachen und eindrucksvollen, lang gezogenen Linien, unter klarer Verwertung des Kontrastes.
Man hat vermutet, daß FRIEDRICH HERLIN in Nördlingen aus der Schule des Meisters des Sterzinger Altars hervorgegangen sei, und ein Bild wie etwa der heilige Georg mag in der Behandlung der Flächen und Linien an jenen Künstler erinnern. Aber diese Zusammenhänge, wenn sie vorhanden sind, kommen doch gegen den nunmehr mit aller Macht und ganz direkt eindringenden niederländischen Einfluß nicht auf. Die Kunst des Sterzinger Meisters zeigt ihn wie von fern her, nur durchscheinend durch eine im ganzen doch sehr eigentümliche Idealität der Auffassung. Nun aber, zwischen 1460 und 1480 etwa, in der glänzendsten Blute der burgundischen Monarchie, gewinnt die Kunst des Rogier van der Weyden und des Dirk Bouts ein Übergewicht, so stark und so allgemein, wie es die niederländische Malerei weder vorher noch nachher in der deutschen Entwicklung gehabt zu haben scheint. In Köln der Meister des Marienlebens, in Ulm Hans Schüchlin, in Nördlingen Herlin, in Nürnberg Pleydemvurff und Wolgemut — man könnte fast glauben, daß die deutschen Schulen von nun an ganz und gar als Nebenlinien der niederländischen Malerei würden gelten müssen, mehr nur durch provinziale Ungeschicklichkeit als durch ein lebhaftes Gefühl des eignen Wertes von ihr sich unterscheidend. Auch Schongauer ist seinen Anfängen nach hier anzuschließen — in seiner weiteren Entwicklung ist gerade er jedoch derjenige, der einen besonderen Stil schafft und allenthalben einer selbständigen Geltung der deutschen Kunst den Weg bereitet.
Die ursprüngliche belebende Kraft des Gesamteindrucks, die Freiheit und Großzügigkeit der Erfindung fehlen diesen Werken nach 1460 durchaus. Eine etwas ängstliche Trockenheit wird bei schwächeren Künstlern wie jenem Herlin zu spießbürgerlicher Befangenheit, oder bei SCHÜCHLIN, der dann wiederum mit Wolgemut in engen Beziehungen steht, zu einem knittrig kümmerlichen Wesen, in dem die Typenwelt der niederländischen Künstler und ihr Streben nach erhöhtem seelischen Leben zwar deutlich erkennbar, doch aber, je nachdem, befangen oder grobkörnig umgebildet ist. Man wird diese Bilder deshalb noch nicht gering achten: in der Philistrosität Herlins steckt doch noch ein ungemein gesunder und ansprechender Zug tapferer Handwerklichkeit, und bei Schüchlin kommt, wie in dem Bauernhaus auf dem Bilde der Heimsuchung, noch immer die eigne Erfindung frisch und unvermutet zum Vorschein. Kulturhistorisch gesehen, wird dann der Wert dieser Werke vielleicht noch größer: das Durchschnittsniveau des bürgerlichen Geistes und die Äußerlichkeiten des bürgerlichen Lebens kommen vielleicht nirgends sonst so stark wie hier zum Vorschein. Dazu gehören dann freilich bei Herlin die Porträts, die hier nicht abgebildet werden konnten.
Endlich aber ist doch klar, daß die Bildanschauung eine fortschreitende innere Durcharbeitung erfährt. Eine Komposition wie die Grablegung von Schüchlin enthüllt das veränderte Verhältnis des Künstlers zur Erfindung des Bildes. Es sind, unruhiger und aufdringlicher, dieselben Erscheinungen wie bei den Sterzinger Gemälden. Nichts soll mehr dem freien Wurf des genialen Temperaments und des glücklichen Augenblicks oder, anders gewandt, dem blinden Ungefähr überlassen bleiben — an jeder Stelle will man sich Rechenschaft geben über die Bildung und zweckmäßige Verbindung der einzelnen Teile, über das Ineinandergreifen der Form und der Bewegung. Was da den fremden Vorbildern abgewonnen wird, ist oft genug einem äußerlichen Schema zum Verwechseln ähnlich. Aber schließlich werden doch neue Wirkungsmöglichkeiten damit erschlossen — es ist nicht abzusehen, wie man Dürers Kunst ohne den hier einsetzenden Begriff der „Komposition“ denken wollte; der italienische Einfluß gibt nach dieser Seite nichts prinzipiell Neues, hilft nur zur Vollendung. Fürs erste freilich kennt die deutsche wie die niederländische Kunst noch keine für den Gesamteindruck unmittelbar wirksame Rechnung, und für den somit fehlenden Fluß der Darstellung müssen besondere Verzwicktheiten der Anordnung entschädigen. Ähnlich wird auch über die Durchbildung, Kontrastierung und Verbindung des Psychischen zu dem ergreifenden Ausdruck des Geschehens zu urteilen sein: indem es verschiedene Stufen der Teilnahme, die miteinander in klare Verbindung gebracht sind, durchläuft, erfährt es eine innere Steigerung, eine dramatische Bewegtheit, die prinzipiell über die dumpfe Lebendigkeit und das einfache Nebeneinander einzelner stark empfundener Gefühle hinausführt. Das Bild ist nicht mehr bloß Anschauung des Seienden, sondern Entwicklung und Spannung des lebendigen Willens der Persönlichkeit. Auch nach dieser Seite hin wird man in der Kunst Schüchlins nicht mehr als Anfänge erkennen wollen — aber auch hierfür mag daran erinnert werden, daß Schüchlins ihm so nahestehender Zeitgenosse Michael Wolgemut in Nürnberg der Lehrer Dürers gewesen ist.
Den Abschluß dieser Bestrebungen stellt die Tätigkeit MARTIN SCHONGAUERS in Kolmar dar. Zwar nicht so sehr durch seine Gemälde — von denen nur die Maria im Rosenhag allgemein anerkannt wird — als vielmehr durch die zahlreichen Stiche, die aber gerade durch ihre leichte und allgemeine Verbreitung seinem Stil den größten Einfluß auf die künstlerische Entwicklung seit den achtziger Jahren sicherten. Ein sehr ausgeprägter, mit bedeutender, wenn auch oft preziöser Empfindung gesättigter Linearstil gibt hier das Höchste der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erstrebten Idealität und klaren Schärfe der Formbestimmung. Zugleich zeigt sich in diesen Stichen eine Kunst der Komposition, wie sie kein deutscher Künstler vor Dürer in solchem Grade gehabt hat. Es sind das Probleme der Zeichnung, deren Lösung jedoch gerade damals auch für die Malerei die größte Bedeutung haben mußte. Ein „malerischer Purismus“, wie man ihn etwa bei dem „Meister mit der Nelke“ aus dem Einfluß Schongauers ableitet, konnte die Folge der Nachahmung des Kupferstechers sein. Doch wirkt zunächst wie bei dem Nürnberger Künstler des Peringsdörffer-Altars mehr noch der ursprüngliche Sinn der Schon-gauerschen Kunst: die gleichmäßige, feine und doch auch energische Beseelung der Form. — Der „MEISTER DES HAUSBUCHES“, der uns wiederum vornehmlich als Stecher bekannt ist und etwa gleichzeitig mit Schongauer in den mittelrheinischen Gebieten gearbeitet hat, kommt diesem an allgemeiner Bedeutung nicht gleich, so frisch auch seine Genreauffassung wirken mag.
Es ist gegen Ende des 15. Jahrhunderts überall zu beobachten, daß ein Streben nach Zusammenfassung, nach größerer Einfachheit und Feierlichkeit eintritt, als ein Versuch der Synthese all der künstlich differenzierten, vielfach verzweigten Bewegung, in der man sich in den letzten Jahrzehnten ergangen hatte.
Auch BARTHOLOMÄUS Zeitblom in Ulm, dessen Hauptwerke den neunziger Jahren angehören, muß von hier aus verstanden werden. Der eigentümlich schwäbische Charakter, der bei Herlin und Schüchlin gegenüber den fremden Einwirkungen kaum noch sichtbar geblieben war, kommt in ihm besonders eindrucksvoll oder doch wohl eher noch einseitig, mit einer überwältigenden Monotonie, zum Vorschein. Die drei Verkundigungsdarstellungen des Sterzinger Meisters, Schüchlins und Zeitbloms machen die Entwicklung der Ulmer Kunst von der Mitte bis zum Ende des Jahrhunderts vollkommen deutlich: wie Zeitblom von der zierlich spielenden Bewegtheit Schuchlins zu der feierlichen Ruhe des Sterzinger Meisters zurückzukehren scheint, doch aber so, daß die einmal gewonnene größere Sensibilität deutlich sichtbar bleibt. Und nimmt man den Inhalt des künstlerischen Fortschrittes bei Zeitblom, so ist allerdings wohl eine großartige Wirkung beabsichtigt, aber doch nur halb erreicht.
Alles ist geradliniger und steifer, starrer auch im psychischen Ausdruck, aber in dem zugrundeliegenden Schaffensgefühl nicht wesentlich anders als bei Schüchlin, ohne lebendigen Fortschritt und ohne wirkliche Vertiefung. Namentlich die Einzelfiguren Zeitbloms sind in der stillen Geschlossenheit der Erscheinung bedeutend genug, aber der Gesamteindruck ist doch schließlich der einer gänzlich unproduktiven, gleichsam zu ewigem Stillstand gekommenen Art und einer gähnenden Leere der Seele. Er ist ein Beispiel der innerlich lahmen, mutlosen Naturen, die den Kämpfen der Zeit durch einen Quietismus zu entgehen suchen, in dem doch niemals die von der Entwicklung angelegten Probleme überwunden werden können. An Zeitblom ist BERNHARD STRIGEL in Memmingen anzuschließen, der, weit bis ins 16. Jahrhundert hinein tätig, in der volleren Formauffassung und Bewegung sich bereits Elemente des neuen Stils aneignete, ohne daß jedoch mehr als eine etwas provinziale Stilmischung zustande gekommen wäre. Immerhin sind Bilder wie seine Sippendarstellungen ebensowohl von naivem Reiz der inhaltlichen Motive wie lebhaft und kräftig in der Bilderscheinung. Noch mehr würden die hier nicht zu behandelnden Porträts zu rühmen sein.
Die Psychologie der Zeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts zeigt die auffälligsten Kontraste: dicht nebeneinander die Ruhe der Resignation und die gewaltigste Leidenschaft. In Salzburg die klare, nach Ebenmäßigkeit strebende Erscheinung des RUELAND Frueauf — dem der Schweizer „MEISTER mit der NELKE“ obschon mit einer viel gröberen, materielleren Textur der Empfindung, nahesteht — und in dem tirolischen Bruneck die hartknochige, von innen her stark bewegte Großartigkeit der Kunst MICHAEL PACHERS. Auch die niederländische Malerei der Zeit hat verwandte Gegensätze, in dem Auftreten des Hugo von der Goes unmittelbar neben Memling, und für die nürn-bergische Kunst hat man bereits mit Recht an die unruhig gewaltsame Erscheinung des Veit Stoß erinnert. Was den Geist der Epoche charakterisiert, ist nicht nur das Streben nach Harmonisierung der sich bildenden neuen Weltanschauung, sondern ebenso ein unbändiges Kraftgefühl und eine innere Unruhe, ein Verlangen nach dem starken, durch Konzentration des Willens überwältigenden Eindruck. Und wie hätte ohne das Vorhandensein solches Überschusses an lebendiger Energie das eigentliche Ziel der Zeit erreicht werden können, das doch nicht so sehr in der Vollendung einer wissenschaftlich oder künstlerisch gerichteten Weltanschauung, als vielmehr in der Festigung der gesamten, das Leben und die Welt selbst überwindenden Gesinnung der Persönlichkeit gelegen wrar? Die harten Formen, die gewaltsam, ja bizarr gestalteten Bildkombinationen bekommen darin ihr Recht.
Die Kunst Pachers hat ihre Eigentümlichkeit, durch die sie von allem übrigen innerhalb der gleichzeitigen deutschen Malerei sich unterscheidet, in der überraschenden Energie der Raumvorstellung, die durch jähe Verkürzungen bei Tieflegung des Augenpunktes zustande kommt. Es ist das gerade Gegenteil zu jenem Streben der dem Rogier folgenden Maler nach „Komposition“: in den Ansichten und Größenverhältnissen der Dinge treten die gewaltsamsten Verschiebungen ein, so daß an Stelle eines gegenseitigen Abstimmens der Erscheinung vielmehr 28 die Unterwerfung aller Bildteile unter einen Totaleindruck stattfindet, dessen momentane Bestimmtheit (vermöge der Wahl des Augenpunktes) einzig und allein aus dem Willen des Künstlers herzuleiten ist. Pacher hat seine Art der Raumdarstellung unter dem Einfluß der Kunst Mantegnas entwickelt — wie ja Bruneck als der Hauptsitz seiner Werkstatt bereits südlich des Brenners liegt und die Verbindung mit Oberitalien also beinahe selbstverständlich gegeben ist. Aber noch in ganz anderem Maße als bei Mantegna wird das Zwangvolle, Gewagte und Verblüffende der Verkürzung als der wesentliche Inhalt des Gesamteindrucks gesucht, noch vor der Erzeugung des eigentlichen Raumgefühls. Und mit der florentinischen Art, die Figur im Raum zu verstehen, hat die Kunst Pachers nicht das geringste gemein. Vielmehr ist es die Richtung des Witz, die in Pacher wieder auflebt, mit ihrem Streben nicht nach innerer Geschlossenheit des Raumeindrucks, sondern nach stimulierender Wirkung der verblüffend hervortretenden Körperlichkeit. Die Verkürzung an und für sich gilt als wertvoll. Die Empfindung strebt auch nicht in die Weite, sondern in die Enge und Höhe, und das Gepreßte der Raumbildung kann nicht deutlicher werden als bei jener merkwürdigen Gassenarchitektur, von der es scheinen möchte, als würde sie auf die Breite einer Linie zusammengedrängt . Es ist dabei wieder ein besonderer Trick dieser doch so trocken-ernsten Kunst, daß mit dem tiefen Horizont das Hochstellen des Heiligen derart verbunden wird, daß Kopf und Bischofsmütze über das Haus emporragen. Die Verkürzungen haben etwas schneidend Scharfes — wie man etwa bei dem Engelsflügel des einen Augsburger Bildes am besten sieht, die ganze Formbehandlung ist dürr und sparrig, von einer bis zum Manierismus gehenden Gespreiztheit . Es sind das zunächst jene allgemein formalen Darstellungsmittel, durch die das Kunstwerk dem Beschauer ein eigentümliches Lebensgefühl mitteilt — von einer zwangvollen Spannung, die bis zur grotesken Bizarrerie sich steigert wie tief der Künstler aber auch das im engeren Sinn psychische Erlebnis zu ergreifen vermag, zeigt das schon genannte Augsburger Bild. Alles Gefällig-Sentimentale freilich geht diesem Sonderling ab, und auch darüber hinaus ist nicht zu leugnen, daß die natürliche Offenheit und der Reichtum des seelischen Lebens wie verdorrt erscheinen. Den Sinn für die innerlich konsequente und strenge Großartigkeit der Stilisierung, für den Charakterwert der Bilderscheinung aber hat doch in dieser Zeit niemand in Deutschland so gehabt wie Pacher. Sein Einfluß hat zunächst die tirolischen Gebiete beherrscht; aber auch die bayerische Malerei, etwa des JAN POLLACK, kann nicht ohne ihn gedacht werden. Dann sind Einwirkungen seiner brillanten Art der Raumbehandlung vor allem in den später zu besprechenden „Donaustil“ übergegangen. Schließlich aber ist doch die Vollendung der altdeutschen Malerei nicht von dem Standpunkt der Pacherscheu Kunst der Ratunbehandlung aus erreicht worden — ihre Wirkung ist zu sehr auf den Moment gestellt und entbehrt der objektiven Gerechtigkeit in der Auffassung des Weltbildes ebenso wie der Mittel zu einem erschöpfenden Ausdruck des Innenlebens.
Man hat wohl schon gemeint, daß Dürer die Werke Pachers gesehen haben könne — es würde für die Erklärung seiner Kunst nicht gar zu viel besagen. Dürer geht von der nürnbergischen Malerei und von Schongauer aus, und von hier aus gewinnt er die sichtbare Form für den höheren Lebensinhalt der Epoche: das Weltbild als Leistung einer das objektive Dasein durchdringenden, unermüdlich wirkenden geistigen Energie.
Die Malerei des 15. Jahrhunderts zeigt in Nürnberg in einer besonderen Vollständigkeit der Erhaltung den typischen Verlauf der allgemeinen Entwicklung. Eine starke Persönlichkeit, der Meister des Tucherschen Altars, bereitet auch hier um die Mitte des Jahrhunderts der absterbenden, weich und lyrisch gestimmten Kunst der vorhergehenden Epoche ein Ende. Dann dringt in der Tätigkeit vornehmlich des HANS PLEYDENWURFF, um 1460, der Einfluß der unter Rogiers Führung stehenden niederländischen Malerei ein — die Kreuzigungstafel in München zeigt besonders schön, welche Tiefe des seelischen Ausdrucks sich innerhalb dieser Richtung gewinnen läßt. In demselben Geist,obschon nüchterner und handwerksmäßiger, führt MICHAEL WOLGEMUT die Entwicklung weiter. Mit Hilfe einer großen Werkstatt, in die 1486 auch der junge Dürer eintritt, wird eine Menge von Altären vollendet, naturgemäß von großer Verschiedenartigkeit der Ausführung, so daß die Persönlichkeit Wolgemuts selbst durch die unter seinem Namen gehenden Arbeiten mehr noch verunklärt als beleuchtet wird. Aber schließlich gehört doch auch das, daß die Kenntlichkeit und der Einzelwert der schaffenden Individualität hinter dem Werkstattbetrieb fast verschwinden, zu der allgemeinen Charakteristik gerade dieser Generation, bei der das im beschränkten Sinne Bürgerliche der Gesinnung besonders hervortritt. Da ist nichts von Freiheit, Schönheit, Vornehmheit oder Großartigkeit der Erscheinung — wohl aber eine tüchtige Festigkeit der Zeichnung, mit ernsthafter, wenn auch oft genug verkrümmter und verschrobener Behandlung der Form, mit herber Genauigkeit in der Bestimmung des Einzelnen. Das bedeutet hier wie sonst nicht Porträtmäßigkeit der Abbildung, weder für die Figuren noch für die Landschaft — die bei aller Schärfe der Durchführung im einzelnen doch „erfunden“, d. h. nach einem konventionellen Schema gebildet ist; es ist immer ein „Ausdenken“ der gegebenen Szenen, Figuren und Ausdrucksmotive, mit einer Phantasie jedoch, die nichts anderes möchte als die ganze, wenn auch grobe und bittere Wahrheit. Man wird den engen Geist dieser Kunst gegenüber derjenigen etwa Pachers ohne weiteres zugeben und doch wohl finden, daß hier und letzthin nur hier, in der Spätgotik der nürnbergischen Werkstatt, die Kunst Dürers wurzelt. Es gehört zur vollen Größe der genialen Persönlichkeit, daß ihr die Zeichen ihres Ursprungs unverlierbar, nicht als ein Äußerliches, sondern als ein Wesentliches erhalten bleiben; diese ersten und letzten, lebhaftesten Eindrücke der heimatlichen Welt bedeuten ihr dann freilich nicht die Grenze, sondern den immer lebendigen Quell des Schaffens. Der Zusammenhang der Kunst Dürers mit derjenigen Wolgemuts ist wie alles derartige leichter mit dem Gefühl als mit einem Begriff zu erfassen: es ist jene Art, die Dinge mit einem mühsamen, fast peinlichen Ernst zu nehmen, der, was ihm an Leichtigkeit und Schnelligkeit des Schaffens abgeht, durch Eindringlichkeit und Nachhaltigkeit ersetzt.
Der Hofer Altar von 1465, Pleydenwurff noch relativ nahe stehend, und der Zwickauer Altar von 1479 gelten heute allgemein als die sicheren Hauptwerke Wolgemuts — ebenso einhellig aber hat man sich entschlossen, ihm den Peringsdörffer-Altar von 1487 abzusprechen. Eine zarte Empfindung, von zierlicher Anmut in dem Lukasbild und von schmerzlicher Innigkeit in der Vision des heiligen Bernhard , dabei deutliche Einwirkungen der Kunst Schongauers — man glaubt in diesem frischen und wohl jungen Werkstattgenossen Wolgemuts, nach dessen Namen wir hier nicht zu fragen brauchen, denjenigen gefunden zu haben, der auf den jungen Dürer am direktesten eingewirkt, mit dem dieser vielleicht sogar an den Tafeln des Altars zusammen gearbeitet hätte. Prinzipiell bedeutet das nicht viel — entscheidend bleibt doch für die künstlerische Herkunft Dürers jener Kollektivbegriff, der mit dem Namen des Wolgemut verbunden werden muß. Nur das ist wichtig, daß man daran erinnert wird, wie die Kunst Schongauers auch in das nürnbergische Gebiet hinübergreift — man weiß, daß Dürer auf seiner Wanderschaft auch den elsässischen Meister hat aufsuchen wollen, und es ist selbstverständlich, daß er seine Stiche gekannt hat. Es ist das eins von den allgemeinen Elementen der damaligen künstlerischen Bildung, das auch dem jungen Dürer notwendig zufließt und weitere Zusammenhänge herstellen hilft — der spezifisch nürnbergische Charakter seiner Kunst wird dadurch nicht berührt.
Man wird deshalb noch nicht die Geschichte Dürers innerhalb des engen Rahmens der lokalen Tradition darstellen wollen. Die allgemeinen Prämissen der deutschen Malerei der Spätgotik, wie wir sie eingangs zu bestimmen versuchten, verlieren an dieser Stelle zwar nicht ihre Gültigkeit — man kann nicht anders, als Dürer bis zuletzt der spätmittelalterlichen Epoche der deutschen Kunst zurechnen —, aber es fehlt ihnen doch die zur letzten Erklärung zureichende Kraft. Der Begriff der spätgotischen Kunst erfährt in Dürer seine letzte Erhöhung und Vollendung durch die großartige heldenhafte Klarheit, mit der die Probleme ergriffen werden — ebenso und in demselben Sinne, wie durch Luther die spätmittelalterliche Religiosität ihre abschließende und damit zugleich wiederum grundlegende Form erhält. Es sind die letzten Kämpfe des mittelalterlichen Geistes — aber der Zwang der Tradition zerbricht in ihnen, und der Begriff der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung kommt zu seinem vollen, als Grund aller modernen Entwicklung dienenden Recht.
Es ist eine allgemein geistige Bewegung von großartigster Bedeutung, innerhalb deren DÜRER steht. Die Jahrzehnte, in denen er geschaffen hat, meint man, wenn man in einem besondern Sinne für Deutschland von der Zeit der Renaissance und der Reformation spricht, und man bezeichnet damit den Inhalt der Epoche immer noch zu eng. Dahei ist nicht etwa die Meinung, den Fortschritt auf speziell künstlerischem Gebiet von der Tätigkeit auf einzelnen anderen Gebieten der humanistischen Gelehrtenarbeit, der Theologie oder der Politik usw. herzuleiten. Noch weniger freilich könnte in dem Vorhandensein besonderer formaler Probleme der Grund erkannt werden, aus dem die Größe der Dürerschen Leistung herzuleiten wäre: sie geben ihm zwar den Inhalt, nicht aber den Geist seines Schaffens. Es ist eine Steigerung des allgemeinen Lebensgefühls, die durch die Zeit hindurchgeht und jeden auf seinem besonderen Gebiet ergreift und zu besonderer Intensität der Produktion drängt. Diese durchgehende Erhöhung der geistigen Produktivität aber entsteht, indem die elementaren, das Leben und Handeln jedes einzelnen bestimmenden Fragen klar und entschieden hervortreten — dann erhält das Leben einen neuen Sinn und die Kunst von daher ihre neuen Ideale.
Die deutsche Nation ist in der Zeit Dürers von einem Kraftbewußtsein und einer nationalen Erregung erfüllt, wie in dieser ganz produktiven Art vielleicht niemals vorher oder nachher. Niemand vielleicht hat jubelnder und glanzvoller dieses leidenschaftliche und tatenfrohe Gefühl auszusprechen gewußt als Ulrich von Hutten: daß dem deutschen Volk die erste Stelle unter den Völkern der Christenheit gebühre, daß es mit der Einheit die Herrschaft der Welt gewinnen müsse. Das ist himmelweit entfernt von einem schwächlich überreizten Chauvinismus: alle Tore sollen offen stehen, durch die dem Bildungshunger der Nation neue Nahrung zufließen kann. Die „antikische“ Bildung gehört zu diesem Deutschtum, nicht der Angst, sondern der Tat, hinzu. Und was vermag schon nach einer Arbeit weniger Jahrzehnte das „barbarische“ Deutschland der großen Kulturtat der allgemeinen Renaissance des klassischen Altertums beizusteuern! Sie ist nicht mehr eine Sache der italienischen Nation, sondern eine Angelegenheit von europäischer Bedeutung. Und in diesem Kreise der Humanisten, die Deutschland verherrlichen, indem sie für die geistige Kultur der Welt arbeiten, steht Dürer, der Künstler, als Gleichstrebender und Gleichberechtigter.
Das Höchste wird jedoch nicht nach dieser Seite hin erreicht — dem deutschen Humanismus fehlt der Glanz der großen öffentlichen Verhältnisse, in denen die italienischen Rhetoren und Künstler sich ausleben durften. Es ist schon oft gesagt worden, daß der deutschen Bewegung ein hausbackener Ton, etwas vom Schulschmack anhängt —, so daß, ohne Geringschätzung der eigentümlichen Leistungen dieser Art, eine Wirkung ins Weite und Große nicht möglich ist. Erasmus kann nicht mehr als Deutscher gelten, und fragt man bei den andern, wieweit sie nicht bloß für die Gelehrsamkeit, sondern für den lebendigen Geist und die eigentliche Kultur der Renaissance in Betracht kommen, so ist ihre Stellung doch wohl nicht viel anders als diejenige Dürers im Vergleich zu Raffael. Nach dieser Seite der renaissancemäßigen Vollendung hin wäre die eigentümliche und überragende Bedeutung auch der Kunst Deutschlands nicht zu begründen. Die innere Erneuerung der Nation vollzieht sich doch vielmehr auf Grund einer Wiederbelebung der religiösen und ethischen Begriffe der christlichen Antike — und diese „Renaissance“ ist, obschon sie dem Gebildeten leicht an Glanz hinter jener andern zurückzustehen scheint, für die Entwicklung des modernen Individualismus von nicht geringerer oder vielmehr von umfassenderer und tiefer greifender Bedeutung. Es ist bereits betont worden, wie in der Hervorkehrung der religiösen Fragen der Charakter des deutschen Lebens und seiner Kunst schon im 15. Jahrhundert liegt: im Zeitalter Luthers und Dürers wird dieser letzten großen Kulturarbeit des mittelalterlichen „katholischen“ Geistes der Abschluß gegeben. Eine große Begeisterung scheint hier die Nation über allen Zwiespalt hinaus zu innerer Einheit zu führen — was sich dann freilich als unmöglich erweisen mußte. Man kann Dürer und Luther nicht voneinander trennen — ich habe an anderer Stelle auseinanderzusetzen versucht, bis zu welchem Grade das auch für die besonderen konfessionellen Fragen gilt — aber vor allem: der Inhalt des Lebens, wie beide 32 ihn verstanden und mit ihren besonderen Mitteln doch gleichmäßig zum voll-endetsten Ausdruck zu bringen sich bemühten, ist derselbe. Nicht eine Beeinflussung des einen durch den andern ist da wesentlich — wir wissen freilich, daß Luther den Künstler im letzten Jahrzehnt seines Lebens ganz mit seinen Ideen erfüllt hat; aber wer solche Hypothesen liebt, könnte für die vorhergehende Zeit das Verhältnis umkehren und sich vorzustellen suchen, wie die Kunst Dürers auf den jungen Luther gewirkt haben möchte. Entscheidend ist doch nur, daß beide an den gleichen Problemen im gleichen Sinne sich gemüht haben. Es ist nun einmal nicht anders: die religiöse Kunst Dürers hat die Größe nicht nur ihres Inhalts, sondern auch ihrer Form in der neuen Tiefe seiner Religiosität ¦— erst von daher erhalten die künstlerischen Erwägungen ihr Ziel. Es soll alles stark und groß werden in der künstlerischen Erscheinung, weil der Erlebnisinhalt an Macht und Tiefe gewinnen soll. Man sieht diese innere Koinzidenz der allgemeinen Ziele in dem Schaffen des Künstlers und des Reformators zunächst auf dem besondern Gebiet der „religiösen“ Kunst. Hier wie dort die Vollendung jenes Prozesses, durch den die religiösen Vorstellungen zum vollen persönlichen Besitz des Individuums werden. Der äußerlich verstandene Lehrcharakter schwindet, alles ruht auf dem freien Erlebnis des einzelnen — und doch, vielleicht das Wichtigste : dieser starke Individualismus will die Begriffe der Religion nicht neu schaffen, sondern nur neu verstehen, innerhalb der Schranken der uranfänglich erlebten und daher ewigen Wahrheit der Grundlehren des Christentums. Diese Mischung von Freiheit und Gebundenheit ist es, die die Kunst Dürers wie die dogmatischen Begriffe Luthers charakterisiert. Die alten Bildformen bleiben, werden nur von innen her erneuert. Es liegt darin, daß die letzte Höhe dieser Auffassung nicht in einer verschwimmenden Gefühlsreligion, sondern in dem fest und hart gefügten Bekenntnis ruht. Die letzten Werke Dürers, allen voran die Apostelbilder, haben diesen Charakter. Man weiß ferner, wie für Dürer und Luther im Zentrum ihrer Tätigkeit die Erneuerung der Christusvorstellung steht: daß in ihr eine lebendige Idealität allerhöchster Menschlichkeit entwickelt wird — und doch wiederum nicht nur der „Menschlichkeit“, der im mystischen Sinne der „Imitation“ nachgelebt werden könnte, sondern mit dem Charakter des Göttlichen, Unnahbaren. Das heilige Antlitz des Erlösers — niemals hat Dürer, wie Grünewald, gewagt, es zu der gräßlichen Niedrigkeit irdischer Qual herabzuzerren. Das letzte mag uns heute wohl einmal großartiger, freier und kühner erscheinen — es genügt hier, die historische Stellung und damit zugleich die Bedeutung der Dürerschen Auffassung für den allgemeinen Fortschritt der Kultur bezeichnet zu haben.
Es wäre der schwerste Irrtum, wenn man glauben wollte, daß nur nach der Seite der religiösen Darstellungen die innere Zusammengehörigkeit der Kunst Dürers mit der lutherischen Reformation sichtbar würde. Wer die Schriften Luthers, besonders seiner ersten großen Jahre, gelesen hat, weiß, daß hier nicht eine Menge einzelner theologischer Fragen, sondern eine Weltanschauung auf dem Spiel steht, die, auf dem Boden einer ethisch-religiösen Auffassung, doch das gesamte Leben und die ganze Welt umfassen will. Als ihr Grundzug: die volle rückhaltlose Anerkennung der Werte des irdischen Daseins, und so auch die Verbindung natürlichster, heiterster und vielseitigster Weltfreudigkeit mit jenem nach innen gekehrten Ernst, der die Gedanken immer wieder auf das Gebiet religiöser Vorstellungen zurückführt. Das ist mittelalterlicher Sinn, der zur Klarheit über sich selbst gekommen ist — und auch der Sinn Dürers und seiner Kunst. Alles einzelne in der Auswahl und Behandlung der von ihm dargestellten Stoffe läßt sich von hier aus ableiten, und die lebendige Größe seiner Kunst ist nur hiermit zu begründen. Lassen wir unentschieden, ob und wieweit Dürers Darstellungen ihren Ruhm im Ausland durch die tiefe Aufrichtigkeit des religiösen Gefühls gewannen — sicher und allgemein wirksam waren die unendliche Schärfe der Zeichnung und die treue und lebendige Auffassung der natürlichen Form: Eigenschaften der gotischen Kunst, die sich in dem berührten Zusammenhang von selbst erklären. In ihnen, nicht in der mühsamen Aneignung einzelner Stücke der Renaissance, hat Dürer gesiegt. So auch für uns: was „modern“ an ihm ist, ist die Echtheit und kernige Ursprünglichkeit seiner Anschauung, die lebensfrische, unberührte Empfindung, die ernste Gewalt der Stimmung — auch das sind Werte, in denen er mit der mittelalterlichen und der lutherischen Weltanschauung verbunden ist. Das Neue ist die Einfachheit und Entschiedenheit, mit der in dieser Epoche der „Reformation“ veralteter Formelkram und hemmende, weil unwahr gewordene Äußerlichkeiten beiseite geworfen werden — eine Erneuerung und mehr noch Neuschöpfung der menschlichen Natur in ihrer schlichten Reinheit, in der Größe des Wollens und der Vielfältigkeit ihrer Beziehungen zur Welt.
Die Berichte, die uns Dürer selbst von seinen Eltern und seinem Leben hinterlassen hat, führen uns aufs anschaulichste ein in die Welt, der er angehört. Es sind jene mittleren Stände der bürgerlichen Gesellschaft, in denen die allgemeine Entwicklung des Zeitalters am kräftigsten fortschreitet. Niemals hat Dürer die damit überkommenen Anschauungen abgestreift: den Geist einer sorgen- und mühevollen Rechtschaffenheit, einer herzlichen und doch die Seele schwer bedrückenden Gottesfurcht. Immer ist seinem Schaffen die Absicht handwerklich gleichmäßiger und vollständiger Ausführung geblieben, in jener ins Transzendentale vertieften Art, daß das Werk vor dem Gewissen des Künstlers bestehen kann — unerfüllbare Forderungen schlechthin: mit dem „größten Fleiß“ traut Dürer sich nichts vollenden zu können. Nicht die Erscheinung, sondern das Sein selbst will der Künstler wiedergeben. In diesem Umkreis des bürgerlichen Lebens und der handwerklichen Tradition erhält seine künstlerische Sprache den volkstümlich kräftigen Ton, den Reichtum der Ausdrucksformen. Bei Luther ist es nicht anders.
Aber die Dinge beginnen sich zu ändern: mit Dürer beginnt in Deutschland das soziale Emporsteigen des Künstlerstandes — er ist der Freund der Gelehrten, der Gast der Fürsten, sein Ruhm dringt weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Eine Schicht der „Gebildeten“, zu denen der Künstler gehört, beginnt sich abzusondern. Für diese wird gemalt und gezeichnet. Inhalt und Form, etwa der Mythologien, sind nur ihnen verständlich. Die Stellung der Kunst im Leben der Gesellschaft wird damit eine von Grund auf andere. Die alten unpersönlich gemeinten Aufträge, Altäre u. dergk, gehen wohl noch weiter, aber daneben bildet sich die eigentlich moderne Kunst für den Liebhaber und Kenner. Die Auffassung des Malers selbst von seinem „Handwerk“ erfährt damit die entscheidendste Wandelung. Dürer hat uns selbst in seinen theoretischen Schriften die vollkommenste Kunde davon hinterlassen. Es ist zunächst völlig gleichgültig, ob diese Theorien uns noch irgendwie wertvoll sein können, und ebenso, wieweit in diesem mühsamen Arbeiten mit größtenteils übernommenen Ideen ein halbwegs geschlossener Bau zustande gekommen ist. Rein die Tatsache, daß der Künstler nach einer solchen theoretischen Basierung seines Schaffens sucht, entscheidet — der „Brauch“, die Tradition verfängt nicht mehr, nachdem die Kunst aufgehört hat, Handwerk zu sein. Der „Künstler“ bedarf der Klarheit über seine „Kunst“, wenn er schaffen will — er muß statt des „Brauchs“ den „Grund“ haben, die ratio. Damit, mit der Begründung der Kunst in dem Bewußtsein, beginnt die renaissancemäßige, schließlich die moderne Auffassung durchzudringen.
An diesem Punkte finden dann auch bei Dürer wie die Theorien so die Darstellungsformen der italienischen Renaissance ihre Stelle. Dürer ist zweimal in Italien gewesen, und wir wissen, daß die Eindrücke der fremden Kunst und ihre Einwirkungen auf sein eignes Anschauungsvermögen sehr stark gewesen sind. Bilder, wie die Madonna mit dem Zeisig , sind ohne den Anblick der venezianischen Malerei nicht denkbar, und die Formensprache seiner späteren Kunst hat doch wenigstens auch die Berührung mit der italienischen Kunst unter ihren Voraussetzungen. Die Beschäftigung mit den Problemen der Darstellung des menschlichen Körpers stammt daher, und die italienische Flüssigkeit der Erfindung und Zeichnung konnte in den 1507 entstandenen Figuren von Adam und Eva nahezu erreicht scheinen. Aber immer ausschließlicher tritt hervor, daß ihm nicht an der Darstellung, sondern an der mathematischen Konstruktion des Körpers gelegen ist. Und so wichtig seine Proportionsfiguren sind, so entsetzlich ist es, sie anzusehen — und es gibt zu diesen Rechenkünsten kein Korrelat des Schaffens. Damit soll nicht geleugnet werden, daß Dürer bis zuletzt von der „Schönheit“ geträumt hat, die er mit Hilfe der Antike und der ihr entlehnten ratio vielleicht würde gewinnen können — wobei man freilich sieht, daß der Begriff weniger noch die sinnliche Anschauung als, seiner trans-szendentalen Bedeutung nach, den grübelnden Verstand des Künstlers beschäftigt. Jedenfalls aber, der irdische Grund, der aufs deutlichste hervorgekehrt wird, ist doch bei allen seinen Bemühungen um die italienische Bildform: daß er die deutsche Kunst von der „Falschheit im Gemäl“ befreien will. Das heißt, er will die richtige Perspektive und die richtige Zeichnung des menschlichen Körpers — wir waren davon ausgegangen, daß es eben daran der „altdeutschen Malerei“ fehlt, und daß sie durch diese Fehlerhaftigkeit der Bildanlage und der Körperzeichnung von dem modernen Bewußtsein prinzipiell geschieden wird. Die ganzen theoretischen Arbeiten Dürers, an denen sich soviel herumgrübeln läßt, haben ihm zunächst die ganz einfache Bedeutung, daß neue Methoden und neue Lehrbücher zur Verbesserung des Unterrichtsbetriebes gefunden werden. Durch die jedem erlernbare „Kunst der Messung“ soll die vernünftige Grundlage alles künstlerischen Schaffens gegeben werden. Dürers Verhältnis zur Renaissance ist so nicht anders zu verstehen als bei den meisten deutschen Humanisten (und Reformatoren) auch: im Zusammenhang der allgemeinen Erneuerung des Schulwesens —- so daß nun auch dem Kunstschüler neue, gute und richtige Grammatiken der Formdarstellung, die auf Grund der wahren Erkenntnis der Antike aufgestellt sind, in die Hand gegeben werden. Die nüchternste prosaische Didaktik des Mittelalters da, wo die eigentlichen Schaffensgefühle der Renaissance einsetzen. Seine Kunst der Figurenzeichnung und der Komposition hat sich an den fremden Mustern geläutert und vervollkommnet, aber nicht gewandelt. Er hat den Weg nach Italien gewiesen, und er ist ihn selbst gegangen — aber der lebendige ,,Grund“ seiner Kunst ist doch bis zuletzt nicht die ratio der italienischen Renaissance, sondern der Geist der deutschen Spätgotik geblieben.
Der „eckige“ Geschmack und das „Holzgeschnitzte“ der Figuren sind dem späten Dürer genau so zu eigen, wie dem jungen — nur gesteigert zu einer festen und einfachen, männlichen Großartigkeit. Die Zeichnung bleibt die gotische, mit jener Empfindung der Linie, die immer nicht nur die Form, sondern mehr noch die Seele, das Willensmäßige sucht. Die einzelnen Phasen in der Entwicklung seiner Kunst sind hier nicht genauer zu verfolgen — aus den Gemälden allein ist der Umfang der Leistung kaum auch nur zu ahnen. Von jeher sind Dürers Stiche und Holzschnitte die eigentliche Grundlage seines Ruhmes gewesen, und dazu gewinnen seine Zeichnungen immer mehr an Wert. Aber man vergleiche die frühen Porträts des Vaters , die unter sich schon die deutlichste Entwicklung zeigen, mit Bildnissen aus der späten Zeit des Künstlers , so zeigt sich dieselbe Auffassung des Menschentums, nur in einer eisernen Konzentration der hier wie dort gleichen Lebensstimmung. Es gibt auch für den späten Künstler nicht jene freie, rhythmische Harmonie der Raum- und Gruppenbildung der Italiener — das innerlich Disparate von Figur und Raum bleibt und wird in den Apostelbildern zur letztmöglichen Spannung erhöht. Hart stoßen die Dinge aneinander, und der höchste Wert der Erscheinung ist nicht ihre Schönheit, sondern ihre Lebensfülle und Energie. Bis zuletzt bleibt das alte Verhältnis zur Natur: neben den Apostelbildern entstehen die wundervollsten, empfundensten Pflanzenstudien, die der Künstler jemals gezeichnet hat — die vielfältige Objektivität der Wirklichkeit ist ihm so heilig wie nur je. Natürlich, daß die Stimmungen im Laufe der Jahrzehnte sich vielfach verschieben—wie denn die heitere Bildlust der „Zeit des Marienlebens“, vor der zweiten italienischen Reise, niemals so wiedergekehrt ist . Ein Vergleich der Geburt Christi vom Paumgärtner Altar mit dem um I45° gemalten Augsburger Bild mag deutlich machen, wie unendlich reicher und poetischer, zugleich vollkommener und belebter die spätgotische Bildvorstellung jetzt geworden ist. In den späteren Jahren hebt sich immer deutlicher als das Wesentlichste seiner Kunst die Darstellung des Menschen heraus: aller Renaissance entgegengesetzt, nicht als Gestalt, als Ideal der vollendeten Form, sondern verstanden als geistige Potenz, als Charakter. Was ist das für eine Folge, die mit den Apostelköpfen beginnt und mit den großen Gemälden von 1526 schließt! In ihnen, als den Hauptwerken der Dürerschen Kunst, wird man deren Geschichte und ihre innere Gesetzlichkeit am klarsten erkennen. Die italienische Renaissancekunst hat auch zu ihnen beigesteuert. Die Anlage der Gruppenbildung ist dieses Ursprungs —-36 aber alles sonst, Einzelform und Gesamtauffassung, der Sinn des Ganzen, ist deutsch und mittelalterlich. Wir erinnerten bereits an die Figur des Witz aber darüber hinaus könnte man an die unübersehbare Folge der gotischen Malereien und mehr noch Skulpturen erinnern; als die letzten und großartigsten Denkmäler in dieser Reihe würden Dürers Apostel erscheinen. Der Zwiespalt, der das Mittel-alter beherrscht, und mit ihm die Ungleichmäßigkeit des Wesens bleibt bestehen: der lebendige Wille des Geistes, der alles ergreifen und seiner eigenen unendlichen Idealität unterwerfen will, und die Welt außer ihm, objektiv gegeben — nur möglich, sie anzuerkennen und zu verstehen und zu sich selbst zu erhöhen. Überall schlägt durch das ästhetische Verhalten der ethische Akzent hindurch: der Wahrheit zugleich und der Willensgröße und Furchtlosigkeit des Sinns. Darin, in dem Gefühl einer objektiven Verpflichtung auch der schaffenden Persönlichkeit und in der Forderung einer unendlichen Freiheit und Reinheit des Geistes, liegt die Einheit dieses Lebens und Schaffens: sie reicht über den irdischen Zusammenhang des Daseins hinaus.
Soviel Andeutungen und Anregungen zu einer weitergehenden Entwicklung die Kunst Dürers auch enthalten mag — man sieht nicht, wie der Spätstil Dürers noch hätte fortgeführt werden sollen. Was hätte nach den Apostelbildern und nach den letzten Porträts noch weiter in dieser Richtung gesagt werden können? Dazu kommt, daß noch zu Lebzeiten Dürers seine Art als in gewissem Sinn überholt, jedenfalls nicht mehr als „modern“ gelten konnte. Er ist der Klassiker einer vergangenen, der gotischen Kunst —so wie schon in den zwanziger Jahren Stimmen laut wurden, die meinten, daß Luther zurückgeblieben sei, und daß man über ihn hinaus müsse. Machte man Ernst mit der Rezeption der Renaissance, so war dann freilich die Kunst Dürers ihrer ganzen Absicht nach, in ihrem geistigen Inhalt wie in ihrer Formensprache, abgetan. Die zweite Generation seiner Schüler, die in den zwanziger Jahren emporkam — die Brüder Beham und Georg Pencz —, zeigt in der Tat diesen Umschwung der Gesinnung und der Formauffassung mit voller Deutlichkeit; es ist bezeichnend, daß sie auch in der religiösen Bewegung zu dem über Luther hinausgehenden Radikalismus stehen wollten. Wir haben hier von diesen „Kleinmeistern“ nicht zu sprechen, die sich vornehmlich als Stecher betätigten und so für die Entwicklung der deutschen Renaissance von größter Bedeutung wurden — es wird bei dem jüngeren Holbein von den Idealen dieser Generation, die er in der großartigsten Weise vertritt, die Rede sein müssen.
Die ältere Generation der Dürer-Schüler, die noch vor 1510 ihre künstlerische Bildung erhalten hatte und also mehr noch neben als nach dem Meister tätig war, konnte naturgemäß wesentlich neue Züge nicht hinzubringen. Doch sind es bedeutende Talente, und als bloßer Nachbeter Dürers wird keine von den im folgenden genannten Persönlichkeiten betrachtet werden dürfen; einer von ihnen, Hans Baidung Grien, erhebt sich zu so leidenschaftlicher, fast dämonischer Gewalt, daß man fast zweifeln mag, ob er nicht ganz für sich, mehr neben als nach Dürer, zu gelten hätte. Außer der kräftigen Eigenart des künstlerischen Temperaments wirkt die verschiedene Stammesangehörigkeit mit, um den Einfluß Dürers nur als einen der Bildungsfaktoren für die Entwicklung dieser Künstler gelten zu lassen. Am direktesten sind die Beziehungen zu ihm wohl bei HANS VON KULMBACH, dessen Anbetung der Könige Dürer ganz nahe kommt und doch in dem Reichtum der Motive, der glücklichen Sorglosigkeit der Stimmung und der lichten milden Schönfarbigkeit ganz eigentümliche anziehende Werte besitzt. Im ganzen eine weiche sympathische Art, die freilich über die in diesem Umkreis naheliegende Gefahr nicht immer hinwegzuhelfen vermag: leer zu scheinen und wenigstens inhaltsarm zu sein. Als der handwerklichste gilt trotz Peiniger bedeutender Leistungen im ganzen mit Recht SCHÄUFFELEIN; aber auch ihm, der die längste Zeit seines Lebens in Nördlingen tätig gewesen ist, gibt ein, wie man wohl annehmen muß, schwäbischer Einschlag seine besondere und reizvolle Nuance. Endlich ihm nahe, Dürer aber bereits ganz fern stehend, der ebenfalls schwäbische Meister von Messkirch; die Festigkeit der Linie, das starke Gepräge der Form sind bei ihm bereits ganz verloren gegangen.
Dagegen ist nun BALDUNG Grien, der Straßburger, unter allen diesen derjenige, der Dürer in der belebten Energie der Zeichnung am nächsten kommt und ihn in dem kühnen und grandiosen Zug der Bewegung übertrifft. Wenigstens neben Baidungs besten Erfindungen — noch mehr dann freilich neben Grünewald — erscheint Dürer wohl gar von einer schulmeisterlichen Strenge und Trockenheit. Der in einem dahinströmende Fluß der Bewegung hat bei Baidung ebensowohl den Ton sinnlicher Fülle wie das bis zur Wildheit gesteigerte Pathos der Leidenschaft . Aber es bleibt doch wenig mehr zurück als der Eindruck jäher, ungezügelter und ungeklärter Kraft, und im Vergleich mit Dürerscher Naturbeobachtung geht doch trotz eines reichen Könnens alles obenhin, wie etwa der Greisenkopf neben Dürers Florentiner Apostelbildern zeigen mag. Die Kunst Baidungs nährt sich von jenen elementaren Kräften des Daseins, die überall in dieser Zeit dahinfluten, und es ist für ihn bezeichnend, daß er gern und mit einer wahrhaft furiosen Art die dunklen Mächte der Natur darzustellen liebt, wie die Phantasie der Zeit sie leibhaftig vor sich sah: die wüsten Orgien des Hexenwesens und das schreckhafte Erscheinen des gespenstischen Gerippes. Überall in der Zeit ist dieser unruhige, phantastische und schließlich dann genialische Zug: stark anregend, aber für sich ohne innerlich bildenden Wert, während Dürer dieselbe Kraft hineinzwingt in den Willen einer reinen, großen, stetig fortschreitenden Kultur. — Auch in der Schweiz kommt solche Landsknechtsstimmung, hier nun im wörtlichsten Sinne, zum Vorschein. MANUEL DEUTSCH, der Dichter und Maler in Bern mag als Vertreter dieser Künstlergeneration genannt werden, die in ihrer vollen derben Art zugleich die prahlerische und liederliche Phantastik der Soldheere wie eine frische, natürliche Anmut darzustellen weiß.
Das kleine Bild der Enthauptung Johannis des Täufers von Manuel Deutsch führt nun über alles bisherige hinaus. Es hat seine Wirkung vornehmlich durch die tiefe Glut der Farbe und durch merkwürdige, aufregende Effekte der Beleuchtung. Man kommt damit auf ein Gebiet, das von der Kunst Dürers ganz abliegt. Es erklärt sich aus der Einstellung der deutschen und insbesondere der Dürerschen Malerei auf Probleme der Zeichnung, daß die Ansätze zu einer wirklichen Farbenkunst nicht recht entwickelt wurden. Dürer hat gerade 38 in seinen späteren Werken eine leuchtende, oft glasige Buntfarbigkeit oder eine stechende Trockenheit der farbigen Behandlung — immer ohne feineres Gefühl für die eigentlich malerische Erscheinung. Man übersieht diese Mängel, wenn man, dem Willen des Künstlers folgend, seine Aufmerksamkeit auf den Wert der Zeichnung konzentriert. Der Auftrag der Farbe hat jenes sorgfältige, glatte Vertreiben des Strichs, bei dem wiederum nur Werte der Zeichnung und Modellierung, nicht aber der malerischen Stoffcharakteristik zum Ausdruck kommen sollen.
Es ist das Nachleben der mehr kolorierenden als malenden Art des Mittelalters, für die ja nicht der Reiz der optischen Erscheinung, sondern die Deutlichkeit der Sachdarstellung das erste Gesetz gewesen war.
Für Dürer lag kein Grund vor, von dem alten System abzugehen — wo aber der leidenschaftliche und unmittelbare Ausdruck des natürlichen Gefühls zum Ausdruck kommen sollte, mußte die Farbe an dieser neuen Lebendigkeit des sinnlichen Eindrucks teilhaben. Es entsteht so im ersten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts ein neuer Stil, der die Bildwirkung aus der Behandlung der farbigen Erscheinung entstehen läßt: eine unruhige und ungleichmäßige Art des Farbauftrags, ohne Rücksicht auf die Deutlichkeit der Zeichnung; mit mehr oder weniger feiner Empfindung für die Farbwerte und ihre Vereinigung in dem optischen Gesamteindruck. Die Dinge sind nur mehr Erscheinungen, Zeugnisse einer ganz subjektiven Weltansicht. Man sieht auch hier sehr deutlich, wie die italienische (venezianische) Kunst, in der diese Auffassung ungefähr gleichzeitig sich zu entwickeln beginnt, und die deutsche Malerei sich voneinander unterscheiden. In Deutschland überwiegt wiederum die innere, gefühlsmäßige Erregung die ruhige Anschauung: eine flackernde Unruhe, die in der malerischen Auflösung der Form mit leidenschaftlicher Schnelligkeit vorwärts eilt, weit vor der venezianischen Kunst voraus—aber mit jener mittelalterlichen Ungeklärtheit des Bewußtseins: die moderne Malerei ist doch nicht durch Grünewald oder Altdorfer geschaffen worden, auch hier siegt die Renaissance, und erst die Rezeption der venezianischen Kunst bedeutet für die nordalpinen Gebiete den Beginn der modernen Malerei.
Baidung Grien hat die neue Art, die Farbe in das Bilderlebnis einzubeziehen oder vielmehr zu dessen Grundlage zu machen, noch nicht — seine Farbe hat etwas Auffallendes, aber schließlich überwiegt doch die Linie, und jene bekommt eine leere, unstimmige Großflächigkeit, die in seiner späteren Zeit mit der Kon-trastierung heller, womöglich lichtrosiger und schwarzer oder doch dunkler Flächen an die Art Cranachs erinnert. Es hängt damit zusammen, daß seinen Bildern trotz alles ursprünglichen Temperaments ein beinahe akademischer Charakter beigemischt erscheint. Wenigstens gegenüber Grünewald — der freilich auch sonst den Straßburger weit überragt. Wir wissen von dem Leben des MATTHIAS GRÜNEWALD von Aschaffenburg fast nichts, und auch seine Kunst scheint mit einer erschreckenden Plötzlichkeit wie aus dem Nichts emporzusteigen. Er ist ein Zeitgenosse Dürers und zugleich in seiner Art dessen vollkommenstes und großartigstes Gcgenbild. Es wird viele geben, denen der Isenheimer Altar in dem Kolmarer Museum, trotz der unvollständigen Erhaltung des Aufbaus und trotzdem die Tafeln auscinandergenommen sind, unter allen Werken der altdeutschen Malerei den überwältigendsten Eindruck gemacht hat. Ohne weitere Zwischenstufen eines erlernten Stils scheint hier das Bild ganz unmittelbar aus einer fast schaurigen Glut des Erlebnisses hervorzugehen, in einer Pracht und Freiheit der malerischen Behandlung, die alle Konventionen einer linear gerichteten Kunst beiseite wirft.
Es sind Darstellungen derselben religiösen Geschichten, wie auch Dürer sie zu malen hatte — aber wie anders werden sie verstanden! Auch hier Lehrabsicht, Predigt oder besser, eine ergreifende Rhetorik, aber außerhalb aller Tradition der Kirche und außerhalb alles Strebens nach dem Charakter der objektiven historischen Wahrheit, des Zeugnisses von einem einmaligen Geschehen. Ungeheure Symbole, zeitlos, von starker Gegenwärtigkeit jedoch und realster Greifbarkeit für die Seele, die die Gewalt der „Vision“ für diese Dinge besitzt und die unheimliche Realität solcher Gesichte zu ertragen vermag. Diese Religiosität kennt keine Grenzen der Phantasie, kein Innehalten scheuer Verehrung eines Höchsten und Unfaßbaren -— die letzten Schleier, die den Menschen von dem Göttlichen trennen, sollen fallen vor jener unendlichen Exaltation der Seele, die ihr eine unwiderstehliche, magische Gewalt verleiht. Es ist klar, daß vor den Bildern Grünewalds von der Anbetung einer Gemeinde nicht mehr die Rede sein kann — in der Einsamkeit, wie aus der Nacht hervor müssen diese Eingebungen dem Begnadeten erscheinen. Und es ist sicher, daß hier der Gegenpol zu der Religiosität Dürers ebenso wie Luthers gegeben ist. Auch ihnen mögen Bilder von der grauenhaften Großartigkeit und Wirklichkeit des Grünewaldschen Kruzifixus vor die Seele getreten sein — aber es sind ihnen wirre Träume, die der Tag verscheucht. Für Grünewald ist jener erhöhte Glanz einer spukhaft-phantastischen Erregung die Sphäre, die ihm das Höchste gibt und in der sein Schaffen sich bewegt. Auch die niederen Ausgeburten einer gesteigerten Traumwelt erhalten so ihre faszinierende Glaubwürdigkeit . Man findet dieselbe explosive Gewalt der Subjektivität in der Bewegung der „Schwärmer“ wieder; ohne daß phantasievolle Vermutungen über des Künstlers Waldensertum deshalb bereits notwendig angenommen werden müßten. Es sind aber hier und dort dieselben Erscheinungen: eine gleichsam dauernde Atmosphäre ekstatischer Aufwallung, eine Zerstörung alles Gemeingefühls und aller Tradition, eine Entkleidung der christlichen Religiosität von allen historischen Bestandteilen.
Man weiß, daß die Weltanschauung der Schwärmer wenigstens in jenen exzessiven Formen keinen Bestand zu gewinnen vermochte — dasselbe Schicksal hat die ihr geistesverwandte Kunst Grünewalds gehabt. Sie steht, wie sie sich selbst gestellt hat, außerhalb der historischen Entwicklung, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Sie besitzt alles, nur nicht den Schlüssel zu einer bildmäßigen Erklärung der Welt. Es liegt ihr nichts daran. In visionärer nachtwandlerischer Sicherheit zaubert die Phantasie Gestalten und Farben ihrer eigenen Welt ans Tageslicht, unter Verwischung aller Grenzen des wirklichen und des erträumten Daseins. Neben der zutreffendsten und einfachsten Beobachtung eine aller irdischen Gesetze spottende Willkür, ein Schwall ineinanderströmender Farben — nur ein Schritt vom Natürlichen zum Grotesk-Ausschweifenden. Auch die alltäglichste Realität erscheint in einer ruhelosen schreckhaften Gewalt der Intuition, ohne 40 objektive Sicherheit: als ob im Augenblick doch alles ganz verwandelt sein könnte.
Alle Dinge haben den einen Ton derselben erregten Lebhaftigkeit — wie ist dagegen doch in der Kunst Dürers die innere Variation der Stimmung von übersehbarem Reichtum, wie kommen da die verschiedenen Möglichkeiten des Daseins zu ihrem Recht! Ein betäubender Enthusiasmus des Gefühls — keine Weltanschauung; viel mehr eine Bedrohung als eine Vermehrung des sicheren Bestandes der Mittel malerischer Kultur, eine Gefährdung des Resultats, das die Arbeit von Generationen als den unantastbaren Besitz gesicherter Welterkenntnis erworben hatte. Damit sollen nicht philiströse Bedenken erhoben werden gegen eine Kunst, vor deren Großartigkeit alle Einw’endungen verstummen — nur sollte man nicht meinen, daß Grünewald innerhalb der Geschichte der deutschen Malerei von Rechts wegen diejenige Stelle gebühre, die allein Dürer zukommt: daß in der Kunst der einen Persönlichkeit Geist und Vermögen der Nation selbst ihren notwendigen und erschöpfenden Ausdruck zu finden scheinen.
Grünewald steht für sich, aber die malerische Auffassung der Bilderscheinung, die er in heroischem und pathetischem Sinn gibt, findet ihre verkleinerte, in lauter Diminutivformen übersetzte Wiederholung bei den Künstlern des sogenannten Donaustils, unter denen ALBRECHT ALTDORFER in Regensburg oben an steht. Eine lebhafte Empfindung für die Farbe und das Spiel des Lichtes verbindet sich mit der heitersten Bildlust, so daß diese Werke immer zu den reizvollsten Schöpfungen der deutschen Malerei zählen werden. Der Ursprung dieses Stils ist noch in vielem ungewiß. Beziehungen zu Dürer, zu Pacher, zur italienischen Malerei sind da und geben doch keine vollständige Erklärung, die selbst dann kaum zu erhoffen ist, wenn es gelingen sollte, frühere Entwicklungsstufen dieser Lokalschule in zusammenhängender Folge nachzuweisen. Im Verhältnis zu der Gesamtrichtung des mittelalterlichen Kunstschaffens wird der Donaustil immer den Charakter einer eigenwilligen, sprunghaften und auch wohl etwas spielerischen Eigenart behalten.
Die offizielle Malerei der mittelalterlichen Kirche war immer und notwendig, auch bei Dürer, an erster Stelle Figurenkunst gewesen — hier nun ist nichts mehr davon, nur mehr naive und lebhafte Plauderei von der Welt, von ihren Wundern in Landschaft und Architektur, in Farbe und Beleuchtung; von Menschen, die in dieser Welt dahingehen, dies und jenes tun, von wechselnder Bedeutung, aber doch immer so, daß der novellistische Ton einer Erzählung von merkwürdigen und unterhaltenden Dingen festgehalten wird, ohne Unterbrechung durch die Absicht didaktischer Repräsentation. Die Auffassung des Mittelalters, daß christliche Unterweisung und Erziehung des Menschen der erste Zweck auch der Kunst sein müsse, ist hier ganz dahin. Eine relativ immer noch große Menge von Darstellungen ist dem kirchlichen Gedankenkreis entnommen, aber es sind phantasievolle Variationen, in denen die ursprüngliche Bedeutung des Themas vollkommen verloren geht. Eine ganz unkonventionelle Fröhlichkeit der Spielmotive, merkwürdige Stellungen und Gruppierungen, ein buntes Gewimmel der Menge, sonderbare Effekte des Raumes und der Beleuchtung — man kennt die alten, längst bekannten Stoffe kaum wieder . Auch das ist kaum ein bloßer Zufall, daß Erzählungen, die man bei Dürer vergebens suchen würde, wie jene Geschichten der Quirinuslegende, von Altdorfer breit ausgesponnen werden der Anschein der ganz persönlichen und augenblicklichen Impression, des gar nicht Lehrhaften ist hier leichter noch zu geben. Dazu eine doch auffallend große Zahl der nichtkirchlichen Themata, unter denen die antikischen Geschichten überwiegen: ohne alle Gelehrsamkeit, im Märchen- oder Volksliedton. Es hängt damit zusammen, daß eine besondere Idealität der in der Heilsgeschichte voranstehenden Personen, Christi, der Apostel und der Heiligen weder erstrebt noch erreicht wird: sie gehen in dem großen Schwarm unter. Der Donaustil ist nach der Seite der Charakterbildung völlig indifferent, und blättert man etwa die kleine Holzschnittpassion Altdorfers durch, so bleibt doch kaum etwas von seelischer Ergriffenheit, von dem Eindruck schmerzlicher Vertiefung zurück: eine bunte Bilderfülle mit allerlei Seltsamkeiten ist an einem vorübergezogen. Mit diesem Aufhören der Figurenmalerei im alten Sinne verbindet sich notwendig eine lebhafte Neigung zur Landschaft —- man betont gern, daß das erste reine Landschaftsbildchen der deutschen Kunst von Altdorfer herrührt, und in den Zeichnungen des Wolf Huber sind die allerfrischesten Natureindrücke festgehalten. Aber als Ausgangspunkt der Erklärung wird das Interesse für die Landschaft keineswegs zu nehmen sein — sie zählt nur mit zu all den tausend Dingen, an deren Überreichtum die Phantasie sich ergötzen will. Man könnte sagen, daß die religiösen Vorstellungen selbst jener vergnügten Schnörkellust erlegen sind, die im Mittelalter die Drölerien hervorgebracht hatte. Wie so gar nicht modern, sondern vielmehr echt mittelalterlich diese fabulose Art ist, wird an den antikischen Bildern vielleicht noch deutlicher als an den kirchlichen.
Es ergibt sich aus diesem vorzeitigen Abbrechen der ernsten Probleme der mittelalterlichen Entwicklung, daß die Figurenzeichnung unzureichend und die Raumdarstellung trotz aller Anschaulichkeit unsicher bleibt. Diese Künstler schaffen mit großer Lebendigkeit und Keckheit aus einem Allgemeingefühl der Sache heraus, dessen Sicherheit und Präzision natürlich, entsprechend dem bis dahin gewonnenen geringen Besitz an allgemein anwendbaren Anschauungsformeln, nur minimal sein kann. Auch die Ausdrucksfähigkeit ist dementsprechend eng begrenzt, und es kann keinen Ersatz bieten, daß wohl auch die schwierigsten und wenigstens der Intention nach verblüffendsten Verkürzungen gewagt werden. Schon durch die Mangelhaftigkeit des zeichnerischen Könnens muß das kleine, ja winzige Format als wünschenswert erscheinen. Eine Unzahl puppenhafter Figürchen, eine fortwährende Teilung der architektonischen Formen, so vielfältig und steinbaukastenmäßig zusammengeschachtelt wie nur möglich , überall kleinste, womöglich rundliche Diminutivbildungen — so erst ist die Kunst Altdorfers in ihrem eigentlichsten Gebiet. Da genügt eine ungefähre Wahrscheinlichkeit — aber wie auffällig ist doch noch bei dem späten Susannabild oder bei der Architektur des Augsburger Gemäldes das unsichere Schwanken des Bodens, die Unmöglichkeit der Raumanlage. Hier ist noch überall jene mittelalterliche „Falschheit im Gemäl“, die Dürer hatte überwinden wollen.
Man braucht kein Pedant zu sein, um die Wichtigkeit dieser Dinge zu betonen. Auch das künstlerische Gefühl ist dadurch gebunden. Keins dieser Bilder, deren 42 Anordnung vom Raum auszugehen scheint, gibt die unendliche Weite, jenes Aufatmen der Brust in der Freiheit der Landschaft, keins auch das Gefühl eines Umschlossenseins im begrenzten Raum. Wo es nur geht, ist das Prinzip der Raumbehandlung die Zerlegung in kleine Kompartimente, deren Winzigkeit ihr Volumen als unmeßbar erscheinen läßt . Oder aber: Figuren und Dinge stehen so, daß das Bild in kleine Raumgruppen mit eignen Mittelpunkten zerlegt wird. Die brillantesten Kombinationen wie bei den Brückenbildern der Quirinuslegende dienen doch nicht so sehr, wie man vielleicht denken könnte, der Erzeugung eines lebendigen Raumgefühls, sollen vielmehr den Reiz des Überraschenden und Gewagten als einen ganz selbständigen Anschauungswert hervorrufen. Ebenso die Behandlung von Farbe und Licht. Es ist bezeichnend, daß Altdorfer die Helldunkelzeichnung so gern verwendet — auch in Gemälden wie dem Berliner Bild der Geburt Christi ist die Technik ähnlich: mit spitzem Pinsel, Tupfen für Tupfen, werden die Strichelchen und Kringelchen auf den dunklen Grund aufgetragen. Das Laub des Waldes wird stets in dieser Weise behandelt, wobei es für uns gleich ist, ob die streifig bewegten Lichterchen der Frühwerke oder die ganz indifferent runden Pünktchen der Spätzeit angewandt werden. Diese „Lichtflecken“ wollen gar nicht als malerisch aufgelöste Erscheinung gelten, sondern in dem bunten Durcheinanderpurzeln ihrer Einzelformen gesehen sein. Diese „malerische“ Anschauung basiert durchaus in dem mittelalterlichen Weltgefühl, kennt nicht die moderne Empfindung der überall einen Unendlichkeit der Welt: statt dessen die endlose Vielfältigkeit, mit der ebenso mittelalterlichen Nuance der endlosen Kuriosität. Der fabelhafte Märchenzauber der Beleuchtungseffekte ist prinzipiell verschieden von jener Verklärung der wirklichen Welt zu einer wahrhaft unendlichen Schönheit, wie Claude Lorrain sie durch das Licht seinen Landschaften zuteil werden läßt: die Frische des malerischen Natursehens im Donaustil gehört einer naiven, wundergläubigen Seele, nicht der modernen Kultur des Bewußtseins. Alle diese Bilder sind von einer wundervollen freien und heiteren Leichtigkeit — es ist die „Freiheit“ jedoch des mittelalterlichen, nicht des modernen Menschen, die in ihnen zu Worte kommt; eine spielende Lust der Willkür. Wir haben bei Grünewald an die gleichzeitigen Bewegungen des Schwärmertums erinnert, und auch für den Donaustil ist ein ähnlicher Hinweis zur Erklärung des eigentümlichen Phänomens versucht worden. Aber so vielfach und interessant die Parallelen sein mögen, die sich hier ziehen lassen, so fehlt doch der Kunst des Donaustils der religiös gestimmte Grundton, der erst eine nähere Verbindung möglich machen würde. Es ist alles in allem doch eine harmlose Weltlichkeit des Sinns, die niedere, kindliche, aber gerade darin so aninutende Erscheinungsform der Entdeckerfreudigkeit, die das Zeitalter durchzieht. Wie bei Grünewald: ohne Rücksicht auf die Tradition, ohne Gedanken an Vergangenheit und Zukunft — aber hier nun doch aus der heiteren Überzeugung heraus, daß die Dinge dieser Welt nicht gar so tragisch sind; selbst wenn einmal, wie doch nur selten, das Schicksal grauenhaft dazwischenfährt. Auch solche Art mag nun freilich als subjektive Weltansicht des Individuums passieren — aber es wäre wenig nach dem Sinn dieser Kunst, wenn wir sic nun gar so ernst unter dem Titel einer „Weltanschauung“ rubrizieren wollten. Es ist das lustige Widerspiel jener Freiheit der Persönlichkeit, deren ernstes Ethos mit schwerer Mühe in der Kunst Dürers gestaltet wird.
Neben Altdorfer mag HUBER als sein derberer und leidenschaftlicherer, in vielem eigenartig-bedeutender Gesinnungsgenosse wenigstens genannt werden. Wichtiger jedoch muß uns die Kunst CRANACHS sein, deren Frühwerke so auffällig die Art des (wenig später) beginnenden Donaustils vorzubereiten scheinen. Man wird ein Bild wie die schöne „Ruhe auf der Flucht“ von 1504 niemals in direkte Beziehungen zu Altdorfer bringen können — die breitflächig leuchtende Buntheit der Farbe unterscheidet es ebenso von ihm wie die feste, tektonische Struktur der Gesamtkomposition — aber die naive Lustigkeit der Erfindung, die malerische Frische in der Behandlung der Landschaft ergeben doch eine dem Donaustil verwandte Grundstimmung. Dazu in den Jugendwerken des fränkischen Malers eine Ursprünglichkeit der Leidenschaft und Kraft, daß sein Kreuzigungsbild vom Jahre 1503 alles Ernstes hat als ein Bild Grünewalds gelten können. Niemand nimmt jetzt diese Zuweisung noch fürwahr, aber der Vergleich mit Grünewald ist immerhin interessant genug (man wird heute freilich wohl mehr noch die Unterschiede sehen) — und wenigstens das eine ist doch hier wie dort dem Eindruck gemeinsam und wesentlich : daß alle Tradition beiseitegeschoben und daß etwas Neues und Unerhörtes gegeben ist. Es ist der mittelalterlichen Lehrabsicht bei dem Kreuzigungsbilde unerläßlich, daß der Kruzifixus in die Mitte des Bildes und in die Frontalansicht gerückt ist — indem die Orientierung der Dinge in der Bildfläche erfolgt mit Rücksicht auf ihre inhaltliche Bedeutsamkeit. Bei Cranach nun ist das Bild als innere Einheit genommen, bei der alle Teile der Erscheinung zunächst nur unter sich verbunden sind — ein Totaleindruck für den Beschauer, von objektiver Geschlossenheit. Kaum jemals ist die Souveränität des neuen Bildbewußtseins in dieser Zeit so sicher und so selbstverständlich erschienen wie hier. Es sind die letzten Werke der Jugendzeit des Künstlers, in der er, von unbekannten Anfängen ausgehend, mit der oberdeutschen Malerei in engstem Zusammenhang steht, in Beziehungen auch zu dem jungen Dürer.
Seit seiner Berufung nach Wittenberg im Jahre 1504 beginnt sich Cranachs Stil zu wandeln, und es entsteht schließlich jene allbekannte, mehr oder weniger schematische Art, mit der sich, infolge der überaus häufigen Beispiele gerade dieser späteren Epoche, die allgemeine Vorstellung von seinem Wirken zu verbinden pflegt. Gewiß, daß viel dabei verloren gegangen ist: glatter und leerer in der Malerei, formelhafter in den Typen, unpersönlicher und weniger erlebt in der Gesamtstimmung ist das Schaffen des Künstlers geworden. Gerade jetzt, wo der einzigartige Wert der Persönlichkeit als Grundlage aller künstlerischen Leistung zu gelten beginnt, entfaltet sich, wie im Rückfall zu mittelalterlichen Gewohnheiten, ein ungeheurer Werkstattbetrieb, der die ganzen umliegenden Gebiete mit gemalter Ware von sehr verschiedenem Wert versorgt. Die gesamten Produktionsbedingungen für den Maler sind in ungünstigsterWeise verschoben: er, der Oberdeutsche, in den fremden und an Anregung armen sächsischen Gebieten, losgelöst von aller lebendigen Tradition malerischer Kultur — in einer Gesellschaft, in der der einheitliche Ton des altbürgerlichen Wesens sich zu zersetzen beginnt, indem die unreifen Elemente einer noch rohen höfischen Bildung und einer gründlich mißverstandenen Renaissance auf die Solidität und gesunde Einfachheit der bürgerlichen Kultur zerstörend einwirken — unter dem direktesten Einfluß endlich jener späteren, einseitig und unerquicklich theologischen Entwicklung des Protestantismus, die eine formelhafte Erstarrung der religiösen Vorstellungen zur Folge hat. Aus solchen Kreisen und mit solchen Anforderungen kommen die Aufträge, die der Künstler nunmehr zu erledigen hat: man sieht nicht, wie er, auch wenn er eine reichere Natur gewesen wäre, sich anders mit diesen Verhältnissen hätte abfinden können, als er wirklich tat. Wir können hier nicht auseinandersetzen, wie es kam, daß die große nationale Bewegung der ersten Jahre der Reformation so bald im Sande verlief — es war im wesentlichen ein Verbluten und Vertrocknen der starken und reinen Begeisterung, die schaffend auf das Höchste gerichtet war, an dem unausbleiblichen Hervortreten egoistischer und partikularistischer Sonderwünsche, an den kleinen, aber dauernden Widerständen der alltäglichen Verhältnisse. In diesem Geist der Feindseligkeit und gegenseitigen Abschließung erlischt die herzliche Ursprünglichkeit und freie Größe des schaffenden Geistes — überall nur mehr tote Formeln, eine fortschreitende innere Verarmung. So erklärt sich auch der scheinbare Atavismus der Cranachschen Kunst: sie wird wieder ganz, und nun in einem kleinlichen und äußerlichen Sinne, Illustrationskunst, eine Kunst des Erzählens und Zeigens, ohne erlebten Inhalt. Amüsante Mythologien und ähnliche Geschichten, womöglich mit sinnlicherotischem Beigeschmack — die Lust am Plaudern, wie sie der Donaustil hatte, klingt hier nach und gibt den Bildern das Beste, was sie haben; aber an die Stelle der, wenn auch nicht sehr tiefen, so doch ganz künstlerischen und lebendigen Auffassung tritt ein Bilderbogenstil, in dem die Figuren sich vordrängen und die Bildeinheit sich wieder auflöst: vorn in der Fläche als Hauptsache die Figuren, aufgeklebt auf den als Folie behandelten Hintergrund. Und ebenso, nur viel langweiliger, in den religiösen Bildern.
Es ist im ganzen nicht sehr erfreulich, was sich aus der ursprünglich so warmen Kunst Cranachs im Zusammenhänge einer nun vollends widerwärtigen Kulturentwicklung herausbildet. Aber die künstlerische Potenz der Persönlichkeit ist auch in diesen späten Bildern durchaus nicht so gänzlich ausgetilgt, wie man meist zu glauben scheint. An den großen und vornehmlich an den kirchlichen Gemälden, die der Natur der Sache nach am wenigsten von Cranach selbst, am meisten von der Werkstatt haben mußten, ist freilich wohl nicht viel zu retten. Aber die kleinen erzählenden, besonders auch die mythologischen Bildchen haben doch einen eigentümlichen und lebhaften Reiz der künstlerischen Auffassung, der eben aus jener Bilderbogenart hcrgeleitct ist. Bereits bei Baidung Grien wurde auf verwandte Erscheinungen hingewiesen: scharf silhouettierte, helle Figuren erscheinen vor einem dunklen Grund, und nun wird das Bild lebendig durch die starke Kontrastierung der Flächen und die anmutig bewegte Führung der Konturen. Auch hier mag man eine Rückkehr zu der gotischen Linienkunst im Gegensatz zu der Form- und Raumdarstelluiig der Renaissance finden — freilich in jener dünnen und etwas leeren Zierlichkeit, die zeigt, daß die Sache der Gotik trotz solcher „Nachblüte“ rettungslos verloren ist.
Cranach mochte glauben, mit den modernen Idealen der Renaissancebildung mitzugehen — aber er verstand weder ihren Sinn, noch war seine Seele wirklich von ihnen erfüllt gewesen. Diejenige Persönlichkeit, die den Typus abgibt für die in allem Wesentlichen noch selbständige, auf das Schaffen und nicht auf das Nachahmen gestellte deutsche Renaissance, ist Holbein. Seine Kunst geht, durch Vermittlung seines Vaters, aus der augsburgischen Malerei hervor, die erst mit diesem letzteren für uns neben der Ulmer Schule hervorzutreten beginnt. Dabei ist jedoch die Verbindung zwischen Vater und Sohn so eng, daß es zweckmäßig scheint, Burgkmair, den späteren Künstler, voranzustellen.
Hans Burgkmair ist ziemlich genau ein Zeitgenosse Dürers, und der Unterschied zwischen der fränkischen und schwäbischen, genauer, Nürnberger und Augsburger Art kann nicht deutlicher werden als in diesem Nebeneinander der beiden Persönlichkeiten. Auch Burgkmair war früh in Italien gewesen und, wie sich aus den Handelsbeziehungen der Städte von selbst ergab, vor allem der venezianischen Kunst nahe getreten. Neben Dürer hat er den Ruhm, als Erster die Formenwelt der italienischen Renaissance nach Deutschland gebracht zu haben. Aber in einem ganz anderen Sinn. Dürer hebt die grundlegenden, konstruktiven Probleme vor allem übrigen hervor, und so sehr auch seine künstlerische Sinnlichkeit von Italien her angeregt wurde, so ist es doch mehr noch und immer ausschließlicher der Verstand in ihm, der den Wert der fremden Kunst prüft und durch Abstraktion aus ihr diejenigen Elemente zu gewinnen sucht, die dem eignen Schaffen förderlich zu sein vermögen. Burgkmair scheint weicher, empfänglicher zugleich und schwungvoller: die freie Schönheit und Stattlichkeit der italienischen Auffassung der menschlichen Gestalt, das Bedeutende und doch Gefällige der Erscheinung, die heitere Zierlichkeit der Dekoration, die leuchtende Tiefe der Farbe, das sind die Werte, die er der venezianischen Kunst abzugewinnen sucht. Die Madonnenbilder der beiden Künstler, die fast gleichzeitig, 1506 und 1509, entstanden sind , können Vorteile und Nachteile der einen wie der anderen Art dartun — nur muß man, um dem Augsburger gerecht zu werden, die Farbe der Originale hinzudenken: die harte Buntheit Dürers und die prachtvoll glühende, wie von einer inneren Bewegung erfüllte, wallende Farbe Burgk-mairs. Wieviel naiver dieser bleibt, mag die so wenig formelle Haltung des Kindes gegenüber der künstlich zurechtgerückten Pose auf dem Dürerschen Bilde zeigen — schon hier, bei diesem doch in Venedig selbst entstandenen Gemälde, ist unverkennbar, wie sehr alles bei Dürer verstandesmäßig überlegt ist, strenge Konstruktion. Die Kunst Burgkmairs erreicht ihre Höhe, wo der große und volle Zug der Bewegung gegeben wird. Bilder, wie das späte Kreuzigungstriptychon (bei dem die Flügel in direkter Verbindung mit dem Mittelbild gedacht werden müssen oder das Münchner Gemälde des Evangelisten Johannes, sind in dem prachtvollen Pathos und dem freien und großen Wurf der Gesamtanlage Dürer überlegen. Die Kehrseite hiervon, eine dekorative Leere und Schwäche der Durchbildung, kann nicht unbemerkt bleiben, und man wird schließlich vielleicht mehr den Eindruck eines pompös arrangierten Schauspiels haben als den wirklicher Ergriffenheit und voller Glaubwürdigkeit. Burgkmair erscheint, wie wenige andere und sicher auch vor Dürer, als der Repräsentant der Maximilianischen Renaissance, wie sie von dem Kaiser selbst verstanden wurde: eine prächtige Stattlichkeit des Auftretens, eine vielfache Gewandtheit in der Umkleidung des Daseins mit einer fast überreichen Dekoration, nicht gerade eine sonderliche Tiefe und Festigkeit des Geistes. Von der Art, in der Burgkmair die von dem Kaiser ihm überwiesenen Aufgaben angriff, mag das Bild des neben ihm tätigen LEONHARD Beck eine Vorstellung geben: dieser heilige Georg wird jedem den Gedanken an Maximilian wachrufen; als ob er selbst oder einer seiner Turniergenossen dargestellt sei. Auch nach Ulm, auf Martin Schaffner, hat Burgkmair eingewirkt, und die reiche Renaissance-Architektur in dessen imposantesten Schöpfungen kommt ihrer Gesamtwirkung nach der Augsburger Kunst wenigstens nahe.
Indem wir zu Hans Holbein demÄlteren zurückkehren, mag sein reifstes Werk, der wohl erst 1516 vollendete Sebastiansaltar den Stilunterschied des nur’wenig älteren Künstlers gegenüber Burgkmair klarmachen: wie trotz aller schönen Fülle der Erscheinung und trotz der kräftigen Renaissancemotive bei Holbein doch noch der Geist der alten Kunst vorherrscht, eine Befangenheit und Enge, ein Stocken der Erfindung gegenüber dem freien und großen Gesamtzug in den Werken Burgkmairs. Die Farbe hat eine ruhige Schönheit, die sich dem Eindruck der beharrenden Existenz, nicht aber dramatischer Bewegtheit einzufügen vermag—von unübertrefflichem Wohllaut in den milden, gedämpften Tönen der Außenseite des Altars. Welche Entwicklungsmöglichkeiten jedoch in dieser Kunst, mit ihrer inhaltsreichen und prägnanten Schärfe der Einzeldurchbildung! Nur von hier konnte die Kunst des jüngeren Holbein ihren Ausgang nehmen. Auch seine geistigen Eigenschaften scheinen in der Natur des Vaters vorgebildet. Kaum bei irgendeinem deutschen Künstler der Übergangsepoche findet sich ein gleich ausgeprägtes physiognomisches Interesse wie bei Holbein dem Älteren.
Eine Menge von Porträtzeichnungen und Studienköpfen beweisen das ebenso wie die Gemälde selbst . Und es ist dasjenige Verhältnis, in dem auch der jüngere Holbein sich dem Darzustellenden gegenüber fühlt: eine kühle, scharfe Objektivität, wie sie nur möglich ist, wenn der persönliche, herzliche Anteil am Menschen selbst und seinem Schicksal fehlt. Das Subjektive ist ausgeschaltet, oder, wo es auftritt, erklärt es sich aus dem Gefühl der Überlegenheit, das entstehen muß, indem der Künstler ein klares und durchdringendes Wissen von der seelischen Qualität des Darzustellenden zu haben glaubt: Stimmungen der Ironie und des Hohns — es gibt dem älteren gegenüber dem jüngeren Holbein seinen archaischen Charakter, daß die Deutlichkeit des Aussprechens noch zu weit geht, bis zur Satire und unverkennbaren Persiflage. Aber unendlich verfeinert, ist doch dieses Herrscherbewußtsein eines unbedingten Vermögens psychologischer Analyse die Grundlage der Holbeinschen Porträtkunst, und bei dem Doppelporträt der beiden Godsalves glaubt man auch jenen sarkastischen Ton zu spüren — der doch so ganz die Seele des Künstlers beherrscht.
Damit verbindet sich, in aller trockenen Befangenheit des älteren Künstlers doch deutlich spürbar, ein auffallend lebendiger Sinn für die gesunde, drängende und doch knappe Fülle, für die straffe Geschlossenheit und zugleich Geschmeidigkeit der formalen Erscheinung. Diese eigentümlichste Kraft der Holbeinschen Zeichnung, die zunächst in der allgemeinen Steiflinigkeit der Übergangsepoche nur latent wirksam ist, tritt seit den Bildern von 1512 als bestimmend für die Gestaltung aller sichtbaren Erscheinung hervor. Die Ornamentik gibt im kleinen die besten Beispiele, doch ist offensichtlich das Thema der menschlichen Figur dasjenige, um das der Künstler sich am angelegentlichsten bemüht. Und da setzt dann die Tätigkeit des Sohnes ein: robust zunächst bis zur Grobheit, so daß nun erst recht die harmonische Abgeklärtheit der Alterskunst des Vaters fühlbar wird, aber vor allem doch auch mit dem neuen Sinn des Zeitalters für die starke Form und die feste Bewegung, für den einheitlichen Fluß der Aktion und die große Disposition der Massen. Ein Bild wie die Kreuztragung Christi von 1515 gibt dieses neue Empfinden und Können so klar, daß die einheitliche Zuweisung des gleichzeitigen Sebastiansaltars an den älteren Holbein nicht mehr in Frage gestellt werden sollte. Eine neue Epoche — bei einer in der seelischen Anlage ähnlichen Persönlichkeit, die freilich nun durch die Möglichkeit einer bis ins letzte vollkommenen und klaren Entwicklung eine alles überragende Bedeutung erhält.
Man hat sich gewöhnt, Dürer und HOLBEIN nebeneinander zu nennen — sie sind durch den Zwischenraum einer Generation getrennt und verhalten sich, fast bis ins letzte hinein, ebenso zueinander wie Luther und Calvin. Die große Aufgabe der Zeit ist die formale Organisation: die allgemeinen Antriebe des Lebens in zwingender, logisch bindender Einheit der äußeren Erscheinung zusammenzunehmen, so daß aus dieser planmäßigen Durchdringung und Zusammenfassung eine Steigerung der Daseinskraft, im praktischen Leben eine erhöhte Widerstands- und Angriffsleistung hervorgehen muß. Wir haben bereits gesehen: die einheitliche Begeisterung der refor-matorischen Epoche war schnell erlegen und mit ihr das hoffnungsfreudige Gefühl, in einer natürlichen, lebendig fortschreitenden Entwicklung der mittelalterlichen Ideale neues Leben zu schaffen — die Gleichmäßigkeit der allgemeinen Voraussetzungen, die hierfür erforderlich gewesen wäre, war nicht da, weder innerhalb der deutschen Nation noch gar jenseits ihrer Grenzen. Überall Spaltung und Kampf — und daraus notwendig hervorgehend das Bedürfnis der Organisation. Die Auffassung von Leben und Welt wird eine andere: ein Herrschen-und Benutzenwollen, ein Übersehen der Dinge und der Menschen, ein Bedürfnis nach planmäßig entwickelter Überlegenheit. Wo sind da die Stimmungen warmer und herzlicher Menschlichkeit, naiv teilnehmender Freudigkeit, eines instinktiven Schaffens aus der Fülle des Herzens heraus ? Durchdringende Schärfe des Verstandes, zielbewußte, geschulte Klarheit des Willens sind die geistigen Kräfte, die nunmehr die Führung des Zeitalters übernehmen. Die Tiefe des religiösen Erlebens kann bei dem einzelnen so stark und rein sein, wie sie will — aber sie gibt nicht mehr den Impuls eines frohen, allseitig beschwingten Schaffens, nur mehr die Energie des Kampfes. Auch hier, auf religiösem Gebiet, an Stelle der lebendigen Hervorbringung neuer Werte der Auffassung nur mehr der Wille zur Form, zur exakten Fixierung des Dogmas. In dieser Stimmung der abendländischen Welt gewinnt die italienische Renaissance ihre internationale Bedeutung — die in ihr entwickelte Klarheit des Bewußtseins und der formalen Logik sicherte ihr auf allen Lebens-48 gebieten den Sieg. Nicht so, daß schon ihre unselbständige Nachahmung eingetreten wäre — wie das Bedürfnis allenthalben ursprünglich war, so war auch die Lösung, trotz des Anschlusses an die fremde Art, doch von eigenem Kraftgefühl getragen. Auch die Kunst Holbeins ist zwar Renaissance, mit offenbarer Kenntnis und Benutzung der italienischen Formen, aber doch in einem eigentümlich deutschen Sinne, mit einer Empfindung der Linie, die von allem Italienischen prinzipiell verschieden und letzthin immer noch „gotisch“ ist — nur daß, was in ihr gedacht und empfunden wird, jetzt reine, außerhalb des persönlichen Willens stehende Objektivität und klare Form geworden ist.
Eine vollständige Analyse der Holbeinschen Kunst ist hier, ähnlich wie bei Dürer, ohne Hinzuziehung der Zeichnungen und Holzschnitte nicht möglich; auch von den Porträts kann hier nur eine flüchtige Andeutung gegeben werden. Es ist das Erste dieser Kunst gegenüber derjenigen Dürers, daß sie über den Stoffen steht, die in ihr dargestellt werden. Dürer — und die Künstler des Donaustils natürlich in ihrer Art nicht minder — hatten in den abzubildenden Dingen und Vorgängen gelebt, sich von ihnen ergreifen und erfreuen lassen. Hier mit, dort ohne Lehrabsicht, war der Künstler doch immer mitten in der Sache gewesen; so daß eine Durchtränkung des Bildes mit lauter besonderen, für sich empfundenen Gefühlswerten sich ergab. Bei Holbein ist dieser gefühlsmäßig direkte Kontakt mit den Dingen selbst verloren gegangen — das Bild steht außerhalb des Künstlers, der ihm gegenüber als einer durch seinen Willen gebildeten Einheitsform die volle Souveränetät des Schaffens besitzt. Man sieht das an den religiösen Bildern sofort: es sind Meisterwerke der künstlerischen Anschauung, aber ohne jene Wärme des religiösen Gefühls, die von Dürers Bildern ausstrahlt. Das Bild der Grablegung gibt eine wundervoll lebendige Anschauung der physischen Aktion — man mag dem die kümmerliche Enge auf dem Dürerschen Gemälde entgegenhalten, aber mit welcher unvergleichlichen Gewalt sind nun hier die Schwebungen und Erschütterungen der Seele sichtbar gemacht! Eine so mitleidslose Objektivität, wie in Holbeins Christusleichnam , hätte Dürer als eine Profanation des Heiligen erscheinen müssen. Bei den Porträts ist es analog, und ebenso überall. Indem die inhaltliche Berührung zwischen Seele und Kunstwerk fortfällt, wird der Ausdruck der Virtuosität — nicht der Manieriertheit, sondern des vollendeten Könnens — das eigentliche Ziel der Bildarbeit. Reinheit, Klarheit und Folgerichtigkeit der sichtbaren Gesamterscheinung sind die ersten Erfordernisse der Darstellung. Das heißt dann: klare Schichtung des Raums und der Form, durchdachte Komposition, in der die vollkommene Sichtbarkeit zugleich absolute und schlagende Deutlichkeit der Hauptmomente der Sache und des Vorgangs bedeutet. Die Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit der Monumentalität, eine ruhige, würdige Schlichtheit der Erscheinung die Madonna von Solothurn und noch mehr die Madonna des Bürgermeisters Meyer geben diesen Ton in einer einzigartigen Vollendung. Da ist nichts von formalistischer Klügelei, sondern die reinste Stimmung des Lebens selbst, überall jedoch in ihr fühlbar die Kühle des Verstandes, das Bewußtsein der „Komposition“. Der Ausdruck der Ironie und Unbarmherzigkeit ist die eigentliche Domäne dieses schneidend scharfen Geistes; so daß gegen seine Totentanzbilder die größten Brutalitäten der früheren Kunst nur mehr roh, aber kaum noch grausam erscheinen.
Die Farbe wird in den Gemälden Holbeins bis zur äußersten Pracht gesteigert, aber nichts liegt ihr ferner als jubelnde Frische, naive Lustigkeit, innere Glut. Er gibt die brillanteste Charakteristik des Stofflichen, aber von außen her, mit gleichmäßig vornehmer Verhüllung der Mache der malerischen Arbeit. Die gewählt einfachen Farbenzusammenstellungen der späteren Porträts zeigen den Grundton dieser Empfindung, für deren Verhältnis zur Natur das abstrakt rosige Inkarnat am bezeichnendsten erscheint. Und nun diese Feinheit und Präzision der Zeichnung: es wurde schon gesagt, daß ihr noch das gotische Liniengefühl zugrunde liegt. Die eigentümliche Empfindung der linearen Werte ist nicht, wie in Italien, aufgelöst durch das Gefühl der in einheitlichem Rhythmus gebildeten Form, wie denn auch in der Behandlung der Komposition Holbein sich prinzipiell von der italienischen Kunst unterscheidet: es fehlt der eigentlich „schöne“ Klang der Gesamtbewegung, statt dessen eine nüchterne, scharfe, ganz und gar nur sachliche und darin schlechthin vollendete Klarheit — mehr noch deutliche Schichtung der Elemente der Bildanschauung als jenes plastisch volle Gestalten der italienischen Formphantasie. Eine Komposition wie die des wundervollen Porträts der Frau mit den Kindern zeigt dieses durchgehende Gesetz der Holbeinschen Kunst sehr deutlich: nicht ein aus der Bewegung entwickelter vollschwellender Einklang der Erscheinung, sondern ein Fürsichnehmen der Dinge und ihre Verbindung durch eine vollkommene Klarheit der Distinktion — diese rein logische Begabung der Epoche gibt ein ganz anderes Gefühl als das Erlebnis der Renaissance von der freien Gesetzlichkeit der Schönheit. Wie unitalienisch die Porträts Holbeins sind, zeigt der einfache Augenschein, aber auch positiv ist zu sagen, daß diese rein sachlich gemeinte „Reduktion der Form auf Linienwerte“ nicht anders zu verstehen ist als bei Dürer, nur daß das Grundgefühl, auf das der Prozeß der linearen Stilisierung bezogen wird, das einer absoluten, unerschütterlichen Objektivität ist. Wie in der körperlichen und seelischen Haltung der dargestellten Personen die typischen Stimmungen der mit der Renaissance sich verbindenden Lebensauffassung zum Ausdruck kommen, ist hier nicht mehr auszuführen — man wird das Souveränitätsgefühl der Zeit am besten von dem Porträt des Morette aus erfassen können. Durchgehend ist der Ton einer vornehmen Gemessenheit das erste Erfordernis, dem das Bildnis genügen soll. Und in allem als der letzte Wille dieser Kultur: daß sie die höchste Einfachheit und Verständlichkeit, die rationelle Vollendung des Natürlichen selbst sein will. Man ist geneigt, bei Holbein als „Stil“ zu bezeichnen, was bei Dürer als subjektiv-willkürliche Behandlung des Objekts erscheint — der Prozeß der einfachen Anschauung und Sichtbarmachung deckt sich mit dem der „Stilisierung“ in restloser Einheit von Sache und Form.
Es ist nicht gut, den Charakter eines Volkes einseitig und für immer auf bestimmte Eigenschaften gleichsam verpflichten zu wollen — aber man wird doch zugeben, daß Dürer in einem anderen und vollkommeneren Sinne als Holbein die deutsche Kunst vertritt. Reichtum und Tiefe der Seele, alles Herzliche und Gefühlsmäßige werden nur bei ihm wirklich sichtbar. Und auch die rein historische Betrachtung vermag solches Urteil zu rechtfertigen: nach einer langen Zeit der 50 Kunst in deutschen Gebieten war Dürer der erste, in dem allenthalben der Begriff der deutschen Kunst zur Geltung kam. Holbein ging außer Landes und wurde der Porträtist des englischen Hofes; die Totentanzbilder wie auch die Bibelholzschnitte erschienen zuerst in Lyon, mit französischem bzw. lateinischem Text. Man kann nicht sagen, daß Holbein für seine Zeitgenossen noch irgendwie eine nationaldeutsche Kunst repräsentiert hätte. Und wie wäre das möglich gewesen? Er hatte seine Heimatstadt in den Wirren der religiösen Kämpfe verlassen. Von einer Einheit der Nation war nicht mehr die Rede. Und endlich ist doch deutlich, daß für Holbein trotz aller eignen Schaffenskraft die „klassische“ Kunst bereits jenseits der Alpen zu finden ist. Wie die Dinge lagen, nach den allgemeinen Anforderungen der Zeit und der dadurch gesicherten Überlegenheit der italienischen Kunst, konnte Deutschland nichts anderes mehr sein als eine Enklave in dem allgemeinen Kunstgebiet der europäischen Renaissance. Holbein ist die letzte Persönlichkeit in der Geschichte der altdeutschen Malerei: die gesamten Produktionsbedingungen, unter denen sie gestanden hatte, sind erloschen. Die Kirche und ihre Weltanschauung waren zerstört, die Selbständigkeit der Nation gebrochen, der Geist der bürgerlichen Kultur in einer Zersetzung begriffen. Nur eins blieb als das unverlierbare Ergebnis dieser Entwicklung: das moderne Bewußtsein der Persönlichkeit — ort- und zeitlos zunächst und von einer furchtbaren Inhaltsleere, erschöpft auf allen Gebieten einer wahren Produktivität. Es folgt so jene italienisierende, manieristische Epoche, die vielleicht nicht ganz so trostlos ist, wie man gewöhnlich meint, die doch aber nicht anders als Epoche eines Verfalls der besten Kräfte des Lebens gelten kann. An sich war dieser Durchgang durch die italienische Renaissancekultur hier wie überall unvermeidlich, denn in der Tat war doch die Erneuerung des klassischen Altertums eine Frage von europäischer Bedeutung. Auch für die Kunst, die nun doch einmal überall ihrer historischen Entwicklung nach an die Antike hatte anschließen müssen. Daß aber so gründlich und auf so lange hinaus das Selbstbewußtsein und die Selbstachtung der Nation zerstört werden würden, war freilich nicht zu ahnen. Überall sonst in Europa entsteht in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach der Zeit der Erschöpfung und der ziellosen Wirren eine neue Schaffensfreudigkeit und eine neue Inhaltlichkeit des Lebens — Deutschland hat keinen Anteil daran. Die niederländische Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts kann verstanden werden, indem man in ihr die Anfänge zu der großen nationalen Entwicklung im Zeitalter des Rubens und Rembrandt zu erkennen versucht. Die Geschichte der altdeutschen Malerei erinnert nur daran, was vorhanden war — und was verloren ging.
Aus dem Buch: Die altdeutsche Malerei ; 200 Nachbildungen, mit geschichtlicher Einführung und Erläuterungen (1909), Author: Heidrich, Ernst.