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Deutschland und die internationale Situation.

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aus dem Kunstmuseum Hamburg

Die Orientkrise und ihre Folgen fur Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich

Für Deutschland ist unter Kaiser Wilhelm II. eine neue Zeit angebrochen. So viele Fehler im einzelnen begangen wurden, so war doch der Grundgedanke, der sich durchgerungen hat, der richtige. Wie man von der Eduardschen Politik sagen muß, daß sie technisch oft glänzend, in der Gesamtrichtung aber verfehlt und durch einen nervösen und hämischen Zug entstellt war, so kann man über die Politik, die Deutschland in dieser Zeit befolgt hat, urteilen: sie war in der Technik zuweilen mangelhaft, litt an Sprüngen und Widersprüchen, aber in der Gesamttendenz war sie richtig.

Das deutsche Leben hat in den letzten dreißig oder vierzig Jahren zur Großartigkeit in der praktischen Betätigung gedrängt, und diesem Zuge suchte die Politik sich anzupassen. Es ist selbstverständlich, daß sie sich dadurch auch mit neuen Lasten beschwerte und den streng geschlossenen Charakter, den ihr Bismarck nach den großen Siegen verliehen hatte, verlor. Der Österreicher ist seit jeher an komplizierte Situationen im Innern und nach außen hin gewöhnt; England ist stets bereit, mit seinen geworbenen Matrosen und Soldaten in aller Welt Krieg zu führen. Deutschland ist jetzt in die Phase getreten, in der es, mit seiner allgemeinen Wehrpflicht, seinem allgemeinen Stimmrecht, von heute auf morgen vor die Notwendigkeit gestellt sein kann, für Interessen, deren ganze Wichtigkeit nicht auf den ersten Blick jedem im Volke einleuchtet, seine volle Kraft einsetzen zu müssen. Wenn man sich bewußt ist, daß Feldzüge nicht von den Geschützen, sondern von den Menschen, ihrer zähen Ausdauer, Opferbereitschaft und Todesverachtung entschieden werden, so wird man sich darüber klar, welche Durchdringung eines Volkes mit Staatsgefühl, aber auch welche Erweckung des politischen Sinnes erforderlich ist, wenn solche Wege mit Unerschrockenheit und Selbstvertrauen betreten werden sollen. Diese Erweckung wird vielleicht am meisten dadurch gefördert, daß Deutschlands Hauptrivale das politisch vorgeschrittenste Land, England, ist. Jeder lernt, ob er will oder nicht, von seinem Gegner.

Selbst auf die innere Politik muß die Rivalität abfärben. Damit soll nicht gesagt sein, daß Deutschland Aussicht habe, zu einer, übrigens auch in England nicht mehr vollkräftigen Parlamentsherrschaft zu gelangen. Die Macht des Parlamentarismus ist überdies nur eines der Mittel zur Annäherung an das Ideal: die Führung der Demokratie durch die Aristokratie des Geistes, der Kraft und des guten Willens. Jede Nation muß zu diesem Ziel auf dem Wege finden, der für ihre Eigenart und ihre Verhältnisse der passendste ist; aber das Ziel selbst wird durch die Entwicklung Englands am deutlichsten vor Augen geführt. In der auswärtigen Politik hat Deutschland von England den weiten Blick und die sichere Schnelligkeit der Bewegung zu lernen. Diese Vorzüge können durch die Mißgriffe, die England in den letzten zehn Jahren begangen hat, nicht verdunkelt werden, besonders da es im Begriffe scheint, sich von ihnen wenigstens teilweise loszulösen.

In der letzten Krise war die Haltung Englands besonders wichtig. England ging nicht, wie vor vier Jahren, mit der antiösterreichischen Partei, sondern es entschied sich dafür, eine Lösung zu erleichtern, die Österreich-Ungarns Wünsche berücksichtigte. Es hat damit auch der russischen Regierung einen Dienst geleistet, denn es gab ihr die Möglichkeit, sich auf kriegerische Gesten zu beschränken und in der Sache selbst Österreich bei der Verteidigung seines bescheidenen Programms gewähren zu lassen. Hätte England anders gehandelt, so hätte es Rußland den Rückzug abschneiden und einen Krieg herbeiführen können, der dann auch den Zusammenstoß mit Deutschland zur Folge gehabt hätte. Es hat ihn nicht herbeigeführt, hat ihn also nicht herbeiführen wollen, hat vielmehr mit Deutschland zusammen für die Erhaltung des Friedens gearbeitet. Während der Marokkokrise war es französischer als die Franzosen und hätte sie mitgerissen, wenn sie nur einigermaßen geneigt gewesen wären, sich zu schlagen. Aber das Jahr 1912 wirft auf das Jahr 1911 ein Licht, in dem man erkennt, daß damals nicht Macchiavellismus die Politik Englands bestimmte, sondern tatsächlich eine falsche Auffassung der Bestrebungen Deutschlands. Die englische Regierung war verblendet, sie lebte noch in dem unter König Eduard geschaffenen Gesichtskreis. Sir Edward Grey war in seinen Vorurteilen befangen und Lloyd George hielt eine unbesonnene Rede; sie hätten damit großes Unglück anrichten können, aber nicht aus Eifer, Krieg zu führen, sondern aus Mangel an Einsicht. So schlimm steht es also nicht mehr zwischen England und Deutschland, daß ein Krieg unvermeidlich wäre; das hat sich jetzt gezeigt. Es ist nur die Frage, wie viel man von den Befürchtungen abschlagen darf. Für einen Präventivkrieg gegen Deutschland ist keine Stimmung mehr in England. Diese Woge ist verrauscht. Vielleicht kehrt sie wieder. Ob England schon so weit ist, um sich mit den weltpolitischen Bedürfnissen Deutschlands abzufinden, ihm irgend etwas von seinem eigenen Ehrgeiz zu opfern, ist noch nicht bewiesen. Es ist jedoch schon so weit, um unbefangen auch die Gefahren zu beurteilen, die ihm von Rußland in Vorderasien drohen und zu ihrer Abwehr sich nötigenfalls auch mit Deutschland diplomatisch zusammenzufinden. Auch im fernen Osten ist nicht mehr alles so wie es zur Zeit König Eduards war. Mehr und mehr muß man daran denken, daß Japan auch einmal der Feind Englands werden, daß es seinem Ausdehnungsdrang die Richtung nach Australien geben könnte. Die Eduardsche Politik braucht starke Korrekturen.

Es gibt kaum eine Art politischer, wirtschaftlicher und sozialer Vorzugsstellung, die England nicht besäße. Alle seine Bevölkerungsklassen haben die weite Welt vor sich. Es verfügt über Kolonien für Landwirte und für Viehzüchter, für Fabriksarbeiter und für Bergleute, für den Großkaufmann und für den Händler, für Abenteurer, für Beamte, für Offiziere und — man denke an Indien mit seinen hohen Regierungsstellen — für Ritter und Lords. Das Mutterland sorgt durch Riesenflotten für seine Ernährung, ist Festsaal und Familienmittelpunkt für alle, produziert nur Industrieerzeugnisse, braucht auf agrarische Interessen keine Rücksicht zu nehmen und kann die vorteilhaftesten Handelsverträge abschließen. Es vermittelt gegen reichen Gewinn den Warenaustausch der entlegensten Häfen, ist der internationale Geld- und Wechselmarkt, genießt selbst den größten Kredit, leiht Millionen in die Ferne und betreibt Unternehmungen an allen Enden der Erde. Sein Reichtum und das Alter seiner freien Institutionen verschaffen ihm Ansehen und gewinnen ihm leichter als den meisten anderen Staaten Sympathien in der Fremde. Die Sitten seiner Gesellschaft werden nachgeahmt, seine Sprache ist überall bekannt, seine Auffassungen und Urteile verbreiten sich am leichtesten und es hat mehr Einfluß auf die allgemeine Meinungsbildung als seine Konkurrenten. Jeder Staat, der eine Küste hat, muß mit Englands Seemacht rechnen und selbst ist es unangreifbar—ist es aber wirklich noch unangreifbar? Der ängstliche Zweifel darüber, seit Deutschland sich eine starke Marine geschaffen hat, der Gedanke, daß künftige Eroberungen in überseeischen Ländern durch das Eingreifen Deutschlands erschwert werden könnten, das Streben, eine Einigung der großen Kontinentalmächte, die sich gegen England richten könnte, zu verhindern, hat die englische Politik der Eduardschen Zeit bestimmt.

Die gütige Natur sucht bekanntlich jedes Übel auszugleichen. Da die Deutschen eine sehr zahlreiche, expansionsbedürftige und wehrfähige Nation sind, die sich jedoch außerhalb Europas national nicht zur Geltung bringen kann, hat die Natur sie mit einem nur schwachen Nationalgefühl ausgestattet, so daß die große Mehrheit das Tragische der Situation nicht empfindet. Sie hat sich lange Zeit bewußt gegen den kolonialen Gedanken gesträubt, aber sie hat unbewußt auf ihn hingearbeitet. In einer Minderheit des Volkes hat sich in den letzten Jahrzehnten ein starker Trieb herausgebildet, dem Deutschtum eine ihm gebührende Stellung in der Welt zu verschaffen, der Kaiser hat sich ihr lebhaft angeschlossen und Deutschland wurde in eine neue Bahn gedrängt. Für ein Volk von wenigen Millionen Menschen hat es nichts Demütigendes, sich jenseits seiner Grenzen nicht selbständig betätigen zu können; für ein Volk von 66 Millionen ist es ein Zeichen von Schwäche, eine Herabdrückung des Selbstgefühls, wenn ihm die Betätigung von anderen verwehrt wird.

Es ist zugleich, von allen unmittelbar wirtschaftlichen Momenten abgesehen, eine Einengung des Gesichtskreises, eine Absperrung von der freien Luft. Die großen Ansiedlungskolonien sind Jungbrunnen für das englische Volk, die Tropenkolonien sind Tummelplätze für weitgespannten Unternehmungsmut. Das große deutsche Volk hatte kein eigenes Plätzchen in der Feme, trotz der Menge seiner Wanderlustigen, seiner Bauern, die bereit waren, neues Land zu bearbeiten und zu verteidigen, seiner Unternehmer, Techniker, Ingenieure, die das Wagnis nicht scheuen, trotz der Menge seiner abenteuerlustigen Jugend, die es außerhalb der streng geometrisch geordneten heimatlichen Verhältnisse versuchen möchte und die es in der Fremde zu etwas bringen könnte, während sie zu Hause verdrießlich verkümmert. Das konnte nicht mehr gründlich geändert werden, aber das Streben nach Änderung blieb doch nicht ganz fruchtlos, der koloniale Gedanke ist allmählich ein Bestandteil der deutschen Politik geworden. Er ist es nicht in dem Maße wie in England, Frankreich und Rußland, aber er entspricht einem so starken kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnis, daß selbst eine Regierung, die ihn zurückstellen wollte, ihn nicht mehr vernachlässigen darf. Er kompliziert und erschwert die Aufgabe der deutschen Diplomatie, aber er läßt sie nicht mehr los. Was versäumt ist, läßt sich kaum mehr nachholen, aber eine Korrektur wird Deutschland bei gelegener Stunde zweifellos verlangen. Wir denken dabei nicht an den Kongostaat. Eine Agitation für die Erwerbung des Kongostaates würde Belgien notwendig zu Frankreich treiben. Wenn jedoch England den nächsten Schritt zur Erweiterung seines Reiches tut, etwa durch Okkupation von Südarabien, wird Deutschland fordern müssen, daß der Vertrag über die Teilung der portugiesischen Kolonien ausgeführt werde. Da das deutsche Volk jedoch nicht mehr so viel eigenes Gebiet jenseits der Meere erwerben kann als seinem natürlichen Ausdehnungsbedürfnis entsprechen würde, ist es umsomehr darauf angewiesen, sich Länder nicht versperren zu lassen, die auf europäische Geistesarbeit angewiesen sind und in denen es seinen Untemehmungsdrang betätigen kann. Das Interesse unserer Monarchie fällt hier mit dem des Deutschen Reiches zusammen.

Die Besitzergreifung orientalischer Gebiete durch fremde Großmächte nähert sich dem Punkte, wo die Interessen der Dreibundmächte ins Spiel kommen. Arabien ist das letzte, was England an sich reißen kann, ohne das Innerste des einzigen noch bestehenden, organisierten mohammedanischen Reiches zu zerstören. Wenn England Südarabien okkupiert — wobei Wert darauf gelegt werden müßte, daß Mekka und Medina als Mittelpunkte des Islam selbständig bleiben — wird eine Vereinbarung mit Deutschland unausbleiblich sein. Ganz anders jedoch als Arabien müssen die Hauptprovinzen der asiatischen Türkei behandelt werden. Für die Unabhängigkeit dieses Restes wird sich der gesamte Dreibund einsetzenmüssen und wenn er ihn nicht zu retten vermag, wenn die Türkei auch ihre asiatischen Nebenländer nicht zu erhalten vermag, wenn sich nach Jahrzehnten zeigt, daß sie unwiderruflich, da sie sich ohne die türkische Hand nicht regieren können, europäischer Herrschaft verfallen sind, dann, in diesem äußersten Falle, müssen seine Mitglieder ihren Anteil daran verlangen.

Italien hat nicht nur in seiner inneren Entwicklung, es hat auch kolonialpolitisch ein Schicksal, das dem der deutschen Nation ähnlich ist. Das Volk, das im Mittelalter das östliche Mittelmeer beherrscht hat, wie die Hanseaten die Ostsee und Nordsee, das Volk, aus dem Marco Polo und Columbus hervorgegangen sind und das seither eine Fülle von arbeitskräftigen Menschen nach Südamerika, wie Deutschland nach Nordamerika geschickt hat, mußte nach der Schaffung eines geeinigten Reiches auch nach maritimer Macht verlangen. Die Expedition nach dem Roten Meere war ein erster und unpopulärer Versuch. Der Zug nach Tripolis jedoch wurde begeistert aufgenommen. Wie Deutschland auf die englische Rivalität, so stieß Italien auf die französische. Trotzdem konnte im Jahre 1901 der Vertrag zwischen den beiden Ländern, der gegenseitige Enthaltung in Marokko und Tripolis festsetzte, zu stände kommen, weil Frankreich immer in der Hoffnung lebte, Italien vom Dreibund abziehen zu können. Dies ist trotz der starken gefühlsmäßigen Gegensätze zwischen Italien und Österreich-Deutschland nicht gelungen. Der Dreibund bildet, wie im Laufe der Jahre allen seinen Teilnehmern klar geworden ist, den besten Schutz für den Frieden, den Italien zu seiner Kräftigung braucht, und wenn man Krieg in Betracht ziehen will, so ist die Erwägung entscheidend, daß Italien in einem Kriege gegen Österreich-Deutschland viel weniger zu gewinnen hätte, als in einem Kriege gegen Frankreich, der ihm außer Korsika und Nizza auch Tunis bringen könnte, dessen europäische Bevölkerung überwiegend italienisch und nur zum kleinsten Teil französisch ist. Nur die Möglichkeit, durch einen deutsch-englischen Zusammenstoß in einen Kampf mit England hineingezogen zu werden, konnte Italien bedenklich machen. Durch das Wachstum der deutschen Flotte und die Besserung der deutsch-englischen Beziehungen ist dieses Bedenken gemildert worden.

In der rein kommerziellen überseeischen Politik sind Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn natürliche Verbündete. Allen dreien muß daran gelegen sein, daß das, was von der Türkei übrig bleibt, nicht von den Ententemächten geteilt werde und daß die Türkei auch nicht etwa nur ein Scheindasein unter russischer oder englischer Oberhoheit führe. In England hat der Gedanke Anhänger, Arabien, das südliche Syrien und Mesopotamien mit Ägypten zu vereinigen. Das nördliche Syrien wird für den Fall einer Teilung der Türkei von den Franzosen als ihre Zukunftsdomäne betrachtet. Russische Wünsche richten sich auf Armenien, das eine Autonomie erhalten soll, die die Vorstufe zur Loslösung wäre. Gegen solche Möglichkeiten müssen die Dreibundmächte mit aller Kraft auftreten. Vor allem muß Kleinasien, das echte Türkenland, in voller Unabhängigkeit erhalten bleiben. Aber auch die Nebenländer müssen unter dem Schutz des Dreibundes stehen und sollten sie jemals verloren gehen, so müssen wir unbedingt mitzureden haben. Es läßt sich, wie gesagt, zur Not denken, daß Arabien vom türkischen Reiche losgelöst wird, ohne daß Erschütterungen entstehen. Aber Syrien und Mesopotamien müssen unantastbar bleiben, wenn nicht alle Machtverhältnisse sich ändern sollen. Die Verwirklichung des Teilungsgedankens wäre eine politische und wirtschaftliche Machtverschiebung ersten Ranges, die der Dreibund um keinen Preis zulassen kann. Wir müssen trachten, daß die asiatische Türkei in Selbständigkeit erhalten bleibe und es darf nicht geschehen, daß durch beständige Bedrohung von außen ihre inneren Schwierigkeiten gesteigert werden, ihre Lebensfähigkeit zerstört werde. Hier ist der Boden, auf dem alle Großmächte Zusammenwirken könnten. Besonders aber England hat Ursache, sich nicht durch Eroberungslust verblenden zu lassen und sich der erhaltenden Partei anzuschließen. Denn was immer es auch am Euphrat gewinnen könnte, wäre keine Entschädigung dafür, daß es die Franzosen nach Syrien, in die Nähe Ägyptens, einlassen müßte.

Über das künftige Verhalten Deutschlands zu England werden die Orientfragen entscheiden. Es handelt sich zunächst darum, daß die englischen Politiker von dem Mißtrauen ab-lassen, mit dem sie Deutschland verfolgten, seit es eine maritime Politik zu betreiben begonnen hat, während sie Frankreich und Rußland jede Vergrößerung gönnten, ja ihnen, um sie an sich zu fesseln, dazu verhalfen. Es galt für die höchste Weisheit, sich gegen die eingebildete Gefahr einer deutschen Landung zu schützen, und für das höchste politische Vergnügen, Deutschland zu übergehen, wenn es in der Weltpolitik das Wort ergreifen wollte. „Das Auge des Vorsitzenden zu fangen“, wie es in der englischen Parlamentssprache heißt, sollte ihm nicht gelingen. Das Wachstum der deutschen Flotte hat das Mißtrauen gesteigert, aber es hat auch nützlich gewirkt. Die Angriffspartei in England weiß jetzt, daß ein Überfall auf Deutschland höchst bedenklich wäre. England darf sich der Gefahr einer Niederlage zur See nicht aussetzen. Die Wellenkreise, die ein solches Ereignis ziehen würde, könnten für die englische Herrschaft in Indien und Ägypten verhängnisvoll werden. Anderseits ist auch das Wachstum der englischen Flotte, das mit Hilfe der Kolonien erfolgt, für den Frieden insoferne günstig, als es die Engländer wieder mit dem Bewußtsein erfüllt, daß die gefürchtete deutsche Invasion doch nicht in Rechnung gezogen zu werden braucht.

Die Vermehrung der Flotten auf beiden Seiten ist eine Steigerung der beiderseitigen Defensivkräfte und schafft ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit, daseine Annäherung und damit auch ein gelegentliches Einvernehmen ermöglicht*).

Frankreich wird selbstverständlich auch weiter unter der Obhut Englands stehen. In der französischen Republik haben sich schon zur Zeit, als noch Bismarck angeblich fortwährend dunkle Pläne schmiedete und auf Kriege sann, kluge Männer gefunden, die den Mut hatten, die von Deutschland gerne gesehene koloniale Erweiterungspolitik zu führen. Diese Politik, die damals England erbitterte, kommt ihm jetzt zu gute, weil die Republik schon aus Sorge für ihre Kolonien sich an die große Seemacht, die ihr gefährlich werden könnte, anklammert. Sie hat sich ein großartiges Kolonialreich geschaffen, aus dem, wie sie hofft, einst sogar Soldaten geholt werden können, aber das Verhältnis zu Deutschland hat die französische Kolonialpolitik nur indirekt ändern geholfen. Sie hat der französischen Diplomatie die Gelegenheit gegeben, in den vielfachen Kombinationen, in die sie gelangte, an Deutschland gelegentlich eine kleine Revanche zu nehmen, die für die Hinausschiebung der großen Revanche entschädigte. Diese große Revanche ist nicht ausdrücklich aufgegeben. Aber so oft es möglich wäre, den angedrohten Rachekrieg zu führen, zieht man es doch vor, ihn zu unterlassen. Im übrigen sind alle Bemühungen Deutschlands, die Franzosen durch Liebenswürdigkeiten zu gewinnen, vergeblich und werden es noch lange bleiben. Deutschland muß damit rechnen, daß es an seiner Westgrenze einen unversöhnlichen Nachbar hat, der, wenn Rußland oder England losginge, sich nicht zurückhalten ließe, nicht zurückhalten lassen könnte. Allerdings hat der Nachbar jetzt um eine verwundbare Seite mehr, da an seinen afrikanischen Besitz das italienische Tripolis grenzt und er im Falle eines Krieges auch dort angegriffen werden könnte. Inzwischen werden sich Franzosen, Italiener und — als Herren Ägyptens — Engländer bemühen, ihre mohammedanischen Untertanen, die ein sehr brennbares Element sind, zu beschwichtigen und zu versöhnen.

*) Während diese Schrift unter die Presse geht, treffen die Nachrichten ein, welche die Hoffnung auf eine Annäherung verstärken.

Die Beziehungen Deutschlands zu Rußland sind wesentlich dadurch entlastet, daß die türkische Herrschaft in Europa bis nach Konstantinopel zurückgedrängt ist, denn damit ist die Rivalität zwischen Rußland und Österreich-Ungarn zum großen Teile gegenstandslos geworden. Durch die Verlegung des Orientproblems nach Asien entsteht jedoch die Möglichkeit direkter scharfer Gegensätze zwischen Deutschland und Rußland. Es ist, wie man nicht oft genug betonen kann, für Deutschland eine Lebensfrage, daß die Hauptgebiete der asiatischen Türkei selbständig bleiben und es müßte für ihre Unabhängigkeit oder besser gesagt, gegen ihre Verteilung unter die Ententemächte unter Umständen sogar einen Krieg wagen. Die Gefahren der orientalischen Frage sind schwächer geworden, sie sind aber noch keineswegs geschwunden. Entscheidend aber ist, daß Deutschland sich immer Vorhalten muß, daß unter den Tritten eines deutsch-russischen Krieges der Sargdeckel einbrechen würde, unter dem diepolnischeFrage schlummert.

Die Balkanslawen sind befreit, selbst die Albanesen haben nationale Rechte errungen, Völker, die jahrhundertelang vergessen hatten, daß sie jemals selbständig waren, werden sich in Unabhängigkeit entfalten können — das sind Ereignisse, die auf die Polen wie ein elektrischer Schlag wirken müssen. Das nationale Russentum lebt vorläufig in der Selbsttäuschung, alle nicht russischen Stämme des Reiches für ewige Zeiten niederhalten zu können und es will sich noch nicht eingestehen, daß einer kompakt zusammenwohnenden Masse gegenüber, die einen vollständigen nationalen Organismus mit Bauerntum, Kleinbürgertum und Großbürgerschaft, Arbeiterschaft, Intellektuellen und Adel besitzt, eine solche Hoffnung utopisch ist. Der Tag wird kommen, an dem diese Einsicht in Rußland aufdämmem wird und an dem Rußland einen Weg suchen wird, mit Polen zu transigieren. Vielleicht wird es ihn suchen, um Preußen Verlegenheiten zu bereiten. Aber auch wenn dies nicht der Zweck sein wird, wird es das Ergebnis sein. Eine Aussöhnung zwischen Russen und Polen wird Preußen nötigen, sein Verhalten gegenüber den Polen in Posen und Westpreußen gleichfalls zu ändern oder es wird sich in einen viel schwierigeren Kampf verwickelt sehen, als den, den es jetzt in den Grenzprovinzen zu bestehen hat. Rußland wird sich entlasten, Deutschland wird um eine Last mehr zu tragen haben. Der Mittelpunkt des Polentums liegt in Rußland und in dem Augenblicke, in dem die Polen sich mit Rußland versöhnen, wird sich ihre ganze Angriffskraft gegen Deutschland wenden. Sie werden die Avantgarde Rußlands werden, das sie, so oft es ihm beliebt, gegen Deutschland verwenden würde.

Ein Verlust der polnischen Gebietsteile würde für Deutschland etwas ganz anderes bedeuten, als für Rußland. Auch wenn die polnischen Gebietsteile Preußens nicht tatsächlich abgetreten würden, sondern nur politisch eine besondere Organisation erhielten, würden die dortigen Deutschen der Aufsaugung durch die übermächtige polnische Mehrheit ausgesetzt sein. Vollends jedoch die territoriale Losreißung im Falle eines unglücklichen Krieges wäre eine Bedrohung Deutschlands im Herzen selbst. Berlin ist der polnischen Sprachgrenze nahe, Breslau und Königsberg liegen unmittelbar an ihr. Dazu kommt, daß die jetzt noch verhältnismäßig locker besiedelten polnisch sprechenden Bezirke das eigentliche Kolonialgebiet des deutschen Volkes sind, das jenseits des Meeres so gut wie nichts dergleichen besitzt. Eine Wendung in der russischen Polenpolitik wäre für Deutschland eine große Gefahr und vielleicht wird sie dann eintreten, wenn die russische Regierung glaubt, das Polentum vollständig auf das Weichselgouvernement zurückgedrängt und Litauen in Sicherheit gebracht zu haben. Es ist selbstverständlich, daß Deutschland diese Möglichkeiten ernstlich in Betracht ziehen muß und die nächste Folgerung daraus ist, daß ein Krieg gegen Rußland nicht geführt werden kann, ohne daß auch eine Lösung der polnischen Frage in Rechnung gestellt wird. Wenn Deutschland siegt, muß es Polen von Rußland abtrennen. Es kann gar nicht anders. Denn sonst wird Polen unfehlbar als Vorreiter der russischen Revanche verwendet und dem russischen Revanchekrieg ist als Ziel die Losreißung aller preußischen Provinzen, in denen Polen wohnen, gegeben. Der uneingeschränkte, slawische Gedanke wird dann mit aller Wucht gegen Deutschland gekehrt sein und die Einkreisung ist restlos vollzogen. Bisher scheut sich Rußland, zum Teil aus Furcht vor der Aufwerfung der polnischen Frage, mit Deutschland anzubinden; ist jedoch aus irgend welchen Ursachen trotzdem ein Krieg ausgebrochen und ist Rußland besiegt und es bleibt ihm das Weichselland, so wird es den Polen so viele Zugeständnisse machen, als nur irgend möglich ist, um ihren durch die Enttäuschung gesteigerten Haß gegen Deutschland noch zu verschärfen. Deutschland ist dazu verurteilt, wenn es Rußland niederwirft, die polnische Frage zu lösen und man darf hinzufügen: erst wenn es sie gelöst hat, wird es seine Ansiedlungspolitik im größten Stil fortführen können, um die östlichen Grenzländer den Deutschen ganz zu gewinnen.

Die weitere Konsequenz wäre, daß ein neu erstandenes Polen in ein enges Verhältnis zu Deutschland treten müßte. Denn andernfalls verliert Deutschland, da es aufhören würde, Rußlands unmittelbarer Nachbar zu sein, jede Möglichkeit, auf Rußland einen Druck auszuüben. Das Schwinden dieser Möglichkeit aber würde das Gewicht Deutschlands in allen internationalen Kombinationen verringern und würde Rußland gestatten, ohne viel Rücksicht auf deutschen Einspruch, dem nur die deutsche Seemacht Nachdruck verleihen könnte, in Asien vorzugehen. Schon diese Erwägung zeigt, daß Deutschland nur unter Beobachtung strengster Vorsicht die Lösung der Polenfrage in die Hand nehmen, daß es daher auch nur wenn es unbedingt muß, einen Krieg gegen Rußland führen wird. Ebenso wird Rußland, wenn nicht turbulente Panslawisten in seine Politik entscheidend eingreifen, es sich dreimal überlegen, ehe es einen Krieg wagt, der ihm den Verlust seiner Westprovinzen und vielleicht auch Bessarabiens und der ukrainischen Länder bringen kann. Der Einsatz ist zu groß für die Aussicht auf Gewinnung Galiziens und selbst Kleinasiens. Wenn Rußland vernünftig handelt, wird es einem Kriege mit Deutschland auch in Zukunft ausweichen.

Das Gesamtbild ist: Die großen Nationen stehen einander in befestigten Lagern gegenüber. Jede hat Grund, einen Angriff auf das Lager des Gegners zu scheuen. Bisher gab es Teilungsgebiete, nach denen die Hand ausstrecken durfte, wer am nächsten war, und die nächsten waren nicht die eingeengten mitteleuropäischen Reiche, sondern die Randmächte Rußland, England, Frankreich, schließlich sogar Italien. Jetzt hat sich dies geändert. Das mögliche Teilungsgebiet, das arabisch sprechende Vorderasien wird, hoffen wir es, auch von den mitteleuropäischen Reichen behütet und selbst England darf sich, seit Deutschland eine große Flotte besitzt, eigenmächtiges Zugreifen nicht erlauben. Die Situation ist zum Stehen gekommen. Trotzdem werden die alten Gewohnheiten weiter wirken und, vereinigt mit wirklichen Volksbedürfnissen und mit in der Tiefe wühlenden Kräften und Übelständen, die Unruhe fordauern lassen. Polen, Vorderasien, Persien, China werden zu schaffen geben. Alle diese Probleme und dazu das elektrische Zittern der serbischen Bewegung haben das Gemeinsame, daß sie Rußland angehen und daß sie direkt oder indirekt Deutschland berühren.

Deutschland hat das Anrecht darauf, seinen überseeischen, seinen afrikanischen Besitz zu erweitern und im Orient hinter keinem zurückzustehen. Sein Hauptansiedlungs- und Hauptproduktionsgebiet liegt jedoch für alle Zeiten in Mitteleuropa und seine Hauptstütze, soweit es sie außerhalb seiner eigenen Grenzen zu suchen hat, im Bündnis mit der habsburgischen Monarchie und daher im österreichischen Deutschtum. So lange sich Europa darüber klar ist, wird dadurch auch die Richtung für die Politik aller anderen europäischen Staaten gegeben.


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