aus dem Kunstmuseum Hamburg
Die Orientkrise und ihre Folgen für Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich
Rußland hat seit Peter dem Großen seine alte Eroberungspolitik mit verstärkter Kraft nach allen Seiten fortgesetzt. Im Norden hat es die baltischen Provinzen und Finnland gewonnen, im Westen den weitaus größten Teil von Polen an sich gerissen, im Süden den Türken kaukasisches, tatarisches und rumänisches Land abgenommen. Stoßweise drang es in Mittelasien vor und die Herrschaft in Nordasien wurde bis an den Ozean ausgedehnt. Aus dem russischen Binnenstaat, der nur Zugang zum frostigen Weißen Meere hatte, wurde ein Weltreich, das sich von den Grenzen Chinas bis an die Ostsee und an das Schwarze Meer erstreckt und dessen festen Kern das jetzt 80 Millionen umfassende Großrußland bildet, einheitlich in Sprache und Glauben und bis vor nicht langer Zeit fast einheitlich in der Lebensanschauung, eine Welt für sich. Der rechtgläubige Alleinherrscher, der im Innern unumschränkt nach seinem persönlichen Willen regierte, gewöhnte sich daran, auch vom Auslande unbedingten Respekt zu verlangen. Nachdem mit seiner Hilfe die napoleonische Invasion zurückgeschlagen war, fühlte er sich als Schiedsrichter, beinahe als Herr von Europa, und die Lust am Befehlen wurde immer mehr eine Triebfeder der russischen Politik. Der allgemeine Widerwille gegen alles Revolutionäre trat zurück, wenn es sich um Machtbetätigung handelte; die Revolution ist geheiligt, wenn der Zar sie anordnet, denn heilig ist Rußland selbst. Die Russen sind das auserwählte Volk, das sich in den Dienst des Zaren zu stellen hat, um nach dessen Befehl die direkte und indirekte Herrschaft Rußlands immer mehr zu erweitern. Wenn die russischen Heere geschlagen werden, so spricht dies ebensowenig gegen die Überlegenheit Rußlands, wie Sünde und Unglück auf Erden gegen die Weisheit Gottes sprechen, denn es ist nun einmal so, daß die Kraft des russischen Volkes zeitweise durch Fehler oder Schlechtigkeit einzelner in ihrer Wirkung gehemmt wird. Rußland Widerstand leisten, ist beinahe frevelhaft: genau genommen lebt alles, was an Rußland grenzt, leben Deutschland, Österreich, leben die Völker des Balkans von der Gnade Rußlands. — Das ist der Geist der Pharaonen und der persischen Großkönige.
Von diesem Geiste haben sich die ehrgeizigeren, eitleren, auch die naiveren unter den russischen Diplomaten leiten lassen bis auf den heutigen Tag. Es ist für die Karriere vorteilhaft, ihm zu huldigen und die Vergehen, die dabei gegen den gesunden Menschenverstand oder gegen die Forderungen der Wirklichkeit begangen werden, sind an höchster Stelle bald verziehen. Für einen russischen Minister des Äußern, der Einsicht genug besitzt, um zu wissen, wie es in der Welt tatsächlich beschaffen ist, gehört oft eine nicht geringe Kraft dazu, seine vernünftige Auffassung gegen diesen Genius loci, insbesondere auch ruhmbegierigen Untergebenen gegenüber, durchzusetzen, ebenso wie es solchen Botschaftern und Gesandten, die die wirklichen Machtverhältnisse besser kennen gelernt haben, schwer wird, sich zur Geltung zu bringen, während Berichte, die Rußlands Gewalt übertreibend darstellen, bevorzugt werden. Die Nachwirkungen der Vergangenheit fließen mit der Vorausnahme der Zukunft zusammen. Rußland ist so riesengroß und hat Platz für so ungeheuer viel Menschen, daß ein Blick auf die Landkarte den russischen Machtpolitiker berauschen muß.
Dieses außerordentliche, weit über das Maß des Berechtigten hinausgehende Herrengefühl ist sogar von Bismarck, an den man sich doch sonst nicht ohneweiters heranwagte, als lästig empfunden worden. Noch lästiger aber ist es für Österreich-Ungarn, da es von unseren slawischen Mitbürgern und von unseren südslawischen Nachbarn als berechtigt hingenommen wird und sie zur Geringschätzung der Widerstandskraft der Monarchie gegenüber Rußland und daher zu noch anspruchsvollerem Auftreten herausfordert. Dies umsomehr, als sie den bestimmten Eindruck haben, daß die angeblich ungeheure Kraft Rußlands nicht nur im Dienste russischer, sondern auch allslawischer Interessen steht. Tatsächlich wird der Panslawismus von der russischen Regierung begünstigt, weil er ihr Herrscherbewußtsein noch steigert und ihre Position verstärkt. Der Panslawismus verspricht der gesamten slawischen Welt den Schutz Rußlands, und bulgarische, serbische und tschechische Politiker wissen ihn auszubeuten. Man betrügt sich beiderseits, aber etwas Gewinn bleibt doch für beide Teile übrig. Die russische Gesellschaft, die mit falschen Berichten über österreichische Grausamkeiten gegen die Slawen und über deutsche Weltherrschaftspläne gefüttert wird, findet im Panslawismus ein politisches Ideal, für das sich gefahrlos schwärmen und über das sich gefahrlos reden und schreiben läßt; und die orthodoxe Geistlichkeit mit ihrem großen Einfluß auf die Bauernschaft ist für ihn empfänglich, wie einst die katholische Westeuropas empfänglich für den Kreuzzugsgedanken war. Aber vor allem ist der Panslawismus ein Machtmittel für jede russische Regierung, die sich seiner bedienen will, denn er steht ihr immer zur Verfügung, wenn sie ihn ihrem Wagen Vorspannen will. Der Panslawismus steigert ihr Machtgefühl, verlockt sie freilich auch auf Irrwege. Den Slawen außerhalb Rußlands hat er erhöhte Zuversicht gegeben und es läßt sich nicht leugnen, daß er eine historische Bedeutung gewonnen hat. Er hat Bulgarien schaffen und die Türkei zerstören geholfen. Dem russischen Volk selbst aber hat er noch keine positiven Vorteile gebracht. Der gesunde Menschenverstand des noch nicht durch falsche Lehren verbildeten einfachen Russen erkennt dies sehr genau und auf ihn kann sich die Regierung stützen, wenn sie dem Panslawismus Widerstand leisten will. Aber die Angst, ihre slawische Klientel zu verlieren und das Bedürfnis, ein starkes Mittel gegen Österreich in der Hand zu haben, hindert sie, ihm abzusagen. Überschwengliche russische Machtgier hofft, daß sich das Spiel, das nacheinander gegen Schweden, Polen und die Türkei getrieben wurde und das darin bestand, sich mit Hilfe unzufriedener Parteien in das Nachbarland einzubohren und es zu sprengen, auch gegen Österreich werde erneuern lassen. Gegen solche Hoffnungen, die sich mit der Zeit zu bestimmten Plänen verdichten könnten, und gegen den gefährlichen Hochmut des slawischen Imperialismus gibt es glücklicherweise Mittel. Sowohl Rußland, wie die Staaten und Parteien, die auf Rußland zählen, müssen sehen, daß das Slawentum in der Osthälfte der Monarchie ebenso wie in der Westhälfte als gleichberechtigt betrachtet wird. Sie müssen aber auch sehen, daß wir uns vor Rußland nicht fürchten und daß wir, wenn es sein muß, auch vor einem Krieg nicht zurückschrecken. Ihn zu scheuen, haben wir auch tatsächlich keinen Grund, denn die österreichisch-ungarische Armee hat vor der russischen zumindest das eine voraus, daß sie rastlos an ihrer Ausbildung arbeitet. Wenn sich übrigens Rußlands Kriegstechnik im Vergleich mit der Vergangenheit immerhin verbessert hat, so ist es dafür von revolutionären Minengängen durchzogen und seine politisch ideale Stellung von ehedem, die vollständige Sicherheit gegen Osten, hat aufgehört. Es hat an Japan einen Rivalen und an China einen glühend hassenden Feind erhalten, die ihm nicht mehr gestatten, alle seine Kräfte im Westen zu vereinigen. Die außerordentliche quantitative Überlegenheit kann daher nicht mehr ganz zur Geltung kommen. Mitteleuropa gewinnt an China einen natürlichen Verbündeten.
Rußland hatte ehedem im Osten einen grenzenlosen Horizont vor sich. Seit Ivan dem Schrecklichen sind Kaufleute, Ansiedler und Kosaken über die Heimat hinaus, der aufgehenden Sonne entgegengezogen, aber immer hatte es sich dabei nur um Expeditionen, nie um ernsthafte, große Kämpfe gehandelt. Jetzt hat sich das geändert, und es wird sich umsomehr ändern, je hochmütiger und eigenwilliger Rußland auftritt. China wird mit der Zeit vermutlich ein ebenso furchtbarer Nachbar werden, wie es jetzt Japan ist, das sich in den letzten Jahren als Mitschuldiger am Mandschurischen Beutezug an Rußland gefesselt fühlt, was gewiß auch nicht ewig dauern wird. Rußland hat sich durch geschickte Verträge mit den kleinen mongolischen Fürsten in der Mongolei festgesetzt, die jetzt leicht zu fassen ist; aber sie wird in Zukunft nur mit großen Kosten zu verteidigen sein. Die Schwäche Chinas war verlockend; aber die russische Regierung hat dabei eine sehr einfache und sehr banal klingende, aber fürs praktische Leben wichtige Regel übersehen: Daß man keinem, der jetzt oder künftig wehrfähig ist, wegnehmen soll, was er
dringend braucht. China ist so stark übervölkert, daß es auf die Mongolei als Auswanderungsgebiet angewiesen ist und wer es ihm wegnimmt, ist sein Todfeind. China ist genau so expansions-bedürftig wie die europäischen Staaten. Es ist sogar noch expansionsbedürftiger und wer dieser Wahrheit zuwiderhandelt, wird eines Tages mit ihm ebenso hart zusammenstoßen, wie er heute mit Rußland Zusammenstößen würde, wenn er ihm die mittelasiatischen Provinzen raubte, die das Dorado seiner Zukunft sind. Rußland, das ohnedies so viel Ausdehnungsraum besitzt, hat sich daher überflüssigerweise einen Feind groß gezogen.
Seine Politik in Persien ist verständlicher, denn dort verfolgt es das Ziel, einmal an das offene südliche Meer zu gelangen. Nationalökonomisch liegt zwar auch dafür keine Nötigung vor, da Rußland an die meisten großen Länder der östlichen Hemisphäre unmittelbar grenzt und auf den Seeweg nicht angewiesen ist. Auch wird ihm durch die transiranische Eisenbahn, die zu erbauen es sich im Verein mit England anschickt, ein Weg nach Süden geschaffen. Trotzdem ist der Ehrgeiz eines so großen Reiches begreiflich, eine warme Küste zu gewinnen und durch die Teilung Persiens in Interessensphären ist die Möglichkeit gegeben, eines Tages dahin zu gelangen. England hat unvorsichtigerweise die Russen, nur um sie für die Einkreisungspolitik gegen Deutschland in guter Laune zu halten, durch den Vertrag, der im August 1907 abgeschlossen wurde, in Persien eingelassen, scheint aber jetzt schon Reue darüber zu empfinden. Für die Erbauung der transiranischen Eisenbahn stellt es Bedingungen, die verhindern sollen, daß aus diesem Schienenweg ein Weg für Eroberer nach Indien werden könne. Ebenso hat England seine Abneigung gegen ein russisches Privilegium zum Durchfahren des Bosporus und der Dardanellen mit Kriegsschiffen deutlich ausgesprochen; da es sich allem Anschein nach entschlossen hat, die asiatische Türkei bis auf weiteres zu erhalten, darf Konstantinopel nicht in die Gefahr kommen, unter das Feuer russischer Kriegsschiffe gestellt zu werden. Aus demselben Grunde muß dieses für Rußland kostbare Recht ihm so lange vorenthalten werden, bis England irgend eine hohe Gegenleistung bei einer künftigen Teilung der asiatischen Türkei dafür erzielen kann.
Der Einfluß Rußlands auf die Balkanvölker beruhte zum Teile auf Gefühlsbeziehungen, zum größeren Teil aber darauf, daß Rußland sie als Werkzeug benützte, während sie ihrerseits von Rußland Hilfe zur Erreichung ihrer Ziele erwarteten. Rußland sucht sich ihn zu erhalten, indem es jetzt als ihr Anwalt bei den Friedensverhandlungen auftritt; es sucht sogar Rumänien in seinen Bannkreis zu ziehen. Trotzdem ist es wahrscheinlich, daß sich Bulgarien mit der Zeit, da es künftig keiner anderen Bedrohung als der russischen ausgesetzt sein wird und von Rußland nichts mehr erwarten kann — vorausgesetzt, daß Adrianopel jetzt in seinen Besitz gelangt, was in unserem Interesse liegt — sich von Rußland emanzipieren wird. Der Petersburger Einfluß in Sofia wird sinken, umsomehr als es von jetzt an auch eine Ägäische Küste hat, also in unmittelbare Berührung mit England treten kann und mehr als bisher darauf bedacht sein wird, sich mit dieser größten Seemacht, aber auch mit dem Dreibund gut zu verhalten. Griechenland hat zu den Russen niemals rechtes Vertrauen gehabt, es hat immer gewußt, daß ihre Neigung seinen Gegnern, den Slawen, gehörte.
Bleiben Serbien und Montenegro übrig. Die beiden haben bisher darauf gerechnet, daß Rußland, wenn sie mit Österreich in Streit gerieten, sie vor dem Äußersten schützen werde. Sie haben sich während der Annexionskrise darin verrechnet und diesmal hat Serbien, wenngleich der Verlauf etwas milder war, dieselbe Erfahrung gemacht. Natürlich hatte Rußland beide-male, wenn es die Serben unterstützte, nicht nur serbische oder gesamtslawische Interessen im Auge. Jede Stärkung des uns feindlichen kleinen Slawenstaates im Süden ist auch eine Stärkung Rußlands in seinem politischen Spiel, und durch die Schaffung eines serbischen Küstenlandes wäre die Möglichkeit einer unbehinderten Landung russischer Truppen an der Adria, die bisher nur in geringem Maße besteht, sehr gesteigert worden. Trotzdem konnte Rußland dafür einen Kampf nicht aufnehmen, der auch zum Zusammenstoß mit Deutschland geführt hätte. Aber eine Vernichtung des serbischen Staates hätte es gewiß nicht gutwillig geduldet, nicht nur weil die öffentliche Meinung die russische Regierung stürmisch zu bewaffnetem Widerspruch gedrängt hätte, sondern auch, um, wenn irgend möglich, ein Werkzeug zu retten, das ihm unter Umständen sehr wichtig sein kann. Denn darin liegt die Bedeutung Serbiens, des jetzt vergrößerten Serbien für die russische Politik, daß sie es, wenn sie gegen Österreich-Ungarn und Deutschland vorrücken will, zu jeder Stunde als Verbündeten benützen kann. Mit dem Köder Bosnien-Dalmatien wird Serbien von den Russen noch lange auf russischer Seite gehalten werden und es wird, ohne vielleicht so unvorsichtig zu sein, in das russisch-französische Bündnis einzutreten, uns gegenüber die Beziehungen zu Rußland und Frankreich immer auszuspielen suchen. Nun wird allerdings Rußland künftig weniger Reibungsflächen mit Österreich-Ungarn haben als bisher, da beide Mächte jetzt aus der Balkanpolitik zum großen Teil ausgeschaltet sind. Wenn Serbien nicht herausfordernd gegen Österreich-Ungarn auftritt und dadurch die Monarchie zum Einschreiten zwingt, ist wenig positiver Anlaß zum Streite zwischen Rußland und Österreich-Ungarn. Dessenungeachtet darf man auch dann an eine unbedingte Sicherheit nicht glauben. Rußland wird serbische Wühlereien gegen uns vermutlich unterstützen und wird sich den Augenblick, in dem die Mine zu springen hat, Vorbehalten. Seit Buchlau geht es darauf aus, der slawischen Welt zu zeigen, daß es stärker als Österreich-Ungarn ist. Wenn jedoch eine so unvernünftige Regung auch nicht bestimmend wirkt, so kann Rußland sich noch immer aus anderen Gründen veranlaßt fühlen, seine Taktik gegen uns zu richten. Das Motiv dafür würde sich aus der großen Weltpolitik ergeben, die die Möglichkeit von Konflikten zwischen Rußland und Deutschland vor allem wegen Kleinasien in sich enthält. Rußland wird daher die Bundeskraft unserer Monarchie mit Hilfe Serbiens zu schwächen suchen. Die Bedenklichkeit eines serbischen Angriffes wäre jedoch größer, wenn Serbien die Adriaküste besäße, und Deutschland hat daher auch im eigenen Interesse gehandelt, als es uns bei der Abwehr dieses Anspruches unterstützte. Deutschland hat sein möglichstes getan, um einen Krieg zu verhindern, und dabei die Mitarbeit Englands gefunden. Die englische Regierung baute die goldene Brücke der Botschafterreunion und bot Rußland galant den Arm, um es, begleitet von Frankreich, über diese Brücke hinüberzuführen. Aber Deutschland hat auch offen erklärt, daß es, wenn ein Krieg ausbräche, an unsere Seite treten würde. Österreich-Ungarn würde im umgekehrten Falle ebenso Vorgehen müssen. Das Ziel Rußlands wird daher bleiben, durch Druck und Versprechungen unser intimes Verhältnis zu Deutschland zu erschüttern und bald uns, bald unseren Verbündeten mehr auf seine eigene Seite zu bringen. Eine weitblickende Politik in Wien und in Berlin wird jedoch niemals darauf eingehen dürfen.
Fassen wir zusammen: als eine Großmacht altertümlichen Gepräges betrachtet Rußland das Herrschen an sich schon als ein Ziel seiner Politik. Darin liegt eine Gefahr, da es, um diesen Trieb zu befriedigen, alle Staaten, die es für schwächer hält als es selbst ist, unter Druck zu stellen und die benachbarten Kleinstaaten in seinem Bannkreis zu halten sucht. Vor Gegnern, denen es nichts anhaben kann, beugt es sich und, wie das Bündnis mit der französischen Republik zeigt, opfert es auch prinzipielle Vorurteile. Dieses höchst bequeme Bündnis wird lange Zeit ein Hauptelement der russischen Politik bleiben. Es bietet zugleich, wie übrigens auch die Entente mit England, den Vorteil, daß diese beiden Hauptvertreter freier politischer Einrichtungen durch ihre enge Beziehung zur Petersburger Regierung abgehalten sind, den Liberalismus oder gar die Revolution in Rußland auch nur publizistisch zu unterstützen.
Als eine Ehrenfrage betrachtet Rußland die Erreichung des ausschließenden Rechtes der Meerengendurchfahrt. Da die Meerengenfrage bisher nur unter der Voraussetzung lösbar gewesen wäre, daß die Durchfahrt allen freigegeben werde, so daß Rußland fürchten mußte, im Kriegsfälle von einer überlegenen Flotte im Schwarzen Meer angegriffen zu werden, hat es seit den letzten Zurückweisungen durch England im Oktober 1908 und im Oktober 1911 diese Frage nicht mehr aufgeworfen.
Selbstverständlich ist jedoch der alte Wunsch darum nicht fallen gelassen worden. Zu geeigneter Zeit wird Rußland ihn wieder erheben und Rumänien und Bulgarien als Anrainer des Schwarzen Meeres, vor allem aber den Besitzer Konstantinopels für sich zu gewinnen trachten. Ist dieser Besitzer noch die Türkei, so wächst für Rußland die Bedeutung des Durchfahrtsprivilegiums, freilich aber auch die Schwierigkeit, es zu erlangen.
Bestimmte territoriale Ziele verfolgt Rußland in Asien. Dort erstrebt es die allmähliche Gewinnung Chinesisch-Turke-stans, der Dschungarei und der Mongolei sowie der nördlichen Mandschurei. Um den Widerstand Chinas zu paralysieren, ist es genötigt, gute Beziehungen zu Japan zu erhalten. Ebenso war mit Rücksicht auf die asiatischen Bestrebungen der Gedanke richtig, sich mit England in ein gutes Einvernehmen zu setzen. Dieses Verhältnis bot besondere Vorteile in einer Zeit, in der England seine Front gegen Deutschland und infolgedessen auch gegen Österreich-Ungarn richtete, so daß Rußland ein Pressionsmittel gegen seine westlichen Nachbarn in die Hand bekam.
Trotzdem wird Rußland einen Krieg gegen Deutschland wahrscheinlich noch lange zu vermeiden suchen. Es macht Deutschland sogar zeitweise Zugeständnisse, zum Teil, um es nicht zu sehr mit Österreich-Ungarn zusammenwachsen zu lassen, zum Teil, um sich eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb der Tripelentente zu erhalten und von England und Frankreich nicht abhängiger zu werden, als ihm zweckmäßig erscheint. Es rechnet darauf, daß die Verstimmungen, die darüber in Paris und London entstehen, schnell vorübergehen. Rußland ist jedoch bei seinem Ehrgeiz in Asien so großen Lockungen ausgesetzt, daß man nicht wissen kann, ob es sich nicht in Situationen verstrickt, aus denen es dann nicht zurückfindet. Es ist der russischen Politik gelungen, Persien vollständig regierungsunfähig zu machen, was um so leichter war, als England in der Eduardschen Epoche ihm dabei Hilfe geleistet hat. Die Teilung des Landes unter die zwei Mächte wird kaum mehr zu vermeiden sein. Sollte England im weiteren Verlaufe der Entwicklung den ehrgeizigen Plan ausführen wollen, eine Landverbindung zwischen Südpersien und Ägypten
zu schaffen, so würde sich Rußland die Zustimmung dazu vielleicht abkaufen lassen. Aber eine Festsetzung deutschen Einflusses in Kleinasien würde es mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Es werden dabei ebensowohl Gefühlsgründe mitwirken, wie die Abneigung dagegen, einen militärisch so starken Nachbarn nicht nur an der Westgrenze, sondern auch an der Südgrenze zu haben. Rußland wird den Einfluß in Kleinasien selbst erringen wollen, wenn jedoch Deutschland sehr fest auftritt, wird sich die Unabhängigkeit des asiatisch-türkischen Reiches, vorausgesetzt, daß es nicht innerlich zerfällt, erhalten lassen. Zerfällt es, so können große Katastrophen daraus entstehen.
Seit Deutschland genötigt ist, sich unmittelbar für die Orientangelegenheiten zu interessieren, können direkte Interessengegensätze zwischen ihm und Rußland entstehen. Aber sie müssen nicht entstehen. Ebenso kann die Polenfrage, die bisher zusammenhaltend wirkt, weil beiden Teilen daran gelegen ist, sie nicht aufleben zu lassen, später einmal Ursache zum Auseinandergehen werden. Die Politik Rußlands ist ein schwer zu entwirrendes Geflecht von Interessenpolitik und dynastischer, kirchlicher, nationaler und allslawischer Gefühlspolitik.