aus dem Kunstmuseum Hamburg
Der Kampf um deutsche Kultur in Amerika.
Einem vielverschlungenen Gewebe gleich spinnen sich unsichtbar die Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und Amerika über den Ozean, und nicht immer ist dies junge Land mit seiner aufstrebenden Kultur der empfangende Teil gewesen.
Auch in der Entwicklung des deutschen Geisteslebens lassen sich die Einwirkungen verfolgen, die von der Neuen Welt ausgehen. Denn wie im Mittelalter die Farbenpracht des Orients, die dem jugendfrischen Sinn der Germanen durch die Kreuzzüge erschlossen wurde, in unserer nationalen Dichtung widerglänzt, so sollte auch das neuentdeckte Wunderland des Westens in unserer Poesie wieder erscheinen. Freilich nicht umgeben von dem geheimnisvollen Schimmer, den die religiöse Schwärmerei um das heilige Grab wob, die Stätte, wo das junge deutsche Heldentum seine Großtaten verrichtete. Wohl aber tritt die Neue Welt, die seit dem sechzehnten Jahrhundert das Ziel der germanischen Wander- und Abenteuerlust wird, mit der Zauberkraft neuer, fördernder Ideen in das Denken und Dichten des Deutschen Volkes ein. Und an Beweisen deutscher Heldenkraft hat es seitdem auch in Amerika nicht gefehlt.
Darum befriedigt es auch nicht nur unser wissenschaftliches Bedürfnis dem Einfluß nachzugeben, den Amerika auf die deutsche Dichtung geübt hat. Unsere nationale Poesie ist in ihrer höchsten und reifsten Erscheinung kein bloßer Schmuck, mit dem auserlesene Geister ihr Leben zieren. Als Ausdruck des innersten Strebens und Sehnens der Volksseele stellt sie für den Deutschen Lebensideale dar, die ihre Kraft in der Lebensführung des Einzelnen wie des ganzen Volkes beweisen. Soll es nun meine Aufgabe sein, wenigstens in großen Umrissen zu zeigen, wie die neuen großen politischen und sittlichen Ideen, die sich an das Entstehen und Wachsen dieser Republik knüpfen, auf unsere nationale Dichtung wirken, dann mag sich vielleicht dabei auch ergeben, ob Amerika an dem, was wir heute als eigentlich deutsche Ideale schätzen, nicht auch seinen Anteil habe. Und wenn von den vielen Millionen unserer Landsleute, die seit dem vorigen Jahrhundert die amerikanischen Gestade aufsuchten, auch nur die wenigsten mit den Schätzen deutscher Dichtung innig vertraut waren, so haben doch alle die Wandlungen miterfahren, die unsere Dichter im Leben der Nation hervorriefen. Hat Amerika je auf die deutsche Dichtung eine Wirkung geäußert, dann ist sie Amerika selber in seiner deutschen Einwanderung wieder zugute gekommen.
Erst im achtzehnten Jahrhundert können wir freilich nach einem bleibenden Einfluß Amerikas auf das deutsche Dichtergemüt suchen. Als die Entdeckung der Neuen Welt am Ende des 15. Jahrhunderts gemacht war, da erregte die neue Kunde wohl auch in Deutschland großes Aufsehen. Aber die Kraft der Nation war zu sehr von den gewaltigen inneren Kämpfen des Glaubens und der Bildung in Anspruch genommen, um von der neuen Entdeckung tiefer berührt zu werden. Auch fehlten unserem Volke die Dichter, die, sei es auch nur wie die Fahrenden zur Zeit der Kreuzzüge, die Kunde von der neuen Wunderwelt dichterisch verwertet hätten.
Wir dürfen es zu den schönsten Fügungen der Weltgeschichte zählen, daß der große amerikanische Freiheitskampf und die Gründung der amerikanischen Republik mit der gewaltigen Erhebung des deutschen Geistes zusammenfiel, die uns die klassische deutsche Dichtung brachte. Zwar an dieser Erhebung selbst haben die Vorgänge in der Neuen Welt keinen Anteil, sie wurde aus den Tiefen des deutschen Geistes selbst geboren. Aber wie die glückliche Erfüllung des heißen Freiheitsdranges und all der geträumten glänzenden Ideale erschien die aufstrebende Republik den tief erregten deutschen Geistern. Und in diesem Sinne hat Amerika nicht wenig auf die deutsche Dichtung und damit auf die Entwicklung des deutschen Geistes- und Kulturlebens eingewirkt.
Es ist hier nötig, sich die große literarische Bewegung in Deutschland in einzelnen ihrer bedeutendsten Vertreter lebendig werden zu lassen und in der Entwicklung ihrer Gedankenarbeit die Stelle zu finden, wo Amerika, als Ideal gleichsam, mitbestimmend und fördernd in die Dichterseele tritt.
Der Erste, der mit der ganzen Glut seiner Dichterbegeisterung dem Morgenrot der Freiheit entgegenjauchzte, war kein Geringerer als Klopstock. Es gab eine Zeit, wo es, sogar in sogenannten wissenschaftlichen Kreisen, billige Gewohnheit war, über den „Sänger des Messias“ zu witzeln. Und doch ist er es gewesen — fast schäme ich mich, es zu wiederholen —, der wie ein Prophet am Anfang der neuen Dichterzeit steht und dessen schöpferische Gedanken noch einen Goethe und Schiller beherrschen. Mit seinen Oden besonders griff er tief ins Gedanken- und Gefühlsleben des deutschen Volkes ein. Er war es, der von der Dichtung Wahrheit als ihren höchsten Gehalt forderte, der an Stelle des verlumpten Hofpoeten und des Nachahmers der Alten das neue Dichterideal setzte, das im Genius mit seiner ursprünglichen Begabung als sittlicher Führer der Menschheit auftritt. Und treu diesem Ideale reinigt er das sittliche Leben seines Volkes auf mehr als einem der heiligsten Gebiete. Vor allem ruft er auch das schlummernde Nationalgefühl zu neuem Leben auf. Wir mögen, der Mode folgend, den „Überschwang gegenstandsloser Empfindelei“, der damit unterlief, heute belächeln. Aber im Dämmer dieses überschwenglichen Gefühlslebens, das die Besten der Nation damals erfüllte, wuchs doch leise das Nationalbewußtsein, das später zu starker Tat schreiten konnte. Wie sehr Klopstock auch politisch gerichtet war, das zeigt sein Verhalten gegen Friedrich den Großen, seine Begeisterung beim Ausbruch der Französischen Revolution und schließlich seine Stellung zum amerikanischen Freiheitskampf. In seiner Trauer darüber, daß nicht auch Deutschland die große Tat der Revolution vollbrachte, und so der Welt ein Beispiel wurde, bleibt ihm der Trost, daß Deutsche an der Befreiung Amerikas wesentlichen Anteil hatten*). Sein Aufenthalt im freien Hamburg, das damals schon im regen Handelsverkehr mit Amerika stand, mochte ihm die Sache der jungen Republik jenseits des Meeres besonders ans Herz legen. Aus dieser Zeit stammen seine Zornrufe gegen die deutschen Fürsten, die „lüstenden Schwelger“, die „Tyrannen“, die „Halbmenschen“, die sich in vollem dummen Ernst für „höhere Wesen halten“**). Und so begrüßt er denn auch in der Ode „Der jetzige Krieg“ den Kampf um die Freiheit aus voller Brust:
Ein hoher Genius der Menschlichkeit Begeistert dich.
Du bist die Morgenröte Eines nahenden großen Tags.
O, dann ist, was jetzo beginnt, der Morgenröten schönste:
Denn sie verkündiget
Einen seligen, nie noch von Menschen erlebten Tag,
Der Jahrhunderte strahlt.
Daß dieser Freuderuf nicht allein der „zunehmenden Humanität“, der Kriegsführung galt, wie Herder im 20. Humanitätsbrief meint, sondern wohl auch der großen Freiheitssache selbst, das mag den Zweifelnden die Ode „Zwei Nordamerikaner“ bezeugen, die aus der Zeit von Klopstocks großer Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution stammt und in der die beiden Amerikaner als Vertreter wahrer, nicht entarteter Freiheit auftreten. Rettete doch auch Herder seine Freiheitsbegeisterung, als die Dinge in Frankreich so schlimme Wendung nahmen, in den Lobgesang auf seinen alten Liebling Benjamin Franklin, den humanen Mitbegründer eines weit idealeren freien Staatswesens***). „Glücklich,“ ruft er im 2. Humanitätsbrief aus, „wer auf sein Leben zurücksehen kann, wie Franklin, dessen Bestrebungen das Glück so herrlich gekrönt hat. Nicht der Erfinder der Theorie elektrischer Materie und der Harmonika ist mein Held der zu allem Nützlichen aufgelegte, und auf die bequemste Weise werktätige Geist, er, der Menschheit Lehrer, einer großen Menschengesellschaft Ordner sey unser Vorbild.“
*) Sie, und nicht Wir (1790).
**) Fürstenlob (1775).
***) Vgl. R. Haym, Herder II, 485ff., wo die politische Tendenz der Humanitätsbriefe und der Umschwung in Herders politischen Anschauungen trefflich dargestellt wird.
Aber noch glänzendere Hoffnungen erweckte die „Morgenröte der Freiheit“ bei den Stürmern und Drängern in der eigentlichen Revolutionszeit des deutschen Geistes. Es ist ja bekannt, wie die Bewegung zuerst auf ästhetischem Gebiet auftrat, als Kampf gegen verzopfte Gelehrsamkeit und verknöcherte Schulpoesie. Anknüpfend an Gellerts, Klopstocks und Lessings Verkündigung schöpferischer Dichterkraft und angeregt von englischen Schriftstellern, feierte man nun im Genie das geheimnisvolle Seelenvermögen, das an Stelle des platten Verstandes treten solle. Auf die Äußerungen dieser ursprünglichen Seelenkraft in der Naturdichtung aller Zeiten und Völker zu lauschen, war besonders Herders Verdienst. Ich darf wohl auch in diesem Zusammenhang auf seinen Aufsatz „Über Ossian und die Lieder alter Völker“ (1773) hinweisen, in dem er die Poesie der Naturvölker, der „Wilden“ als dichterische Muster mit den Worten preist: „Je wilder, d. i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!) desto wilder, d. i. desto lebendiger, freyer, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder sein.“ In seiner Sammlung der „Volkslieder“ (1778) widmet er ein ganzes Buch den „Liedern der Wilden“, darunter auch einige amerikanische, und in der Vorrede zu dieser Sammlung weist er durch das Zitat aus Montaigne darauf hin, wie die Verehrung für die Wilden und ihre Poesie im Gegensatz zur Überkultur Europas schon im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen habe. Jetzt, wo es galt, die Dichtung nach ihrem innersten Wesen zu erneuern, erinnerte man sich mit Begeisterung aus Berichten von Reisenden und Missionären, daß gerade in Amerika noch solche Wilde mit kraftvoller Urpoesie lebten. Seumes berühmter, „Kanadier, der noch Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte“, ist nicht der letzte Zeuge dieser Gedankenrichtung: sie hat bis in unser Jahrhundert hinein fortgedauert, wie uns Lenaus Indianergedichte bezeugen.
Aber nicht nur die Kunst, sondern auch Staat und Gesellschaft, das ganze Leben wollte das junge Geschlecht umschaffen, das sich in den kleinlichen Verhältnissen Deutschlands gedrückt und beengt fand. Mitten in den Kampf um diese Ideale fiel nun die Kunde von dem Krieg, der alle Bedingungen zu der geträumten neuen Menschheit mit einer neuen, vollkommeneren Kultur zu verwirklichen schien. Vielleicht ist es noch wenig beachtet worden, daß das tolle Drama, das der ganzen Bewegung den Namen gegeben hat, daß „Sturm und Drang“ von Klinger in Amerika spielt. Wie sich Schiller für seine „Räuber“ den imaginären Schauplatz der böhmischen Wälder suchen mußte, so läßt Klinger, der vom Anfang seiner Laufbahn an einen unverwüstlichen, auf die Wirklichkeit gerichteten Tatendrang zeigt, seine Kraftmenschen mit ihrem Sinn und Unsinn in Amerika auftreten. „Ha,“ ruft Wild, in dem sich Klinger wohl selbst darstellt, „laß mich’s nur recht fühlen, auf amerikanischem Boden zu stehen, wo alles neu, alles bedeutend ist.“ Den Dichter in seiner ruhelosen, halb verzweifelten Lage drängte es damals selbst, das neue Land aufzusuchen. Wir wissen, wie er sich durch Schlossers Vermittlung an den Fabeldichter Pfeffel wendet, dessen Bruder in seiner verantwortlichen Stellung zu Paris für ihn bei Benjamin Franklin ein gutes Wort einlegen soll, der damals die französische Unterstützung für die jungen Staaten anrief. Und als dieser Plan scheiterte, da möchte Klinger, nur um ins Land seiner Sehnsucht zu gelangen, mit Hilfe der Herzogin Amalia in Weimar sogar als Offizier bei den braunschweiger Mietstruppen eintreten*).
Auch diesem Plane war keine Erfüllung beschieden. Dafür sollte ein anderer deutscher Dichter erfahren, daß die Freiheitsträume seiner Brüder vergeblich waren, daß das „Morgenrot eines kommenden Tages“ über Deutschland noch nicht anzubrechen gedachte. Aus Seumes Selbstbiographie, einer unschätzbaren Quelle für die Kenntnis des schändlichen Soldatenhandels**) deutscher Kleinstaatenfürsten wissen wir, wie der junge Dichter, der sich als Student auf der Reise nach Paris befand, von den Schergen des Landgrafen von Hessen eingefangen, auf die Festung Ziegenhain geschleppt und von dort mit einer großen Zahl von Leidensgenossen als Kanonenfutter nach Amerika transportiert wurde. Nichts mag die politischen Zustände Deutschlands von damals und die unerhörte Behandlung der Deutschen auf den englischen Schiffen so deutlich widerspiegeln wie die Schilderung Seumes, von der wir einiges im Auszug hier geben:
„Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher: Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription, als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall: wo so Viele durchkommen, wirst du es auch: über den Ozean zu schwimmen, war für einen jungen Kerl einladend genug; und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthaltes in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte, und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankerotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentier aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Qotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meiningen, ein preußischer Husarenwachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann sich denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte, und nur eine Skizze von dem Leben der Herren mußte eine unterhaltend lehrreiche Lektüre sein.–
*) Vgl. M. Rieger, Klinger in der Sturm- und Drangperiode.
**) Vgl. das treffliche Buch von Friedrich Kapp, „Der Soldatenhandel deutscher Fürsten“.
In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschlage in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war; und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen und im Bretterverschläge nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll und die beiden letzten mußten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt: es war für den einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! und es wurde umgeschichtet; hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis ausgehalten, rief das nämliche der linke Flügelmann, und wir zwängten uns wieder in die vorherige Quetsche. Das war eine erbauliche, vertrauliche Lage, ungefähr wie im hohen Paradiese, wenn auf der Bühne des Volks Lieblingsstück gegeben wurde.—
Die Kost war übrigens nicht sehr fein, so wie sie nicht sehr reichlich war. Heute Speck und Erbsen und morgen Erbsen und Speck; übermorgen Pease and Pork und sodann Pork and Pease, das war fast die ganze Runde. Zuweilen Grütze und Graupen und zum Schmause Pudding, den wir aus muffigem Mehl, halb mit Seewasser, halb mit süßem Wasser und altem Schöpsenfett machen mußten. Der Speck mochte wohl vier oder fünf Jahre alt sein, war’von beiden Seiten am Rande schwarzstreifig, weiter hinein gelb und hatte nur in der Mitte noch einen kleinen weißen Gang. Ebenso war es mit dem gesalzenen Rindfleisch, das wir in beliebter Kürze oft roh als Schinken aßen. In dem Schiffsbrote waren oft viele Würmer, die wir als Schmalz mitessen mußten, wenn wir nicht die schon kleine Portion noch mehr reduzieren wollten; dabei war es so hart, daß wir nicht selten Kanonenkugeln brauchten, es nur aus dem gröbsten zu zerbrechen; und doch erlaubte uns der Hunger selten, es einzuweichen; auch fehlte es oft an Wasser. Man sagte uns, und nicht ganz unwahrscheinlich, der Zwieback sei französisch; die Engländer hätten ihn im Siebenjährigen Kriege den Franzosen abgenommen, seit der Zeit habe er in Portsmouth im Magazine gelegen, und nun füttere man die Deutschen damit, um wieder die Franzosen unter Rochambeau und Lafayette, so Oott wolle, totzuschlagen. Gott muß aber doch nicht recht gewollt haben. Das schwer geschwefelte Wasser lag in tiefer Verderbnis. Wenn ein Faß heraufgeschroten und aufgeschlagen wurde, roch es auf dem Verdeck wie Styx, Phlegethon und Kokytus zusammen: große fingerlange Fasern machten es fast konsistent; ohne es durch ein Tuch zu seigen, war es nicht wohl trinkbar, und dann mußte man immer noch die Nase zuhalten, und dann schlug man sich doch noch, um nur die Jauche zu bekommen. An Filtrieren war für die Menge nicht zu denken.“–
Seume vertrieb sich die Zeit auf der langen Reise durch die Lektüre der Klassiker, und als ihn der erstaunte Schiffskapitän einst mit Horazens Oden fand, sagte er mit grimmem Humor zu unserem Dichter: Very well, it is a very good diversion in the Situation you are in. „Endlich“, berichtet Seume, „bekamen wir das Ufer von Akadien zu Gesicht.“ Durch einen sonderbaren Zufall machte er bald nach seiner Ankunft in Amerika mit einigen Versen über die Jämmerlichkeit des Lagerlebens die Bekanntschaft eines Offiziers, namens Münchhausen. Dieser Mann, der sich trotz seinem rauhen Kriegshandwerk und seiner unbeneidenswerten Stellung als Befehlshaber verkaufter Landsleute eine leidenschaftliche Liebe zur Dichtkunst bewahrt hatte, schloß sich eng an Seume an. Die Schilderung des Lebens, das sich zwischen beiden entwickelte, wirft über die trüben Verhältnisse, denen wir sonst in diesem Abschnitt der Biographie begegnen, einen fast idealen Schein. Und es ist wohl in der Tat ein einzig tragisches Bild, die beiden hochgebildeten, von einem deutschen Fürsten zum Kampf gegen die Freiheit verkauften Männer zu sehen, die ihr deutsches Nationalgefühl und den unbewußten Freiheitsdrang ihrer Seele unter amerikanischem Himmel an Klopstocks Dichtungen stärken. Seume selbst hat dies ergreifende Bild in den nachfolgenden Versen festgehalten:
Abschiedsschreiben an Münchhausen.
Nimm meinen Kuß im Geist an deinem Rheine
Und denke bei den Bechern deutscher Weine
An einen deutschen Biedermann,
Den an Neuschottlands westlichem Gestade,
Im Labyrinthe menschenleerer Pfade,
Einst deine Seele liebgewann.Erinn’re dich, wie bei dem kleinen Mahle
Wir auf dem Steine lagen, und, die Schale
Des Kieselbaches in der Hand,
Uns über Stollbergs Liede Freundschaft schwuren,
Und wie uns Schauer durch die Seele fuhren
Bei Freundschaft und bei Vaterland.Erinn’re dich, wie Arm in Arm wir gingen,
Und an dem Blick der Abendsonne hingen,
Die bei Neufundland niedersank,
Und wie wir dann auf Adlerbergen saßen
Und in der Dämmrung Klopstocks Hermann lasen.
Auf einer grauen Felsenbank.Erinn’re dich, wie in der wilden Zone
Uns nach der Jagd ein freundlicher Hurone
Mit Edelmut entgegenkam,
Und uns in echter Urbewohnersitte
Mit Ungestüm in die berauchte Hütte
Und brüderlich zu Tische nahm.Kannst du es je, das Patriarchenessen,
Und unsers Wirtes Jubellied vergessen,
Der froh, wie Gott, uns Gutes gab;
So führe mit dem Gängelband der Mode
Der Parze Hand nach einem Stutzertode
Dich rächend in ein Marmorgrab.Mein Freund! gewiß durchirrst du noch im Bilde
Die Berge, wo der gute, wackere
Wilde So oft uns auf dem Felsen fand,
Wo, trotz den Männern von Minervens Hügel
Und von dem Kapitol, der Größe Siegel
Auf seiner freien Stirne stand.Erinn’re dich, wie in des Nordlichts Gluten
Oft unsre kleine Barke durch die Fluten
Mit Zittern an das Ufer stieg;
Und wie wir dann, wenn hoch die Wogen drangen,
Ein Lied von Fingal durch die Wogen sangen,
Von Geistern, Harfen, Schlacht und Sieg. Usw.
Ganz anders, viel mannhafter und patriotischer klingt die Sprache Schubarts, der sofort in seiner „Deutschen Chronik“ für die Sache der Freistaaten“ eintrat und in dem „Freiheitslied eines Kolonisten“ seinen Fürstenhaß wie seine glühende Freiheitsliebe in Rhythmen ausströmen ließ, die uns wie Trompetenstoß und Trommelgewirbel heute noch ans Herz greifen*):
*) Man vergleiche mit diesem Gedichte das berühmte »Kaplied«, das Schubart beim Abzug der 898 Württemberger, die der Herzog an die holländisch-ostindische Kompagnie verkaufte, gedichtet hat und in dem er auch nicht ein Wort des Zornes über den schmählichen Handel findet. Freilich war dem Dichter in der langen Gefangenschaft das Rückgrat seiner politischen Überzeugung längst gebrochen; allein es ist mir unbegreiflich, wie D. F. Strauß und nach ihm der jüngste Herausgeber Schubarts, A. Sauer, dies Lied das durch sein Schweigen einen Schandakt deutschen Fürstentums im 18. Jahrhundert feiert, den Auswanderern und Kolonisten von heute als Trostlied empfehlen können.
Hinaus! Hinaus ins Ehrenfeld
Mit blinkendem Gewehr!
Columbus, deine ganze Welt
Tritt mutig daher!Die Göttin Freiheit mit der Fahn‘ —
(Der Sklave sah sie nie)
Geht — Brüder, seht! sie geht voran,
O blutet vor sie!Ha, Vater Putnam lenkt den Sturm
Und teilt mit uns Gefahr,
Uns leuchtet wie ein Parusturm
Sein silbernes Haar!Du gier’ger Brite sprichst uns Hohn? —
Da nimm uns unser Gold!
Es kämpft kein Bürger von Boston
Um sklavischen Sold!Da seht Europens Sklaven an,
In Ketten rasseln sie! —
Sie braucht ein Treiber, ein Tyrann
Für würgbares Vieh.Ihr reicht den feigen Nacken, ihr,
Dem Tritt der Herrschsucht dar? —
Schwimmt her! hier wohnt die Freiheit hier!
Hier flammt ihr Altar!Doch winkt uns Vater Putnam nicht?
Auf Brüder, ins Gewehr! —
Wer nicht für unsre Freiheit ficht,
Den stürzet ins Meer!Herbei, Columbier, herbei!
Im Antlitz sonnenrot!
Hör‘ Brite, unser Feldgeschrei
Ist Sieg oder Tod.
Noch heftiger als seine Vorgänger sollte der letzte der Stürmer und Dränger am morschen Bau des Staates und der Gesellschaft rütteln und auch den Soldatenhandel an den Pranger stellen. Die Stelle in „Kabale und Liebe“, in der Schiller diese Dinge gebrandmarkt hat, ist allbekannt. Aber schon früher hatte er als Journalist für die amerikanische Republik Partei ergriffen, und zwar unter den Augen desselben despotischen Fürsten, der Schubart schon seit Jahren das „Freiheitslied eines Kolonisten“ bitter entgelten ließ.
Die Aussprüche des jungen Schiller, die hier in Betracht kommen, finden sich in den „Nachrichten zum Nutzen und Vergnügen“, einer politischen Wochenschrift, die der Dichter im Jahre 1781 redigierte*). Da der Krieg zwischen England und Amerika in diesem Jahre das wichtigste Ereignis war, so mußte natürlich auch das. schwäbische Provinzialblatt darüber berichten. Nicht zwar in der Form unserer Leitartikel und Depeschen von heute, sondern im damals beliebten Gewände von Anekdoten oder kurzen erzählenden Berichten, die das Auge des Zensors vertragen konnte. Es verdient unsere Bewunderung, wie Schiller es verstanden hat, innerhalb dieser Fesseln seine Neigung für die amerikanische Sache fast von Nummer zu Nummer an den Tag zu legen und in der kleinen nachstehenden Notiz sogar den Soldatenhandel mit schneidendem Hohn zu geißeln:
„Am 4. März wurden aus Ansbach die nach Amerika bestimmten Truppen eingeschifft. Kurz vor dem Ausmarsch hatte diese Residenz das wonnevolle Entzücken, ihren angebeteten Landesvater und Regenten im besten Wohlsein von der Reise nach der Schweiz zurückkommen zu sehen.“
Welch packender, echt dramatisch gedachter Gegensatz! Die für Geld an das fremde Land verkauften, ausziehenden Rekruten und der Verkäufer als „angebeteter“ Landesvater von einer Lustreise zurückkehrend! Kein Wunder, daß der schwäbische Fürst dem Landeskinde mit solch gefährlichem politischen Pathos und verkappten republikanischen Gesinnungen auch einen Aufenthalt hinter Schloß und Riegel zugedacht hatte!
Die Ereignisse, die sich im Gefolge der Französischen Revolution einstellten, das Auftreten Napoleons, die Freiheitskriege und die Einkehr ins deutsche Altertum, dies alles hielt die Geister in Deutschland auf Jahrzehnte so sehr in Spannung, daß die Geschichte der Republik in der Neuen Welt den Blicken ganz entschwunden schien. Nur ein Gedicht Platens aus jener Zeit (1818), „Colombos Geist“, mag uns bezeugen, wie das ferne Freiheitsland noch immer im Hintergrund der Gedankenwelt leuchtend auftaucht.
*) Vgl. Minor, „Der junge Schiller als Journalist“. Vierteljahrschr. f. Literatur-geschichte II, 346ff.
Seltsam genug läßt Platen den Geist des großen Entdeckers vor Napoleon erscheinen, als dieser sich auf seiner Fahrt in die Gefangenschaft nach St. Helena befindet. Erfüllt von jener schrankenlosen Begeisterung für das Genie des „korsischen Emporkömmlings“, die bekanntlich auch Goethe so schwer loswerden konnte, beschwört der Dichter den Geist des Columbus, um den glücklich gefangenen Menschenwürger zu trösten:
Ich zuerst durchschritt die Wasserwüste
Über der du deine Zähren weinst,
Der Atlantis frühverlorne Küste
Dieser Fuß betrat zuerst sie einst.Nun erglänzt in heller Morgenstunden
Auferstehung jenes teure Land,
Das der Menschheit ich zum Heil gefunden,
Nicht zum Frondienst einem Ferdinand!Du erlagst dem unbezwingbar’n Norden,
Aber jene, die darob sich freun,
Werden zitternd vor entmenschten Horden
Ihren blinden Jubel bald bereun!Aber kommt der große Tag der Schmerzen,
Und es hemmt ja nichts der Zeiten Lauf,
Nimm, Columbia, dann die freien Herzen,
Nimm Europas letzte Helden auf!Wenn das große Henkerschwert geschliffen,
Meinen Kindern dann ein werter Gast,
Kommt die Freiheit auf bekränzten Schiffen,
Ihre Mütze pflanzt sie auf den Mast!Segle westwärts, sonne dich am Lichte,
Das umglänzt den Stillen Ozean;
Denn nach Westen flieht die Weltgeschichte:
Wie ein Herold segelst du voran!
Berührt es uns auch sonderbar, wie Platen in wunderlicher Verblendung dem gestürzten Tyrannen in der Republik eine Freistätte anbieten konnte, so entschädigt er uns doch mit der prophetischen Erkenntnis dessen, was die Neue Welt seinen Landsleuten bald wieder werden sollte. Denn gar schnell mochte man sich Amerikas erinnern, als die Hoffnungen, die das glühend entfachte Nationalgefühl hegte, nach dem Wiener Kongreß durch die Zeit der Reaktion vernichtet wurden, als der politische Sinn, den die Freiheitskriege inzwischen genährt hatten, den Druck des alten Fürstenwesens ganz anders empfand als im 18. Jahrhundert. Für den Vertreter dieser Stimmung, die sich müde und verzweifelnd von den Zuständen in Deutschland abwandte, um in der Neuen Welt Ruhe und Befriedigung zu suchen, dürfen wir Lenau ansehen.
Will man sich den Wandel des Nationalgefühls vor Augen führen, der sich im deutschen Geistesleben seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte, dann braucht man nur das oben erwähnte Bild von .Seume und seinem dichterisch schwärmenden Freunde mit Lenau zu vergleichen, der in dem schönen Gedicht „Das Blockhaus“ mitten im amerikanischen Urwald in die tief schmerzlichen Worte ausbricht:
Uhland, wie steht’s mit der Freiheit daheim? Die Frage Sandt’ ich über Wälder und Meere ihm zu.
Freilich waren es nicht politische Beweggründe allein, die unsem Dichter nach Amerika trieben. Wir besitzen in „Lenaus Briefen an einen Freund“, die Karl Mayer in etwas redseliger Weise veröffentlicht hat, eine treffliche Fundgrube für die Erklärung der Seelenverfassung unseres Dichters, die ihn zur Auswanderung veranlaßte*).
In einer Zeit, die einem genialen Menschen wie Lenau keine Aufgaben bot, an denen sich die Kraft seiner hohen Begabung hätte erproben können, mußte sich diese Kraft ganz nach innen werfen und die ohnehin schon empfindliche Subjektivität des Dichters sich zu einer Nervosität steigern, die schließlich vor jeder Berührung der Wirklichkeit krampfhaft zurückbebte und sich verletzt fühlte. Nur so läßt sich die trostlose Enttäuschung begreifen, die den Dichter erfaßte, als er wirklich in Amerika gelandet war, die ersehnte Freiheit genoß und sich vor die Aufgabe gestellt sah, in rüstiger Arbeit seine Kraft zu regen. Wir begegnen in Lenau einer jener unglücklichen Gestalten unserer großen, mit der Sturm- und Drangperiode beginnenden Dichterzeit, die, wie Lenz und Hölderlin, ihrer genialischen Begabung gleichsam zum Opfer fallen und mit ihrem endlichen Schicksal bezeugen, welche Gefahren dem Genie drohen.
Die erste Nachricht von den Auswanderungsplänen Lenaus gibt uns in der erwähnten Briefsammlung Justinus Kerner in einem Schreiben an Karl Mayer. Der bekannte Lyriker und Geisterseher, läßt sich in seiner halb ernsten, halb humoristischen Weise also aus**):
„Herzliebster!
Dein Brief von Niembsch kam von Heidelberg hierher: denn N. ist schon seit 10 Tagen wieder bei mir. Jetzt, wo er heute nach Bönnigheimü fuhr, aber nachts wiederkehrt, will ich Dir schreiben, weil er Dir wahrscheinlich erst in 2 bis 3 Tagen schreiben wird. Niembsch ist von Amerika ganz besessen, schrieb sich in die Aktiengesellschaft ein und schifft am 1. Mai dahin. Er läßt sich nichts ein-reden: denn seine ganz dämonische Phantasie malt ihm da Dinge vor, die ganz nach seinen Wünschen sind.
Er ist wieder viel wilder als er war. Als er das vorige Mal bei mir war, gelang es mir, den Dämon in ihm zu beschwichtigen. Ich hatte ihn dahin gebracht, daß er den Entschluß faßte, nach München zu gehen und sich an Schubert anzuschließen.
*) N. Lenaus Briefe an einen Freund. Stuttgart 1853.
**) a. a. O. 57 ff. (11. xMärz 1832).
Da hätte er inneren Frieden und Glauben gewonnen (die ihm so sehr fehlen), — allein in Heidelberg wieder 14 Tage sich selbst überlassen, kehrte in ihm der alte Dämon wieder, der wilde Tiere schießen und Urbäume niederreißen will. Es ist völlige Wahrheit, daß in Niembsch ein Dämon ist, der ihn furchtbar plagt und der in einer Viertelstunde sein Gesicht zwanzigmal verändert. Derselbe zeigt sich auch durch wirkliche Krämpfe in ihm, die sich durch ein unglaubliches Erstarren, namentlich seines Gesichtes aussprechen*). So lange dieser Dämon nicht aus ihm getrieben ist, ist er furchtbar unglücklich und macht auch andere düster. Ich will noch alles anwenden, denselben in ihm zum zweitenmal zu bannen, verzweifle aber jetzt sehr! Denn die amerikanische fixe Idee, die ihm dieser eingeflüstert, hat furchtbar feste Wurzeln in ihm gefaßt. —
Nachts.“
Niembsch kehrte von Bönnigheim zurück und unterschrieb sich mit 5000 fl. in die amerikanische Gesellschaft, wofür er 1000 Morgen Landes zum Anbau erhält. Es ist nun nichts mehr zu machen, als zu dieser Sache das beste sagen. Es ist vielleicht das Land der Prüfung für ihn und Gott wird es nicht ohne seine weisen Absichten zulassen. Betrachtet man es wieder von anderen Seiten, so läßt sich dagegen allerdings auch wieder wenig einwenden. Europa verfault immer mehr in der Gemeinheit und auch mir wird es oft ganz bang in ihm.“ Usw.
Sogar der fromme Kerner fühlt also auch die politische Versumpfung Deutschlands. Wie Lenau seine Reise nach Amerika selbst ansah, darüber gibt uns der Brief tieferen Aufschluß**):
„Weinsberg, 13. März 1832.
Mein lieber Mayer!
Ich reise diesen Frühling nach Amerika. Längstens bis 1. Mai, vielleicht aber schon in 3 Wochen werd’ ich mich einschiffen. Das war es, warum ich so lange nicht geschrieben, ich hatte teils viel herum-zureiseu und auszukundschaften, teils wollt’ ich Dir einen letzten festen Entschluß mitteilen; nun ist er gefaßt. Um in Amerika etwas Halt zu haben, bin ich in den Stuttgarter (eigentlich Ulmer) Verein der Auswanderer mit einigen Aktien eingetreten. Die Gesellschaft, bereits aus 200 Köpfen bestehend, wird sich am Missourifluß niederlassen, vorläufig aber eine Kommission dahin absenden, um Land anzukaufen und die Kolonisation vorzubereiten.
*) So schrieb nicht nur der Geisterseher, sondern wohl auch der Arzt Kerner lange bevor Lenau Sophie von Löwenthal kennen lernte, die jetzt allein den Wahnsinn des Dichters verursacht haben soll.
**) a. a. O. 60 ff.
Wahrscheinlich werd’ ich mich an diesen Vortrab anschließen, denn sehr interessant wär‘ es mir, die ersten Rudimente einer Ansiedlung zu beobachten, vielmehr selbst teilzunehmen daran. Gefällt es mir in Amerika, so bin ich gesonnen, etwa 5 Jahre dort zu bleiben, wo nicht, kehr’ ich um und überlasse mein Eigentum der Gesellschaft zur Administration. Aber es wird mir hoffentlich gefallen. Der ungeheure Vorrat schöner Naturszenen ist in 5 Jahren kaum erschöpft, und meine lieben Freunde find‘ ich dann doch alle wieder. Ich brauche Amerika zu meiner Ausbildung. Dort will ich meine Phantasie in die Schule — die Urwälder — schicken. Mein Herz aber durch und durch in Schmerz mazerieren, in Sehnsucht nach den Geliebten. Künstlerische Ausbildung ist mein höchster Lebenszweck, alle Kräfte meines Geistes, das Glück meines Gemütes betracht‘ ich als Mittel dazu. Erinnerst Du Dich an das Gedicht von Chamisso, wo der Maler einen Jüngling an das Kreuz nagelt, um ein Bild vom Todesschmerze zu haben? Ich will mich selber ans Kreuz schlagen, wenn’s nur ein gutes Gedicht gibt. Und wer nicht alles andere gern in die Schanze schlägt, der Kunst zuliebe, der meint es nicht aufrichtig mit ihr. Schwab sagt in seinem sehr schönen Gedichte: ,Das Leben ist Sorg‘ und viel Arbeit4; ich möchte sagen: Die Kunst ist Sorge und viel Arbeit. Ganz unrecht hat Schiller, wenn er gegen-sätzelnd sagt: ,Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst4; ich sehe mehr Ernst in der Kunst als im Leben, wo alles vergeht, Lust und Schmerz, während in jener allein Bestand ist und Ewigkeit. In der Religion doch wohl auch, wirst Du meinen, aber ich glaube, Religion ist nichts als immanente Kunst, und Kunst ist nichts als transiente Religion, der reinste Kultus. Der sterbende Mensch schneidet zum Zeichen ihrer Freundschaft seinen eigenen Namen und den Namen Gottes in verschlungenen Hieroglyphenzügen in einen von den frischen grünen Bäumen des Sinnenlebens, durch welche seine Brüder lachend und weinend und eben auch sterbend dahin wandern. Ewigkeit ist freilich zu viel gesagt von der Kunst und ihren Werken; doch währt’s was länger mit jenen Namenszügen der göttlichen Freundschaft. Doch genug des Geplauders über unaussprechliche Dinge usw. —
Mit den Änderungen, die Du auf Anlaß meiner Bemerkungen an Deinen Gedichten getroffen, bin ich vollkommen einverstanden. Es wird eine herrliche Sammlung von Gedichten geben. Du sendest sie mir nach übers Meer, und ich werde sie den schönen, stillen, sinnenden Blumenbäumen Amerikas vorlesen. Deine lieben Worte werden wie schöne Vögel herumflattern im wundervollen Gezweige des Urwalds. Du, Uhland, Schwab, Kerner und alle Dichterfreunde von mir, jeder erhält seinen eignen Bezirk in meinem Waldgebiete und jeder dieser Bezirke wird eingeweiht mit dem schönsten Gedichte seines Patrons; und der ganze Wald wird von Sehnsucht ergriffen werden nach Euch, und er wird lange seufzen und seinen Vögeln sagen: ,zieht hin nach Europa und ruft mir die lieblichen Sänger herüber; und an einem Tage wird in Weinsberg und Tübingen und Stuttgart und Weiblingen ein seltsamer, schöner Vogel sich zeigen und an Eure Fenster klopfen und dringend rufen, daß Ihr kommen sollt dahin, wo die Freiheit blüht*.“
Noch überschwenglicher malt sich die freiheitsdurstige und urwaldtrunkene Seele des Dichters „Der Freiheit Paradies“ in dem Gedichte „Der Maskenball“, das kurz vor der Abreise entstand:
Seid willkommen mir, Matrosen!
Nehmt mich auf in eurem Schiffe!
Frisch hinaus ins Meerestosen
Durch die flutbeschäumten Riffe!
Ha! schon seh’ ich Möwen ziehn,
Wetterwolken seh’ ich jagen,
Und die Stürme hör‘ ich schlagen.
Süße Heimat, fahre hin!
Nach der Freiheit Paradiesen
Nehmen wir den raschen Zug,
Wo in heil’gen Waldverliesen
Kein Tyrann sich Throne schlug.
Weihend mich mit stillem Beten,
Will den Urwald ich betreten,
Wandeln will ich durch die Hallen,
Wo die Schauer Gottes wallen;
Wo in wunderbarer Pracht
Himmelwärts die Bäume dringen,
Brausend um die keusche Nacht
Ihre Riesenarme schlingen.
Wo Leuchtkäfer, Myriaden,
Um die Schlingeblumen fliegen,
Die sich an die Bäume schmiegen,
Auf des Blühens dunklen Pfaden
Leuchten sie in Duftgewinden —
Lehren sie den Wipfel finden —
Dort will ich für meinen Kummer
Finden den ersehnten Schlummer,
Will vom Schicksal Kunde werben,
Daß es mir mag anvertrauen
Warum Polen mußte sterben.
Und der Antwort will ich lauschen
In der Vögel Melodeien,
In des Raubtiers wildem Schreien
Und im Niagararauschen.
Hätten diese schönen Verse dem guten Kerner Vorgelegen, dann hätte er ihnen wohl dieselbe Nachschrift zugefügt, die er dem zuletzt angeführten Brief angedeihen ließ. Er schreibt nämlich:
„Bester Mayer!
Das ist alles, so dichterisch es klingt, rein dämonisch. Ich sah kürzlich seinen Dämon! es ist ein hääriger Kerl, mit einem langen Wickelschwanz usw.; der flüstert ihm von jenen Urwäldern so zu, der läßt ihm keine Ruhe! Um Gottes willen, Mayer! komm hierher und rette mit mir den lieben Niembsch aus dem Wickelschwanze dieses amerikanischen Gespenstes.
Dein Kerner“
Amerika ist kein Land für Ästheten und Träumer, es macht an die Tatkraft, an den sittlichen Charakter Ansprüche, denen der Schwächling unterliegen muß. Der Mann, der seine Phantasie in die Schule der Urwälder schicken wollte und in Amerika seine künstlerische Ausbildung suchte, der von der eigentlichen Aufgabe, die hier seiner wartete, keinen Begriff hatte, war nicht für die nüchterne Arbeit dieses Landes bestimmt. Vielleicht, daß dem aristokratischen Spaziergänger, der Ernst des Lebens, wie sein Ausspruch über Schiller bezeugt, niemals nahe getreten war. Als ob er das Zerstörungswerk, das sich durch ihn selbst in seinem Innern vollzog, ahne, schreibt er bald darauf an seinen Freund Mayer:
„Ich bin wieder in Stuttgart, bald auch in Weiblingen, doch dieser Brief gehe mir noch voran. Ich habe die Klage vernommen aus Deinen Briefen, die Klage Deines lieben freundlichen Herzens über meine Reise in die Fremde, übers Meer. Hätte ich einen so festen Glauben an die Fortdauer unserer Persönlichkeit, sieh, ich würde sagen: Bruder, wir sehen uns wieder, gewiß wieder! Aber ich habe diesen glücklichen Glauben nicht wie Du, und ich fühle die traurigen Ergebnisse meiner Philosophie gerade jetzt am bittersten, denn ich muß mir sagen: du gehst in die See, du vertraust dich den trügerischen Wellen, du überantwortest dein Herz, samt aller Liebe, die du für deine Freunde darin hast, den unsichtbaren Winden! Die Erinnerung an deine Freunde kann ein Windstoß verwehen auf ewig! Ja, Freund, das sag’ ich mir alles und denke recht schmerzlich lebhaft an Dich dabei; aber ich reise doch. Mich regiert eine Art Gravitation nach dem Unglücke. Schwab hat einmal von einem Wahnsinnigen sehr geistreich gesprochen. Man habe nämlich einen Wahnsinnigen heilen wollen, — ja richtig, Schwab selbst wollte dies, und ging also ganz leise und behutsam der fixen Idee des Narren auf den Leib. Der Verstand des Unglücklichen folgte ihm wirklich Schritt für Schritt durch alle Prämissen nach, und als er endlich am Conclusum stand und einsehen sollte das Unsinnige seiner Einbildung, da stutzte der Dämon des Narren plötzlich, merkend, daß man ihm ans Leben gehen wollte, und sprang trotzig ab, und es war aus mit allen Bemühungen, den Narren zu bekehren*. Dies sind die trefflichen Worte unseres Freundes. Ein Analogon von solchem Dämon glaub’ ich auch in mir zu beherbergen. Sozusagen einen Dämon des Unglücks. Merkt dieser Kerl je, daß mir ein schöner Stern aufgehen wolle, flugs wirft er mir seine rauhe Pelz- oder Narrenkappe über die Augen. Du wirst mich verstehen. “ Usw.
Der „Dämon“ sollte ihn auch diesmal nicht im Stiche lassen, die große Enttäuschung sollte kommen. Kaum daß er gelandet war, als ihn auch in der fremden Welt, die für so innerlich gerichtete, zartbesaitete Naturen wie Lenau kein Verständnis hat, die Sehnsucht nach der Heimat packte. Und welche Ernüchterung sollte an Stelle der überschwenglichen Träume treten! Selbst die heißersehnte Freiheit kann er hier nicht finden, wie der Eingang zu dem Gedichte „Der Urwald“ bezeugt:
Es ist ein Land voll träumerischem Trug,
Auf das die Freiheit im Vorüberflug
Bezaubernd ihren Schatten fallen läßt,
Und das ihn hält in tausend Bildern fest;
Wohin das Unglück flüchtet ferneher,
Und das Verbrechen zittert übers Meer;
Das Land, bei dessen lockendem Verheißen
Die Hoffnung oft vom Sterbelager sprang,
Und ihr Panier durch alle Stürme schwang,
Um es am fremden Strande zu zerreißen
Um dort den zwiefach bittern Tod zu haben;
Die Heimat hätte weicher sie begraben! —
Noch tieferen Einblick in die Stimmung, die den Dichter hier ergriff und die ihn zu noch härteren, ungerechteren Urteilen hinriß als in den Gedichten „Der Urwald“ und „Das Blockhaus“ gewähren die Briefe, die er während seines kurzen Aufenthaltes in Amerika schrieb. Denn auch Lenau sollte der Gefahr nicht entgehen, daß er, wie so mancher nach ihm, in grüner Unkenntnis über ein Land und Volk urteilte, das zu verstehen er sich absichtlich wehrte. So schreibt er:
„Amerika ist das wahre Land des Unterganges, der Westen der Menschheit. Das Atlantische Meer aber ist der isolierende Gürtel für den Geist und alles höhere Leben. — Die schlimmste Frucht der Übeln Verhältnisse in Deutschland ist nach meiner Überzeugung die Auswanderung nach Amerika. Da kommen die armen bedrängten Menschen herüber, und den letzten himmlischen Sparpfennig, den ihnen Gott ins Herz gelegt, werfen sie hin für ein Stück Brot. Anfangs dünkt ihnen das fremde Land unerträglich, und sie werden ergriffen von einem mächtigen Heimweh. Aber wie bald ist dies Heimweh verloren! Ich muß eilen, über Hals und Kopf, hinaus, hinaus, sonst verliere ich das meinige auch noch. Hier sind tückische Lüfte, schleichender Tod. In dem großen Nebelbade Amerikas werden der Liebe leise die Adern geöffnet, und sie verblutet sich unbemerkt. Ich weiß nicht, warum ich eine solche Sehnsucht nach Amerika hatte. Doch ich weiß. es. Johannes hat in der Wüste getauft. Mich zog es auch in die Wüste, und hier in meinem Innern ist auch etwas wie Taufe vorgefallen, vielleicht, daß ich davon genesen bin, mein künftiges Leben wird es mir sagen. In dieser großen langen Einsamkeit, ohne Freund, ohne Natur, ohne irgendeine Freude war ich darauf angewiesen, stille Einkehr zu halten in mich selber, um manchen heilsamen Entschluß zu fassen für meine ferneren Tage. Als Schule der Entbehrung ist Amerika wirklich sehr zu empfehlen. — Die Natur selbst ist kalt. Die Konformation der Berge, die Einbuchtung der Täler, alles ist gleichförmig und unphantastisch. Hat nun die Natur selbst kein Gemüt, keine Phantasie, so kann sie auch ihren Geschöpfen nichts dergleichen geben. Hier lebt der Mensch in einer sonderbaren kalten Heiterkeit, die ans Unheimliche streift. Daß hier Menschen und Tiere von Geschlecht zu Geschlecht weiter herabkommen, ist manchem Naturforscher bereits aufgefallen. Es ist buchstäblich wahr. Mancher der eingewanderten und nun seit mehreren Jahren hier ansässigen Deutschen versichert: ein sehr feuriges Temperament herübergebracht, es aber hier bis auf die letzte Spur einer Aufwallung verloren zu haben. Ich muß hinauseilen aus Amerika, sonst verlier’ ich noch mein Heimweh, wie es allen Deutschen nach einiger Zeit hier ergeht. Merkwürdig ist es, wie die heftigsten Gefühle hier so schnell erkalten. Die Liebe zum deutschen Vaterlande geht bei den weißen Eingewanderten sogar in Haß und Verleugnung über. Trauriger Boden!“ Usw.
Nicht einmal dem großartigen Naturwunder der Niagarafälle wußte der Dichter in solcher Gemütsverfassung poetisch gerecht zu werden. Daß der Eingewanderte dem jungen republikanischen Staatswesen, daß der deutsche Einwanderer seinen längst hier angesiedelten, durch rastlose Kulturarbeit glänzend bewährten Landsleuten, ja daß schließlich auch der hochbegabte Dichter als Erhalter und Förderer der Muttersprache, als geistiger Führer seiner Volksgenossen die Betätigung höchster Kraft schulde, davon hat Lenau nicht einmal eine Ahnung empfunden.
Um die Zeit als unser Dichter bitter enttäuscht aus Amerika zurückkehrte, war der zweite Teil von Goethes Faust erschienen. Wenige der Zeitgenossen konnten sich mit dem Inhalt des sonderbaren Werkes befreunden. An den Zeitverhältnissen verzweifelnd, befangen Vom Geiste Hegelscher Spekulation oder dem Weltschmerz und der Skepsis Heines ergeben, hielten Viele für absurd oder trivial, was Goethe hier als der Weisheit letzten Schluß pries. Und doch umschloß dieser Preis einer unermüdlichen, dem Dienste der Mitmenschen gewidmeten sittlichen Tätigkeit die Summe eines reichen Lebens, die Summe der gewaltigen Geistesarbeit, die in der Geniezeit ihren Anfang genommen hatte. Wie außer ihm vielleicht nur noch Schiller, hatte Goethe die große Geniebewegung ganz in sich erlebt, hatte ihren Überschwang mitgemacht und, wie sein Tasso und hundert seiner Äußerungen bezeugen, auch ihre Leiden und Gefahren durchkostet, die schwächere Naturen, wie Lenz und Hölderlin und später einen Lenau, zur Selbstvernichtung führten. Aber zur rechten Zeit war er von der gefährlichen Höhe zurückgekehrt und hatte in seinem Leben wie in seinem gemeinsamen Streben mit Schiller Zeugnis davon abgelegt, daß im Genie die ursprüngliche und doch gesteigerte Menschenkraft zum Ausdruck komme, die im sittlichen Tun ihr höchstes Genüge finde oder, wie Schiller es ausdrückt, in der
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
Wie die glänzende Vision einer herrlichen Zukunft erscheint es dem sterbenden Faust, daß nur auf „freiem Grund mit freiem Volk“ die Erfüllung seines höchsten Ideals möglich sei:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Wäre es nicht möglich, daß sich dem greisen Dichter, als er dies schrieb, die aufblühende Republik jenseits des Meeres unbewußt vor die schauende Seele drängte? Wir wissen aus „Wahrheit und Dichtung“, wie ihm in den Tagen der Geniezeit seine Braut Lili den Gedanken der Auswanderung nach Amerika nahelegte. „Amerika“, sagt Goethe an dieser Stelle, „war damals vielleicht noch mehr als jetzt, das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.“ Und wenn Klinger den Schauplatz seines Dramas „Sturm und Drang“ nach der Neuen Welt verlegte, dann zeigt dies noch deutlich, wie man sich in Goethes genialen Kreisen mit dieser Welt beschäftigte. In welcher Richtung des Dichters Gedanken später in Amerika weilten, dafür haben wir verschiedene Zeugnisse. Vor allem die viel zitierten Verse:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Du hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte,
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück! Usw.
Es bedürfte längerer Ausführung, um zu zeigen, wie der Dichter in diesen Worten Amerika als die Stätte preist, die es mit ihrer jungen, von allem Wüste der Überlieferung freien Kultur ermöglicht, das zu verwirklichen, was dem Dichter aus einem langen Leben als höchste Weisheit aufgegangen war: der Gegenwart nach dem Maße unserer höchsten Kraft treu zu leben. So hat er es denn auch, wie bekannt, in den „Wanderjahren“ versucht, seine sozialen und pädagogischen Ideen in einer von Auswanderern in der Neuen Welt gegründeten Kolonie als verwirklicht darzustellen. Daß sich diese Auswanderer gern nach Amerika wenden, geht wohl auch aus dem Briefe an Voigt vom 19. Juni 1818 hervor, worin Goethe, mit der Ausarbeitung der „Wanderjahre“ und mit dem Faust beschäftigt, schreibt, daß er sich in einer Fülle von Schriften und Werken über den Zustand der Vereinigten Staaten befinde; es sei der Mühe wert, in solch eine wachsende Welt hineinzusehen.
Bleibe nicht am Boden haften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jeder Sorge los,
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.
Wie sticht die gesunde Gesinnung dieses Goethischen Auswandererliedes von den krankhaften Heimwehklagen Lenaus ab! Wie aufmerksam der Dichter sich aber bis in seine letzten Jahre mit Amerika beschäftigte, läßt sich aus der wahrhaft prophetischen Stelle über den Panamakanal in Eckermanns Gesprächen (21. Februar 1827) schließen. Und daß er auch die Kolonisationsbestrebungen seiner Landsleute in Amerika verfolgte, das mag schließlich noch der Aufsatz „Stoff und Gehalt, zur Bearbeitung vorgeschlagen“ bezeugen, wo er kommenden Dichtern u. a. Stoffen das Werk: „Ludwig Galls Auswanderung nach den Vereinigten Staaten“ zur epischen Behandlung empfiehlt, da „weder ein epischer noch dramatischer Dichter je einen solchen Reichtum vor sich gesehen“.
Was Stürmer und Dränger, durch den amerikanischen Freiheitskampf angeregt, von Amerika als dem Lande eines neuen Menschenideals sehnsüchtig geträumt, was Lenau vergebens hier gesucht, das sollte im Gedankenleben unseres größten Dichters bei seinem Lebensschluß als letztes Vermächtnis an seine Nation wiederkehren: das freie Volk auf freiem Grund, seine höchste Menschenkraft in rastloser Kulturarbeit betätigend. Hätte Amerika wohl gewaltiger und nachhaltiger auf das deutsche Geistesleben einwirken können?*)
*) Ich habe versucht, dieser Einwirkung bis auf Goethe nachzugehen. Mit den dreißiger Jahren und besonders mit dem Jahre 1848 beginnt eine neue Periode des Einflusses, die wohl auch einmal dargestellt werden sollte. Im Anschluß an die Tätigkeit Sealsfields wären denn wohl auch die Schöpfungen deutsch-amerikanischer Dichter zu beachten die der deutschen Literatur doch auch gewissermaßen angehören und nicht ganz so unbedeutend sind, wie man vielleicht in Deutschland wähnt.
Die wir mitten im flutenden Leben jener Arbeit stehen, wissen freilich auch nur zu sehr, wie leicht dies Leben in seelenlosem, verderbenbringendem Materialismus aufgeht. Aber wir wissen auch, daß uns vor solcher Versumpfung allein der Idealismus deutscher Geistesbildung retten kann. Und so kämpfen wir, so lange uns dies Bewußtsein nicht geschwunden ist, für das köstlichste Erbe, das der Deutsche der Neuen Welt zugebracht hat: für deutsche Wissenschaft und vor allem für ein lebendiges Studium deutscher Sprache und Dichtung in Amerika.
Text aus dem Buch: Der Kampf um deutsche Kultur in Amerika : aufsätze und vorträge zur deutsch-amerikanischen Bewegung, Verfasser: Goebel, Julius.
Siehe auch:
Die deutsche Bewegung in Amerika. Rückblicke und Aussichten.
Zur deutschen Frage in Amerika.
Zur Geschichte der Scheltnamen Dutchman und Dutch.
Warum protestieren wir Deutsch-Amerikaner gegen den Imperialismus?