Quantcast
Channel: fresh-seed
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2002

Die Gründung von Neu-Bern in Nord-Carolina.

$
0
0

aus dem Kunstmuseum Hamburg

Der Kampf um deutsche Kultur in Amerika.

Das Ereignis, das wir in diesen Tagen festlich begehen, darf in der Geschichte der Besiedlung von Nordamerika einen hervorragenden Platz beanspruchen.

Die Begründung des reizenden, weltentrückten Städtchens mit seinen reichen geschichtlichen Erinnerungen ist darum nicht bloß von lokaler Wichtigkeit, sondern trägt den Charakter nationaler, ja weltgeschichtlicher Bedeutung. Bezeichnet sie doch eine der ersten und wichtigsten Schritte im Zusammentreffen von Angelsachsen und Deutschen, die sich nach jahrhundertelanger Trennung auf amerikanischem Boden wiederfinden, um von nun an die Geschicke der Neuen Welt gemeinsam zu gestalten.

Und im Hintergründe dieser bedeutsamen geschichtlichen Tatsache erheben sich als letzte bewegende Ursachen die gewaltigen geistigen und religiösen Bewegungen des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihrem Gefolge von endlosem Krieg und Blutvergießen, von Heldentaten und Märtyrertum und von unsäglichem Elend. Aber die furchtbare Erschütterung der europäischen Gesellschaft, die durch die religiösen Bewegungen jener Jahrhunderte hervorgerufen wurde, hatte zugleich unter den Anhängern und Vorkämpfern der neuen Ideen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Brüderschaft erzeugt, von dessen Kraft und Innigkeit wir uns heute kaum eine Vorstellung machen.

Daß Deutschland eigentlich die Heimat der Reformation sei, wurde lange in England dankbar anerkannt. Und lange blieb es dort unvergessen, daß deutsche und Schweizer Städte, wie später Holland, politisch damals noch ein Teil Deutschlands, den Puritanern und anderen englischen Separatisten Schutz und Unterkunft gewährt hatten, als sie von der Heimat vertrieben wurden. War es doch während des Exils in Deutschland und der Schweiz, daß die presbyterische Kirche begründet wurde. Als dann später, vorzüglich durch Cromwells Taten, England zur protestantischen Hauptmacht Europas emporgestiegen war und als solche den Beruf fühlte, die Sache des Protestantismus zu verfechten, da bot es den verfolgten Glaubensgenossen in Deutschland, das inzwischen politisch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, wie zum Dank eine Unterkunft in seinen jungen amerikanischen Kolonien an. In mehr als einer der englischen Flugschriften jener Zeit, die sich mit dem Problem der deutschen Massenauswanderung beschäftigen, wird die Dankespflieht gegen das Vaterland der Reformation als einer der Gründe betont, warum England den verfolgten deutschen Protestanten seinen Schütz müsse angedeihen lassen.

Mit Recht dürfen wir darum in dieser Feststunde uns an dem erhebenden Gedanken freuen, daß an dem geschichtlich so bedeutsamen Zusammentreffen von Angelsachsen und Deutschen in Amerika die treibenden idealen Mächte jener Zeit nicht weniger Anteil hatten, als wirtschaftliches und politisches Elend. Den bescheidenen Gründern von Neu-Bern freilich mag der große geschichtliche Zusammenhang, der ihr schwieriges Unternehmen heimlich bestimmte, nicht zum Bewußtsein gekommen sein. Aber auch sie sicherten sich in dem Vertrage, den sie mit den Großgrundbesitzern von Carolina schlossen, volle Religions- und Gewissensfreiheit für ihre junge Kolonie. Und so mögen sie uns heute in demselben Lichte erscheinen wie die Begründer der Quäkerkolonie Pennsylvanien: als die Vertreter und Vorkämpfer geschichtlicher Ideen, die seitdem auch auf Europa umwälzend zurückgewirkt haben.

Aber während wir uns so festlich auf den lichtumflossenen Höhen geschichtlicher Betrachtung ergehen, wollen wir nicht vergessen, daß die eigentliche Geschichte dieser deutschen Ansiedlung am rauhen Tage prosaischer Wirklichkeit sich ereignete, wo Menschenschwäche und Heldentum nahe beieinanderstehen.

Schon im Jahre 1703 war der lutherische Pfarrer Joshua Kocherthal aus Landau in der Pfalz, getrieben von Verzweiflung über die Lage seiner Gemeinde, die durch die Verwüstungszüge der Franzosen wie durch religiöse Verfolgungen fast aufgerieben war, nach England gereist, um sich dort über die Möglichkeit einer Auswanderung seiner Leute zu erkundigen. Daß er Ermutigung fand, dürfen wir aus seinem Buche über die Provinz Carolina schließen, das er bald nach seiner Rückkehr veröffentlichte, und worin er eine glänzende Schilderung von dem Klima, der Fruchtbarkeit und den Produkten jenes Landes gab.

Dies kleine, heute sehr selten gewordene Buch war für Tausende der armen, niedergetretenen Leute eine Art göttlicher Botschaft, die ihnen jenseits des Meeres das Land der Verheißung zeigte, wo sie Wohlstand und die ersehnte Freiheit des Gewissens finden könnten. Ich habe in meinem Besitz eine Anzahl von Briefen dieser armen Leute, Bittgesuche an ihren Fürsten um die Erlaubnis zur Auswanderung, die beweisen, daß Kocherthals Buch in den kleinsten Dörfern des Westerwalds, der Pfalz und Schwabens gelesen wurde*). Und immer wieder taucht in diesen herzzerreißenden Bittgesuchen die „Insel“ Carolina als das verheißene Land auf, dahin sie ziehen wollen.

*) Vgl. Deutsch-amerikanische Geschichtsblätter. Jahrbuch der deutsch-amerikanischen historischen Gesellschaft von Illinois. Chicago 1912, worin ich die Briefe veröffentlichte.

Und sie zogen aus, ob mit oder ohne fürstliche Erlaubnis. Durch die englische Regierung, der es ebensosehr daran lag, protestantische Kolonisten zu gewinnen, wie ihre eigenen Untertanen zu Hause zu halten, heimlich ermutigt, entstand eine Völkerwanderung, wie sie Europa seit den Zeiten der Kreuzzüge nicht gesehen hatte. Innerhalb weniger Wochen erschienen im Frühjahr 1709 zwischen 10000 und 15000 Menschen in England und verlangten nach dem Lande der Verheißung geschickt zu werden.

Es ist hier nicht der Ort, zu schildern, welchen Leiden die Armen in London entgegengingen, wo sie monatelang, in Zelten und Scheunen zusammengepfercht, leben mußten und zu Hunderten hinstarben; zu erzählen, wie die Königin Anna und viele englische Adlige in edelster Weise die Leiden zu lindern suchten; den Neid und den Haß des englischen Pöbels zu beschreiben, der in den fremden Ankömmlingen lästige Mitbewerber auf dem Arbeitsmarkte sah, oder schließlich auf das kleinliche Parteigezänk im englischen Parlamente einzugehen, das die plötzliche Ankunft der sogenannten „Pfälzer“ hervorrief.

Endlich, nach monatelangem Harren und Leiden der Auswanderer, kam die Regierung zu dem Entschluß, zirka 3000 der Leute nach der Provinz New York einzuschiffen, ungefähr die gleiche Zahl in Irland anzusiedeln, wohin sie die heute noch blühende Leinwandindustrie trugen, und zirka 800 nach Carolina zu senden.

Hier ist es nun, wo der Mann auftritt, an dessen Namen die Gründung von Neu-Bern sich hauptsächlich knüpft: Baron Christoph von Graffenried. Es gibt in der Geschichte der Besiedlung Amerikas wohl wenige Charaktere, über deren Leben und Leistungen wir so eingehend unterrichtet sind, wie über die Laufbahn dieses großen deutschen Pioniers. Ich besitze die Abschrift zweier Manuskripte von ihm, die er am Ende seines Lebens verfaßte, eines in französischer und eines in deutscher Sprache, worin er eine genaue Darstellung seines ganzen Unternehmens gibt und seinen Bericht durch Karten, Pläne und Stadtanlage, Handzeichnungen und wichtige historische Dokumente, wie z. B. Briefe der Kolonisten an die Verwandten in der Schweiz, äußerst anschaulich illustriert. Ich wage zu behaupten, daß keine andere amerikanische Kolonie jener Zeit, besonders keine anglo-amerikanische, sich ähnlicher Zeugnisse aus ihrer frühen Geschichte rühmen kann. Auch kann keine andere amerikanische Kolonie beanspruchen, eiiien Mann von gleicher weltmännischer Bildung und feiner Geisteskultur wie Baron von Graffenried zu ihrem Gründer zu haben.

Der Sprößling einer alten deutschen Adelsfamilie in der Schweiz, hatte er in Heidelberg und in Leiden die Rechte studiert und war dann später an den glänzenden Höfen Karls II. und Ludwigs XIV. ein gern gesehener Gast gewesen. Er war kein religiöser Fanatiker, wie so viele der ersten amerikanischen Pioniere, aber er besaß eine tiefe Herzensfrömmigkeit und vor allem das deutsche Ehrgefühl und den deutschen ehrlichen Sinn, für die es kein Kompromiß gibt.

Um sein Vermögen, das durch sein flottes Leben an den verschwenderischen Höfen von England und Frankreich stark zusammengeschmolzen war, wieder aufzubessern, begrüßte er den Plan eines Berner Syndikats, in Amerika eine Kolonie zu gründen und Silberminen aufzusuchen und auszubeuten, mit großer Freude. Gleichzeitig hoffte er, daß ihm die Neue Welt ein größeres Arbeits- und Wirkungsfeld bieten werde, als es die kleinlichen Verhältnisse seiner Schweizer Heimat seinem aufs Große, ja Abenteuerliche gerichteten Sinne zu geben vermochten.

Er reiste nach London, wo es ihm durch seine glänzenden Verbindungen aus früherer Zeit leicht gelang, Interesse für seine Kolonisationspläne zu erwecken. Besonders schienen die Großgrundbesitzer von Carolina, Adlige, denen Karl II. zum Danke dafür, daß sie ihm auf den Thron geholfen, ungeheure Länderstrecken in jener Provinz geschenkt hatte, auf ihn als ihren rechten Mann gewartet zu haben. Bereitwillig zeichneten sie 5000 Pfund Sterling zum Betriebskapital, ließen sich aber als geriebene Geschäftsleute von dem ahnungslosen deutschen Baron gleichzeitig zu ihrer Sicherheit Schuldscheine über die Summe ausstellen. Die Königin Anna beteiligte sich selbst mit 4000 Pfund an dem Unternehmen. Im ganzen verfügte Graffenried nun über etwa 16000 Pfund Sterling, wovon das Berner Syndikat etwa die Hälfte gezeichnet hatte. Mit dieser Summe kaufte er von den Großgrundbesitzern (Lords Proprietors) von Carolina 17500 Morgen Land, das zum größten Teil am Zusammenfluß der Ströme News und Trent gelegen war.

Gleich hier möchte ich betonen, daß die deutschen Ansiedler von Neu-Bern nicht als Bettler ins Land kamen, sondern, wie die meisten ihrer Landsleute nach ihnen, ihren Landbesitz ehrlich ankauften. Gerade wie die Puritaner ihr Land im Staate Massachusetts mit dem Gelde erwarben, das ihnen von Landspekulanten vorgestreckt war, und das sie in jährlichen Raten an diese zurückzahlen mußten, so kauften es auch die „Pfälzer“. Ungezählte Millionen sind seitdem auf diese Weise dem Nationalreichtum Amerikas zugeflossen, der Tatsache zu ge-schweigen, daß die riesigen Hilfsquellen dieses Landes ohne die Mitwirkung der sechs Millionen deutscher Bauern und Handwerker, die im Laufe der zwei Jahrhunderte einwanderten, nie erschlossen worden wären, wie sie es heute sind.

Baron Graffenried wählte sich nur junge und kräftige Leute für seine Kolonie aus, Landleute, Weinbauern und Handwerker jeglicher Art. Auch ein deutscher Lehrer fehlte nicht. Da kein Pfarrer vorhanden war, erhielt Graffenried vom Bischof von London die Vollmacht, Taufen und Hochzeiten selbst zu vollziehen. Ihrer Nationalität nach waren die Ansiedler teils Deutsche, teils Schweizer, darunter viele Wiedertäufer.

Kleineren Unfällen und dem chronischen Geldmangel junger Kolonien zum Trotz, blühte die kleine Ansiedlung bald auf, wie uns die köstlichen Briefe bezeugen, die uns von den Ausgewanderten erhalten sind. In der Anlage und Befestigung der Stadt, »n der Errichtung einer Mühle, der ersten in der Kolonie, und in der Organisierung des neuen Gemeinwesens entwickelte Graffenried nicht nur eine rastlose Tätigkeit, sondern auch großen Scharfblick und ausgesprochenes organisatorisches Talent. Wie er das ungesunde Sumpfland abgräbt, Handelsverbindungen mit den westindischen Inseln anknüpft, und kämpfend, schützend und ratend als Oberhaupt seiner Gemeinde waltet, gemahnt er uns an das Bild Fausts, des Kolonisators. Freilich war er kein absoluter Herrscher in seinem Bereich, wie dieser.

Denn obgleich er zum Landgrafen über die Kolonie ernannt war und die Rechtspflege in seinen Händen lag, und obgleich ihm die Ansiedler kontraktmäßig zu Treue und Gehorsam verpflichtet waren, so trug die Verfassung des jungen Gemeinwesens im Grunde doch demokratischen Charakter. Zwölf der fähigsten Männer verwalteten mit ihm die öffentlichen Angelegenheiten, und als die kleine Stadt fertig gebaut war, da wurde ihr in feierlicher Gemeindeversammlung der Name Neu-Bern gegeben. Es war ohne Zweifel die altgermanische Form demokratischer Gemeindeverwaltung, eng verwandt der sogenannten Town-meeting in Neu-England, die Graffenried und seine deutschen Kolonisten so nach Carolina verpflanzten.

So glänzend wie der Aufschwung der jungen Ansiedlung zu Anfang auch gewesen war, so furchtbar sollten die Unglücksfälle sein, die bald über Graffenried und seine Gemeinde hereinbrachen. Ich kann hier nicht im einzelnen erzählen, was die Armen Schreckliches zu erdulden hatten; nur auf einige der Ursachen möchte ich hindeuten, die unsere Kolonie bis zum Rande des Zusammenbruchs führten.

Als Baron Graffenried mit den Großgrundbesitzern in London seinen Vertrag abschloß, hatte man ihm zu den leeren Titeln eines Landgrafen von Carolina, Baron von Bernburg und Ritter des Purpurbandes noch eine Reihe glänzender Versprechungen gegeben. Dazu gehörte vor allem die Abmachung, daß ihm gleich nach seiner Ankunft für den ersten Unterhalt der Ansiedler 500 Pfund Sterling sollten ausgezahlt werden. Er bekam das Geld nie zu sehen, so flehentlich er auch darum bat. Als Mann von Ehre und Pflichtgefühl, der sich seiner Verantwortung als Leiter der Kolonie voll bewußt war, sah er sich gezwungen, bedeutende Summen gegen hohen Wucherzins und persönliche Bürgschaft zu borgen, um seine Leute vorm Hungertod in der Wildnis zu bewahren. Natürlich glaubte er, daß ihm die Großgrundbesitzer das Geld, den Vertragsbestimmungen gemäß, zurückerstatten würden. Den Gedanken, daß auch hohe Herren vertragsbrüchig werden könnten, vermochte der Ahnungslose nicht zu fassen, und so geriet er in immer größere Schwierigkeiten, als die Schuldscheine fällig wurden. Nicht viel besser erging es ihm mit dem Berner Syndikat. Auch hier sollte er durch bitterste Erfahrung lernen, daß eine Aktiengesellschaft weder Seele noch Gewissen hat.

Dazu mußte er bald nach seiner Ankunft in Carolina noch gewahren, daß das Land, das er in London in gutem Glauben gekauft hatte, eigentlich noch den Indianern gehörte, die auf ihrem Besitzrecht bestanden. Um die drohenden Schwierigkeiten mit diesen zu vermeiden, sah er sich gezwungen, das bereits erworbene Land nochmals von ihnen zu kaufen. Daß die junge Ansiedlung später von den Wilden in schrecklichster Weise heimgesucht wurde, war nicht Graffenrieds und seiner Leute Schuld, sondern muß den Erfahrungen der Indianer mit der Hinterlist und der Grausamkeit anglo-keltischer Hinterwäldler zugeschrieben werden. Kein besserer Beweis hierfür als die Tatsache, daß Graffenried, als er auf einer Reise ins Innere des Landes, mit dem englischen Feldmesser Lawson, einem berüchtigten Schwindler, in die Gefangenschaft der Indianer geriet, von diesen in Anerkennung empfangener Wohltaten freigelassen wurde, während jener eines grausamen Todes sterben mußte.

Hier mag es am Platze sein, über das Verhältnis der ersten deutschen Ansiedler zu den Indianern einige allgemeine Bemerkungen einzuflechten.

Fast alle deutschen Ansiedlungen während der Kolonialzeit waren an der Indianergrenze gelegen und erstreckten sich, einer Kette gleich, vom heutigen Staate Maine bis nach dem südlichen Georgien. Der Grund hierfür lag in der klar ausgesprochenen Absicht der zartfühlenden englischen Regierung, die deutschen Vettern als eine Art Puffer oder Schutzwand gegen die Franzosen und Indianer zu benutzen. Gar vieles im Vorwärtsdringen amerikanischer Zivilisation wie in der Geschichte der schließlichen Eroberung des amerikanischen Westens läßt sich allein aus dieser Tatsache erklären. Und mit Stolz dürfen wir Deutsch-Amerikaner darauf hinweisen, daß unsere Vorfahren von den Tagen des Pastorius bis herab auf Karl Schurz die Indianer als Mitmenschen behandelten, die es gelte der Kultur zu gewinnen und nicht nach anglo-keltischer Weise zu berauben oder auszurotten wie die Kanaaniter des Alten Testaments. Nicht wenige von Graffenrieds Schwierigkeiten sind auf seine humane Gesinnung zurückzuführen und auf seine Weigerung, den Wilden gegenüber wortbrüchig zu werden.

Zu diesen unverschuldeten Schwierigkeiten und zu seiner ununterbrochenen Geldverlegenheit, die ihm der Vertragsbruch der Londoner und Berner Aktionäre bereitete, muß schließlich, um Graffenrieds Mißgeschick ganz zu verstehen, noch die Korruption und Mißwirtschaft des Großgrundbesitzertums gerechnet werden. So finden wir ihn denn nach drei Jahren unsäglicher Arbeit und heroischer Selbstaufopferung in verzweifeltster Lage. Das Unglück schien ihn zu verfolgen. Betrogen von seinen europäischen Freunden und schließlich sogar von den Ansiedlern beargwöhnt, stand er allein zwischen diesen und dem unausbleiblichen Ruin. Aber er begegnete der Lage mit heldenhaftem Mut. Obwohl in fortwährender Gefahr, der Schulden wegen, die er zur Rettung seiner Leute auf sich geladen hatte, ins Gefängnis geworfen zu werden, reiste er nach England, um an die Königin zu appellieren. Später wollte er dann die Berner Gesellschaft zur Rechenschaft ziehen. Aber kurz nach seiner Ankunft in London starb die Königin Anna, und als er schließlich Bern erreichte, fehlten ihm die Mittel zu dem langwierigen Prozeß, der ihm hier bevorstand. Überzeugt, daß ein weiterer Kampf gegen das unabwendbare Verhängnis fruchtlos sei, beschloß er in der Schweiz zu bleiben. Zu seiner Verteidigung und zur Rechtfertigung gegen unbegründete Schmähungen schrieb er dann später die beiden Berichte über sein „amerikanisches Unterfangen“, die ich schon erwähnte. Wehmütig resigniert schließt er die deutsche Erzählung seiner Abenteuer mit den Worten: „Weilen die fortun in dieser Welt ist mir nicht günstig seyn wollen, nichts beßres ist, als zu verlassen alles was der Welt ist und die Schätz suchen, die im Himmel, welche nicht die Schaben noch der Rost fressen, und die Dieben nicht nachgraben können.“

Mehr als je war nun unsere deutsche Kolonie, nach Graffenrieds Abreise, auf ihre eigene Kraft angewiesen. Aber gerade aus diesem Grunde überstand sie die schwere Krisis, und mit den Nachkommen der heldenhaften Pioniere dürfen wir heute die Feier ihres zweihundertjährigen Bestehens begehen. Kein besserer Beweis für die Tatsache, daß Amerika für ein System obrigkeitlicher Fürsorge, und sei es noch so zahm, keinen Raum hat, und daß der Erfolg des einzelnen wie ganzer Gemeinschaften hier im letzten Grunde von den Eigenschaften des Geistes und des Charakters abhängen, die sich im Unglück wie im Glück bewährt haben.

In welch hohem Maße die Pioniere von Neu-Bern diese Eigenschaften besaßen, bezeugen die schon erwähnten Briefe, die sie in die Schweizer Heimat schrieben. Ich halte diese Briefe für geschichtliche Dokumente allerersten Ranges, nicht nur, weil sie uns den intimsten Einblick in das Leben der jungen Ansiedlung gewähren, sondern auch darum, weil sie den ganzen Kulturstand der Eingewanderten so treu widerspiegeln und uns eine Vorstellung geben von dem stillen Beitrag, den sie und Tausende ihrer Volksgenossen dem werdenden amerikanischen Volkscharakter und der langsam sich bildenden amerikanischen Kultur im 18. Jahrhundert zuführten. Denn die Briefe stammen von Leuten aus dem Volke und nicht etwa von Geistlichen oder Gelehrten, wie fast alle überlieferten Briefe aus der Kolonialzeit Amerikas. Und schon die bloße Tatsache, daß sich diese Leute schriftlich so fertig ausdrücken konnten, beweist, daß sie, dank den überlegenen deutschen Volksschulen, an Bildung durchschnittlich weit über den englischirischen Einwanderern jener Zeit standen.

In ihrem treuherzig anheimelnden Schweizerdialekt, in tiefbewegten Augenblicken des Lebens geschrieben, zeigen uns die Briefe den ganzen Reichtum deutschen Gemütes, dem ja das Schönste unserer Dichtung, unserer Kunst und Musik im Grunde auch entsprungen ist. Wir gewahren die Tiefe des religiösen Gefühles dieser einfachen Leute, ihren anhänglichen-Familiensinn, die heldenhafte Freiheitsliebe der um ihres Glaubens willen vertriebenen Täufer, und den unbezwinglichen Mut, mit dem sie die unglaublichen Leiden und Entbehrungen des Lebens in der Wildnis ertrugen, die sie mit eisernem Fleiß schließlich in einen Garten verwandelten.

In diesen Eigenschaften liegt das Wertvollste beschlossen jenes reichen Kulturerbes, das die Deutschen im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte diesem Lande zugebracht und dem amerikanischen Volkscharakter einverleibt haben. Denn was wir heute amerikanischen Nationalcharakter und amerikanische Kultur nennen, ist nicht, wie uns die künstlich gezeugte Schullegende glauben machen will, der Charakter und die Kultur eines bestimmten kleinen Volksteiles, wie etwa des Neu-Engländertums, sondern das Produkt der Eigenschaften verschiedener Nationalitäten, unter denen der germanische Stamm jedoch vorwiegt. Und weil diese Eigenschaften, teils das Erbe deutscher Art, teils in der harten Schule des Grenzerlebens erworben sind, darum dürfen wir Deutsche im amerikanischen Nationalcharakter so viele unserer eigenen Züge wiedererkennen.

Individuen und Geschlechter mögen vergehen, aber die Charakterzüge der Nationalität und der Rasse bleiben, aller Rassenmischung zum Trotz. Und während wir an Festtagen wie diesem gar wohl mit Stolz auf den Charakter und die Leistungen unserer Vorfahren hinweisen mögen, sollen wir zugleich der Pflicht eingedenk bleiben, die uns ihr hinterlassenes Erbe auferlegt. Das Wachstum und der Reichtum unserer gewaltigen jungen Nation haben zugleich Gefahren und Übel gezeugt, die nicht weniger furchtbar sind in ihrer Art als die Schrecknisse, die unsere Vorfahren im Urwald zu bestehen hatten. Kein soziales Zauberwort wird diese Gefahren bannen, und kein Reformgerede diese Übel heilen, solange es um die Einzelnen schlecht steht, aus denen sich Staat und Gesellschaft zusammensetzen. Das ist die ewig währende Bedeutung des Individualismus gegenüber den Träumen der Soziologie. Einfachheit und Unbescholtenheit, Ehr- und Pflichtgefühl, Furchtlosigkeit und Bescheidenheit, Fleiß, Sparsamkeit und Mäßigkeit im erlaubten Genuß — sie müssen zuerst der unveräußerliche Charakterbesitz des Einzelnen, vieler Einzelner sein, ehe sie in unserem sozialen und politischen Leben, dem so vielfach verrotteten, sich geltend machen können.

Wir Deutsch-Amerikaner aber sehen in diesen Charaktereigenschaften das köstliche und unveräußerliche Erbe unserer Vorfahren, dessen Bewahrung und Weitergabe unsere bleibende nationale Mission ist.

Text aus dem Buch: Der Kampf um deutsche Kultur in Amerika : aufsätze und vorträge zur deutsch-amerikanischen Bewegung, Verfasser: Goebel, Julius.

Siehe auch:
Die deutsche Bewegung in Amerika. Rückblicke und Aussichten.
Zur deutschen Frage in Amerika.
Zur Geschichte der Scheltnamen Dutchman und Dutch.
Warum protestieren wir Deutsch-Amerikaner gegen den Imperialismus?
Amerika in der deutschen Dichtung.
Über die deutsche Dichtung in Amerika.
Longfellow als Vermittler deutscher Geisteskultur.
Die Deutschen in der amerikanischen Geschichtschreibung.
Das Deutschtum in Amerika zu Lincolns Zeit.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2002