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Mythologie der Germanen – Das Christentum in der nordischen Mythologie

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aus dem Kunstmuseum Hamburg

Der germanische Mythenbau steht jetzt vor uns, freilich durch weit klaffende Lücken entstellt, aus verschiedenartigem, bald nordischem, bald deutschem Gestein zusammengesetzt und in den Stilen verschiedener Zeiten und Stände aufgeführt.

So lückenhaft ist die heimische heidnische Überlieferung, daß man sagen darf, sie beginne erst in dem Zeitpunkte, wo das germanische Heidentum zu bestehen aufhört. Nur landfremde Römer und glaubensfremde Mönche wissen schon früher davon zu berichten. Die heimische Überlieferung aber zerfällt in zwei große Hauptmassen, eine überwiegend skaldische nordische und eine überwiegend volkstümliche gemeingermanische. Darin spiegelt sich der scharfe Gegensatz der Stände wieder, der die germanische Staatsverfassung und Gesellschaft beherrscht. Es gab eine Bauernmythologie und eine Adelsmythologie.

Beiden zugrunde aber liegt dieselbe Entwicklung: aus den ältesten niederen Formen des Seelen-, Alp– und Dämonenglaubens erheben sich nach und nach höhere Gestalten, und Götter bilden den krönenden Abschluß. Aber die übermenschlichen Wesen des Bauernglaubens wahren sich fast alle noch den Zusammenhang mit den Naturkräften, selbst die Götter, und behaupten sich gerade dadurch sogar gegenüber dem Andrang der geistigeren Mächte des Christentums lange, lange Zeit. Der Glaube der großen Masse war in seinem Mythus, wie Kultus vorzugsweise Naturreligion, die aber schon seit unvordenklicher Zeit sich zu festumrissenen und menschlich gearteten Gestalten erhoben hatte. Dagegen huldigte der gottentstammte Adel vorzugsweise den Göttern einer geistigeren Art, wie sie namentlich die Priester und die Hofsänger veredelten. Zu dem schlichten, oft derben, aber durchweg keuschen, sinnigen und oft poetischen Bauemgeist gesellte sich ein kriegerischer, kühner, höher strebender Heldensinn, von dem wir die schönsten Proben in manchen aus der Wikingerzeit hervorgewachsenen Eddaliedern haben. So begann allmählich eine Geistesreligion sich zu entwickeln. Aber erst im Werden begriffen, erwies sie sich beim Zusammenstoß mit dem Christentum viel haltloser und erlag diesem weit schneller als jener alte robuste Volksglaube. Ihre höchste Leistung war, doch wohl nur im Norden, die Herstellung einer durch Verwandtschaft und Schicksal leidlich fest verbundenen Götterordnung, in der jeder Gott sein Amt hatte, vom König herab bis zum Hofdichter und zur Kammerfrau. Aber die Vorstellungen vom Jenseits schwankten beim Volk, wie bei den Großen hin und her und waren durchweg sinnlicher Natur, ja das Familienleben wurde in Walhall zugunsten des Kampf- und Freudelebens mit den Walküren unterdrückt. Noch viel imgenügender wurden die noch ferner liegenden Fragen nach dem Anfang, dem Verlauf und dem allerletzten Ende der Dinge und der Menschheit beantwortet. Es fehlte die Weisheit einer hochgebildeten, sinnenden Priesterschaft, sowie die anregende Fülle einer städtischen Kultur. Man brachte es zu vielen einzelnen runden Personenmythen und bildete daraus hie und da Mythengruppen. Aber man hatte nicht das Zeug zur Schaffung eines zusammenhängenden, wohlgegliederten Weltmythus.

Mit dieser aus den Quellen geschöpften Charakteristik unserer Mythologie steht in schroffem Widerspruch die Völuspa, die Weissagung der Seherin, das großartigste und meistumstrittene Gedicht der Liederedda, das, obgleich absichtlich dunkel gehalten und in Einzelheiten ungedeutet, seine Hauptgedanken und seine ganze Grundidee vollkommen verständlich vorträgt. Es behandelt in einem vornehmen Überblick das denkbar erhabenste Thema, die Geschichte der Welt von ihrem äußersten Anfang bis zu ihrem äußersten Ende, ja darüber hinaus bis zu ihrer Erneuerung. Woher dieser kühne Ideenwurf, diese tiefgründige Weisheit? Konnte solche Raum und Zeit gewaltig umspannende Spekulation, deren Ausgestaltung eine vielhundertjährige Vorarbeit voraussetzt, wie eine Offenbarung aus der soeben gezeichneten zerstückelten, doch noch so unreifen germanischen Mythenwelt plötzlich hervorbrechen? Solche Wunder trugen sich in der nationalen Entwicklung der heidnischen Mythologie nicht zu. Es muß eine fremde Macht eingegriffen haben, die diese weiten Sprünge ermöglichte, die eine neue ganz andersartige Gedankenwelt in den alten Mythus einließ.

Die Heimat jener religiösen Spekulationen über den Anfang und das Ende der Dinge und ihren tieferen Sinn war das Morgenland; die Kirche stellte in all diese Weltbegebenheiten mitten hinein Christus, seinen Vergangenheit und Zukunft versöhnenden Kreuzestod. Seit dem Anfang des 3. Jahrhunderts faßten die christlichen Weltgeschichten die Schöpfung, die Erlösung, die Wiederkunft Christi, das tausendjährige Reich und das Ende der Welt als die Hauptpunkte des göttlichen Heilsplans auf. In vielerlei Formen wurde diese Lehre in den letzten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends im Norden bekannt, die einfachste, beliebteste Form war die sogenannte Summe der Theologie, eine Predigt, die in volkstümlicher Weise jene ganze große Heilsgeschichte den Gemeinden öfters in Erinnerung brachte. So stieß sie auch auf das nordische Skaldentum.

In der Völuspa rinnen nun wie in einem Becken die beiden maßgebenden geistigen Strömungen des Nordens in der Zeit der inneren Abkehr vom Heidentum zum Christentum zusammen. Ihr Verfasser steht zwischen einer neuen Glaubenslehre und einer alten technischen Schulung. Jene führte ihm großartige, aber fremde Begriffe in Hülle und Fülle zu, diese nötigte ihn, nach Skaldenart die Begriffe, auch die fremdesten, durch die altgewohnten mythologischen Wendungen und Namen zu umschreiben.

Nicht nur christliche Einzelheiten, sondern auch ganze Gedichte christlichen Inhalts wurden in heidnischen Stil gekleidet. Ähnliches geschah auch in Südeuropa. So stückte die Dichterin Proba Faltonia im 4. Jahrhundert ihre lateinische Darstellung der wichtigsten Ereignisse des alten Testaments von der Schöpfung bis zur Sintflut und des neuen Testaments bis zur Himmelfahrt aus lauter virgilianischen Versen und Verstehen zusammen. So sklavisch beugte sie sich vor dem heidnischen Stilmuster, daß sie bei ihrer Schilderung der Kreuzigung nicht einmal das Wort „Kreuz“ zu brauchen wagte.

Die nordischen Künstler und Dichter hielten gleichfalls an ihren alten Figuren fest. Auf einem echt christlichen Denkmal, dem zweiten cumberländischen Gosforthkreuz, angelt der Gott Thor in des Riesen mir Gesellschaft aus dem Schiff heraus nach dem Midgardswurm. Der Künstler wollte mit Thor bereits Christus bezeichnen, wie dieser nach mittelalterlicher Anschauung mit dem Angelhaken des Kreuzes den Drachen oder Leviathan oder Teufel fängt. Daher wurde diese echt heidnische Szene auf dem heiligsten christlichen Symbol, dem Kreuz, angebracht. Wiederum heißt Christus in einem nordischen ihm gewidmeten Preisliede des 10. Jahrhunderts der Besieger der Bergriesen und hat am Nornenbrunnen seinen Sitz. Um dieselbe Zeit verherrlichten zwei Dichter den Einzug der christlichen Könige Erich Blutaxt und Hakon des Guten in das Heidenparadies der Walhall, wo jener von den Göttern Odin und Bragi, dieser von den Walküren festlich empfangen wird. Solche innere Widersprüche kümmerten die Skalden nicht; sie standen im zwingenden Banne ihrer von Geschlecht auf Geschlecht vererbten poetischen Stilistik und nordischen Anschauungsweise. Auch fremde Stoffe rein weltlichen Inhalts mußten sich dieser skaldischen Umstilisierung unterwerfen, wie z. B. die deutsche Nibelungensage. Nicht nur werden ihr nordische Helden, wie Helgi, einverleibt, nicht nur wird das milde Rheinland, der alte Schauplatz, in eine Landschaft wilder Eis- und Schneeberge verwandelt, über die Brunhild jeden Abend voll böser Gedanken dahinschreitet, sondern es wird auch durch eine eigens hinzuerfundene Vorgeschichte des Nibelungenschatzes das Geschlecht Siegfrieds mit dem nordischen Göttermythus verknüpft und Odin zum Lenker des Schicksals des Helden erhöben.

So haben sich die nordischen Dichter den größten germanischen Sagenstoff zu eigen gemacht, zu ewigem Ruhme; so desgleichen das höchste Erzeugnis der christlichen Weltanschauung, die Heilslehre. Schon Primin verkündigte sie den Alemannen am Bodensee, und Karl der Große ließ sie in eine Musterpredigt verarbeiten, in eine Summa der Theologie, die die Geistlichen seines Reichs den Gemeinden von Zeit zu Zeit einzuprägen hatten, damit jeder Christenmensch erführe, was ihm zu wissen notwendig sei. Auch die Dichter des Abendlands bemächtigten sich des eindrucksvollen Stoffes. In den Hauptpunkten Übereinstimmend, drangen diese prosaischen und poetischen Summen mit ihren vielerlei Änderungen und Erweiterungen der biblischen Überlieferung in den Norden vor und ließen namentlich, wenn wieder einmal die Furcht vor dem Untergang der Welt die Gemüter ergriff, zum Schlüsse die gewaltigen Klänge der Offenbarung des Johannes erdröhnen.

Die Summa begann mit der sechstägigen Schöpfung dürch die ewige Dreieinigkeit, die sich bei ihrem letzten und würdigsten Werke, der Erschaffung des ersten Menschenpaars, besonders macht- und liebevoll erwies. Ihm wird das Paradies mit seinem verhängnisvollen Baume zur Wohnung angewiesen. Es begibt sich der Sündenfall, dessen Hauptschuld der Eva zugemessen wird, dessen eigentlicher Urheber aber der erfolglos nach Gottgleichheit trachtende rachsüchtige Fürst der aufrührerischen und deshalb gestürzten Engel ist. Die von Eva auf die Erde gebrachte Sünde fordert Strafgerichte heraus, so die Zerstörung des frevelhaften babylonischen Turmbaues und die Verwirrung der Sprachen. Endlich erscheint der Herr, der auch das Pfand Gottes heißt, am Kreuz; aus seiner Seitenwunde vergießt er das sühnende Wasser und das erlösende Blut. Er fährt zur Hölle, ersteht auf und schwebt gen Himmel. Das jüngste Gericht kündet sich durch mancherlei Vorzeichen an, das erste und eigenartigste ist das Erscheinen des größten Bösewichts, des Antichrists. Dann folgen Sünde und Krieg der Menschen. Die ganze Welt gerät in Aufruhr, fünf Dämonen stürmen gegen die Himmelsmächte an, auch die Heidengötter gehen zu gründe. Finsternis bricht herein, in Flammen steht die Welt. Da sieht der Prophet einen neuen Himmel und eine neue Erde auftauchen. Ein neues glückliches Leben beginnt, das neue Jerusalem erglänzt von Gold und Edelstein heller als die Sonne. Der Allmächtige kommt zum großen Gericht.

Und nun folge sofort das in der Völuspa auf gefangene Spiegelbild: Das Gedicht beginnt nach einer zweistrophigen Einleitung mit der sechsaktigen Schöpfung, deren letztes Werk, die Erschaffung des ersten Menschenpaars, von drei Göttern, mächtigen und liebevollen, vollzogen wird. Dann erhebt sich ein Schicksalsbaum vor uns; ein Weib, das sich vergangen hat, wird aus dem Himmel verstoßen und bringt bösen Zauber auf die Erde hinab. Ihr Vergehen hängt zusammen mit dem Krieg, den die Wanen, weil sie göttergleich sein wollten, gegen die Götter führten. Ein großer Bau, den ein frevelhafter Riese aufführt, wird hier nur rätselhaft angedeutet, ist uns aber sonst bekannt. Thor fährt dazwischen, und alle Verträge und Reden gehen auseinander. Dann steigt ein heiliger Baum auf mit dem Pfände Walvaters, von dem sich Wasser in einem Falle ergießt, und der blutige Balder wird nach einigen dunklen Strophen sichtbar. Hölle und Paradies werden mit heidnisch-christlichen Farben geschildert. Das Kommen des Weltuntergangs eröffnet die Erscheinung des größten Bösewichts, der später Surtr heißt. Sünde und Krieg der Menschen; die ganze Welt gerät in Aufruhr, fünf Dämonen stürmen gegen die Götter. Diese fallen. Sonnenfinsternis, Untergang und Brand der Welt. Da sieht die Prophetin eine neue Erde aus dem Meere tauchen. Ein neues glückliches Leben beginnt. Schöner als die Sonne erglänzt das goldgedeckte Edelsteinhaus, und der Allmächtige kommt zum großen Gericht. Der noch einmal aufsteigende Drache versinkt auf alle Zeit.

So überraschend diese Gleichung auch wirken mag, überzeugen wird sie erst, wenn man ihre einzelnen Glieder prüft und das eigentümliche Umbildungsverfahren erkennt, dem der skaldische Dichter seine christliche Vorlage unterzogen hat. Er kleidet zunächst das Ganze in die Form der Weissagung einer Wölva oder Seherin:

1.
Um Gehör bitte ich alle heiligen Menschenkinder,
Hohe und niedere Söhne Heimdalls.
Du willst, daß ich, Walvater, genau erzähle
Die alten Geschichten der Menschen, d
eren ich von Anfang gedenke.

2.
Ich gedenke der Riesen, der früh geborenen,
Die einst mich erzeugt hatten,
Ich gedenke der neun Heime,
der neun Binnenwohnungen,
Des herrlichen Maßbaums bis hinab unter die Erde.

Was ist hier aus der meist armseligen nordischen Wölwa geworden, die zur Julzeit bei den Bauern von Hof zu Hof umherzog, um ihnen gegen Lohn die Witterung und den Ausfall der nächsten Ernte, Familienereignisse und etwa noch Krieg oder Frieden vorauszusagen? Unsere Wölwa wendet sich an das ganze Menschengeschlecht als Vollstreckerin des Willens Gottes, demgemäß sie die alten Geschichten der Menschen von Uranfang erzählen soll. Sie ist eine Urriesin und kennt alle Räume der Welt bis ins Innerste der Erde. Solch ein gewaltiges Seherweib ist nur einmal geschaffen worden, im alexandrinischen Judentum, das neben Gott die schöpferische Weisheit oder Sapientia als ein himmlisches Geistes wesen, ein allwissendes Weib, kühn einsetzte. Sie wurde dem ganzen Abendlande bekannt durch die hellenistischen Schriften des alten Testaments: die Sprüche Salomonis, das Buch der Weisheit und Jesus Sirach. Ihre hochheilige Natur übertrug der Dichter der Völuspa
auf das dürftige Zauberweib seiner Heimat. Denn alle die großartigen Züge unsrer Wölwa sind bereits in der Sapien-tia vorgebildet. Diese ruft: „Höret mich, ihr Menschensöhne. Der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang der Erde“. Sie ist die Gehilfin Gottes, die seinen Willen ausführt, sie kennt die Gedanken der Menschen und den Anfang der Zeiten. Ja sie lebte mit den „Giganten“ zusammen, die „von Anfang bestanden“. Sie kennt die Ordnung des Erdkreises und mißt die Höhe des Himmels, die Breite der Erde und die Tiefe des Abgrunds. Das meint auch unsre Wölwa mit ihren neun Heimen und Binnenwohnungen und dem herrlichen Maßbaum. Nach christlicher Anschauung nahm man 9 Himmel für die 9 Engelchöre an und dem entsprechend 9 Höllenwelten, und wiederholt wird das Kreuz der herrliche Baum und das Maß genannt, und als ein kosmischer Baum aufgefaßt, dessen Wipfel zu den Himmeln strebe, dessen Zweige sich über die ganze Erde ausbreiten und dessen Wurzel unter der Erde bis in die Hölle hinabdringe.

Nun folgt die Schöpfung:

3.
Der Beginn war’s der Zeiten, in dem Ymir wohnte,
Nicht war Sand, noch See, noch kühle Wogen,
Erde gab es nicht, noch Himmel oben:
Ein Abgrund war der Abgründe, aber Gras nirgend.

4.
Zuvor erhoben Scheiben Bors Söhne,
Die (dann) den herrlichen Midgard schufen.
Die Sonne schien von Süden auf des Saals Steine:
Da ward der Grund begrünt von grünem Kraute.

5.
Die Sonne schlang von Süden her,
die Gefährtin des Mondes,
Ihre rechte Hand um den Himmelsrand.
Die Sonne wußte nicht, wo sie Wohnungen hätte,
Der Mond wußte nicht, was für Kraft er hätte.
Die Sterne wußten nicht, wo sie ihre Stellen hätten.

6.
Da gingen alle Berater auf die Gerichtsstühle,
Die hochheiligen Götter, und berieten darüber.
Der Nacht und dem Neumond gaben sie Namen,
Benannten den Morgen und Mittag,
Nachmittag und Abend, die Jahre darnach zu zählen.

7.
Die Äsen trafen sich auf dem Idafelde,
Die Altar und Tempel hoch aufbauten.
Sie legten Essen an, schmiedeten Gold,
Schufen Zangen und fertigten Geräte.

8.
Sie spielten Brett im Garten und waren heiter,
— Es war ihnen kein Mangel an Gold —
Bis drei Riesenmädchen kamen,
Sehr übermächtige, aus Riesenheim.

9.
Es gingen alle Berater auf die Gerichtsstühle,
Die hochheiligen Götter, und berieten darüber,
Wer von den Zwergen das Volk schaffen solle
Aus Brimirs Blut und aus Blaens Gebeinen.

10.
Da war Mótsogner der ausgezeichnetste
Aller Zwerge, aber Durenn der andre;
Die Zwerge machten viele Menschenkörper
In der Erde, wie Durenn sagte.

11—16 geben eine Zwergnamenliste.

17.
Bis drei kamen aus diesem Geschlechte
Mächtige und gütige Äsen nach Hause;
Sie fanden am Lande die wenig vermögenden,
Schicksalslosen Ask und Embla.

18.
Atem hatten sie nicht, noch Geist,
Noch Blut, noch Gebärde, noch gute Farben;
Atem gab Odin, Geist gab Hoener,
Blut gab Lothor und gute Farben.

Niemand wird auf den ersten Blick in diesem rätselhaften, seltsamen Berichte ein Abbild der biblischen Schöpfungsgeschichte, der Genesis, erkennen, höchstens eine gleiche Anzahl und eine gleichartige Reihenfolge ihrer Hauptakte von der uranfänglichen Leere bis zur Erschaffung des ersten Menschenpaars unsicher durchschimmern sehen. Erst wer die skaldische Formengebung, in welche die Vorgänge eingehüllt sind, abgestreift hat und vieler anderer mittelalterlichen Fassungen des Schöpfungsberichtes, welche Züge der weitbekannten platonischen Schöpfungslehre auf genommen hatten und von der biblischen Genesis mehr oder minder abwichen, eingedenk ist, wird unter dem heidnischen Schein das alttestamentliche Urbild wiederfinden.

Die wüste, leere Erde und den mit Finsternis bedeckten Abgrund des Anfangs übersetzt unser Dichter ganz verständlich durch die Worte:

„Nicht war Sand, noch See, noch kühle Wogen, noch war Erde, es war ein Abgrund der Abgründe, ein Gap Ginnunga“.

Und diesem erhabenen Bilde fügt er den fast kleinlichen Zug ein: „aber Gras war nirgend“, gerade so wie der christliche Dichter der angelsächsischen Genesis zu derselben Bibelstelle hinzufügt: „die Erde war da noch von Gras ungrün“, was heißen soll: „Erde war noch nicht und Gras grünte nicht“. So weit steht also die Völuspaschilderung ganz im Banne der christlichen Genesisdarstellung.

Aber Ymer? Trotz seinem heidnischen Riesennamen, der vielleicht den Rauscher bedeutet, ist auch er aus dem Genesistexte der biblischen Vulgata hervorgewachsen. Sie spricht nämlich nicht kurzweg vom Abgrund oder Abyssus, sondern von einer Facies, einem Antlitz, des Abgrunds, woraus man schon im frühen Mittelalter einen Riesenkopf machte. Diese Personifizierung war so beliebt, daß Karl der Große in den sogen. Karolinischen Büchern, die von der Bilderverehrung handeln, als schriftwidrig verbot, den uranfänglichen Abgrund in menschlicher Figur darzustellen. Aber sein Verbot drang nicht durch. Noch im 11. und 12. Jahrhundert wird der Abyssus des zweiten Genesisverses auf einer Elfenbeintafel im Berliner Museum, auf einer Illustration der französisch-lateinischen Bibel von Noailles und auf einer Mosaik von Monreale als ein Riesenkopf dargestellt, der einen Wellenberg durchbricht. Der nordische Urriese der Völuspa ist also doch auch nur ein Auswuchs der Genesisauslegung.

Auch fast alles, was wir aus anderen Stellen der Liederedda und aus der Prosaedda von diesem Urriesen erfahren, stammt nicht aus dem heimischen Mythus, sonders aus der Lehre der mittelalterlichen Theologie von der Urmaterie. Den Abgrund erklärten viele Theologen für das häßliche Bild der formlosen Materie, die der schaffende Gott schon im Anfang vorgefunden habe. Dagegen setzten andre in den Anfang das Nichts. Der oft heftige Widerstreit dieser Lehrmeinungen bewog Snorre, im Sinne der strengeren Orthodoxie den Vers der Völuspa:

Der Beginn war’s der Zeiten,

da Ymir wohnte zu verwandeln in:

Der Beginn war’s der Zeiten, da Nichts war.

Der ganze Roman von Ymirs Geburt, Leben und Tod verdankt seine Herkunft der abendländischen Philosophie. Nach Snorre strömten zwölf Flüsse, die , bevor die Erde geschaffen war, aus dem kalten nördlichen Niflheim dem Nebelheim, in dessen Mitte der Brunnen Hvergelmir, der Rauschekessel, lag. Sie erstarrten in ihrem Laufe zu Eis, das immer höher im Ginnungagap übereinander wuchs, worin nun Feuchtigkeit und Wind entstand. Aus dem südlichen lichten und heißen dem Feuerheim, flogen Funken herüber, sodaß das Ginnungagap lau und windlos wurde. Der Hauch der Hitze brachte das Eis zum Tröpfeln, und die Kraft des Hitzesenders belebte die Tropfen zum ersten Wesen von Menschengestalt. Das hieß Ymir, aber bei den Reif riesen , das rauschende Naß, oder Örgelmir, der gewaltige Rauscher. — Diese Kosmogonie fröstelt einen echt nordisch an, aber auch sie ist fremd und entstammt dem Timaeus Platos, der in der lateinischen Übersetzung und Erläuterung des Chalddius schon seit dem frühen Mittelalter eifrig gelesen wurde. Nach Platos Theorie, die weithin das Mittelalter beherrschte, erstarrt ein die vier Elemente wild vermengender Strom zwischen dem kalten, feuchten Erdelemente und dem heißen, trocknen Feuer zu Eis. Nach der Erdseite hin bildet sich zwischen Kälte und Hitze das kalte, aber feuchte Wasser, nach der Feuerseite hin die warme, feuchte Luft. Der formlose Urstoff wird also jetzt zuerst zur Form, und zwar durch die „Kraft des Schöpfers“, die Virtus des Opifex. Also auch hier eine zwischen Kälte und Hitze vereisende Strömung, ein Entstehen der zwei jüngeren Elemente Wasser und Luft aus dem Zusammenstoß zweier älterer; auch hier eine Verwandlung des Formlosen in eine Form, auch hier ein unmittelbares Eingreifen einer höheren Macht, um dies zu bewirken. Nur dadurch unterscheidet sich Snorre von Plato, daß er dieser geformten Materie einen Personennamen gibt und zwar denselben, den die Völuspa der von ihm als das Nichts bezeichneten formlosen Materie gab, nämlich Ymir.

Aus dem tropfenden Reif entstand auch eine Kuh Audhumla, die mit der Milch ihres Euters Ymir, sich selber aber durch das Ablecken salziger Eisblöcke nährte. Infolgedessen trat der Körper eines Mannes nach und nach daraus hervor, des mächtigen, schönen , der (ohne Weib) einen Sohn Borr zeugte, der „Erzeuger“ den „Erzeugten“. Dem Borr schenkte die Riesentochter Bestla die drei Söhne Odin, Vili und Vé. Die nährende, leckende Riesenkuh mag noch ein altes Bild der die Gletscher umlagernden Wolke sein, die unten Leben schafft; der Erzeuger aber und der Erzeugte entsprechen dem Genitor und dem Genitus der Christologie, sowie Odin, Vili und Vé d. i. Gott, Wille und Heilig der mittelalterlichen Trinitätslehre, wonach die drei Personen u. a. auch als Gott, Wille (Voluntas) und heiliger Geist bezeichnet wurden.

Wie Audhumla nach Snorre die Ahnfrau der Götter und die Amme Ymirs ist, so ist nach den Vafthrudnismal Ymir oder Aurgelmir der Vater des sechshäuptigen Riesen Thrüdgelmir, den sein einer Fuß mit dem andern erzeugte, während unter seinem Arme ein Mann und ein Weib hervorwuchsen. Dies scheint ein verzerrtes Abbild des Urriesen der durch Irenäus im Abendland bekannt gewordenen fantastischen Ophitenlehre, der aus sich heraus sechs Söhne, die sechs Haupttugenden, hervorbringt und Adam sowohl als auch Eva das Leben schenkt.

Und um die Gelmirgenealogie hier verabschieden zu können, sei noch bemerkt, daß der Sohn Thrudgelmirs Bergehnir ist, der in den Vafthrudnismal bei der Sintflut in einen Kasten gelegt, nach Snorre diesen aber mit Weib und Kind besteigt und dadurch gerettet wird. Wer kann darin Noah verkennen, der ja auch zu dem Riesengeschlechte gehört? Fast möchte man in Bergelmir einen Berggelmir vermuten, so genannt, weil er auf dem Berge Ararat landete.

In dieser Erzählung ist die Sintflut aus dem Blute Ymirs, den die Götter erschlagen haben, entstanden. Nach einer andern zerstückeln die Götter den Urriesen und bilden aus seinem Fleisch die Erde, aus seinen Knochen das Gebirge, aus seinem Schädel den Himmel, aus seinem Schweiß die See, aus seinem Haare den Baum, aus seinen Brauen den Midgard und aus seinem Gehirn die Wolken. Ähnliche Listen von Vergleichungen des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos, des Menschen mit der Welt, haben allerdings auch weit entfernte Völker auf gestellt, aber genau übereinstimmende finden wir doch nur in den kirchlichen Schriften des Mittelalters. Selbst deren auffällige Vergleichung der Wolken mit den Gedanken kehrt hier in den aus dem Hirn, dem Sitz der Gedanken, geschaffenen Wolken wieder.

Wie sehr diese ganze Vorgeschichte der Schöpfung, auch wo sie von der Genesis weit abweicht, von Gedanken und Motiven der christlichen Theologie durchsetzt ist, zeigt zum Schlüsse noch der folgende kleine Zug. Snorre wirft bei seiner Ymircharakteristik plötzlich die höchst überraschende Frage auf: „War Ymir ein Gott?“ und bekommt die Antwort:

„Wir halten ihn durchaus nicht für einen Gott, denn er war böse, wie alle seine Nachkommen.“

Diese ernste ethische Frage hatte dem volkstümlichen Riesentum gegenüber keinen Sinn, aber sie versetzt uns plötzlich wiederum mitten in die christliche Gedankenwelt. Denn seit Plato bis auf den heutigen Tag war man geneigt, in der Urmaterie, die doch Ymir vertritt, das Grundböse zu erkennen.

Kehren wir zur Völuspa zurück! Den eigentlichsten ersten Schöpfungsakt der biblischen Genesis, die Scheidung des Lichts von der Finsternis, überging unser Dichter, vielleicht mit dem stillen Einwande, daß das Licht doch erst möglich gewesen, nachdem die Sonne geschaffen worden sei. Darum ließen auch manche christliche Genesisdichter die Lichtschöpfung weg.

Die nächsten drei Schöpfungsakte, den zweiten, dritten und vierten, vollzieht die Gottheit nach den Strophen vier bis sechs der Völuspa genau in der biblischen Reihenfolge: Himmel, Erde und Gestirne. Die Götter erheben die Himmel, schaffen die Erde und bestimmen nach einer Beratung den Gestirnen ihre Bahnen und Zeiten. Der Dichter schließt sich bald mehr an den Genesistext an, bald mehr an dessen theologische Erklärung. So drückt er das Firmament der Genesis durch „Scheiben“ aus, wie es die Kirchenväter nach der mittelalterlichen Sphärentheorie durch himmlische Sphären, Zirkel und Kreise übersetzten. Und Gott nannte weiter das Trockne Erde, und die Erde ließ auf gehen Gras und Kraut. So wird in der Völuspa die Erde geschaffen, und um das Trockne auszudrücken, läßt der Dichter vorgreifend hier schon die Sonne auf sie, die mit einem Saalbau verglichen wird, herabscheinen, sodaß sie mit grünem Kraute begrünt wird. Zum vierten machte Gott, nach der Bibel, zwei große Lichter, ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und diese Lichter scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre. So kommen in der Völuspa hinter einander die Sonne, der Mond und die Sterne zum Vorschein, und die Götter geben ihnen Namen und Zeiten, die Jahre danach zu zählen.

Offenbar sind die Gegenstände dieser drei Schöpfungsakte dieselben, aber die Schöpferzahl ist eine verschiedene, mußte eine verschiedene sein, da die mythisierende Darstellungsmanier des im Polytheismus wurzelnden Skalden-tums an die Stelle des einen Gottes mehrere, Bors Söhne, um so unbedenklicher rückte, als ja auch die kirchliche Lehre die Schöpfergew^lt auf mehrere göttliche Personen verteilte. Es sind also heidnische Scheingötter; den echten Heidengöttem war eine Schöpferkraft nicht gegeben und überhaupt den Germanen eine Schöpfungslehre, eine Kosmogonie, fremd. Tadtus ließ kein Wort darüber fallen, denn die von ihm berichtete Herleitung der Ingvaeonen, Herminonen und Istvaeonen von drei Söhnen des Mannus, der wieder ein Sohn des erdgeborenen Tuisco war, ist nur eine Stammheroensage, keine Kosmogonie. Sechs Jahrhunderte später erkannte der kluge Bischof Daniel von Winchester als Kernschaden des deutschen Heidenglaubens den Mangel einer Lehre von der Schöpfung durch die Gottheit, und wenn die heidnischen Nordleute in ihren ausführlichen Debatten mit den Missionaren die Gewalt Thors und Odins über Unwetter und Ungeheuer, über das Gedeihen des Ackers und den Sieg in der Schlacht stolz rühmten, so wagten sie doch nie, obgleich von ihren Gegnern förmlich dazu gereizt, die Schöpferkraft ihrer Götter zu behaupten. Man hat also nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die schaffenden Götter der Völuspa als bloße poetische Ersatzfiguren der christlichen Gottheit aufzufassen.

Aber wie ist weiterhin die Hochzimmerei und die Goldschmiedekunst der Götter samt ihrem heiteren Brettspiel zu erklären? Die Partie der Genesis 1, 31 bis 2, 2 bot dafür das Leitmotiv:

„Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Also wurden vollendet die Himmel und die Erde und ihr ganzer Schmuck, und Gott ruhete“.

Die christlichen Angelsachsen nannten den Himmel ein „Hochgezimmer“, und als er und die Erde fertig waren, jubelten in ihrer Genesis die Engel, „denen kein Mangel an irgend etwas war“, und hielten ein Gelage. So zimmerten die nordischen Götter den Himmel hoch wie ein Heiligtum und schmiedeten Gold, „an dem ihnen kein Mangel war“ (für den Stemenschmuck), und erfreuten sich am Brettspiel. Die selige Ruhe, die Gott nach der Vollendung Himmels und der Erden empfindet, wird vom angelsächsischen Genesisdichter ebenso frei ausgemalt, wie vom nordischen Völuspaverfasser. Dort jubeln die Engel und halten, frei von allem Mangel, ein Gelage, hier schmie den die Götter, frei von allem Mangel, schönen Schmuck und ergötzen sich mit Spiel. Ein eigentlich heidnisches Motiv ist auch hier ganz ausgeschlossen, denn der echtnordische Glaube versagte seinen Göttern nicht nur die schöpferische Tätigkeit überhaupt, sondern auch insbesondere alles Bauen und Schmieden. Mit diesen Künsten sind nur Zwerge und Riesen vertraut. Wenn dann plötzlich drei mächtige Riesenweiber erscheinen d. h. die Nomen, so sind wir überrascht. Doch auch dieser Zug, die Verknüpfung des Schicksals mit der Schöpfung der Sterne, kehrt in der mittelalterlichen Kosmogonie wieder: Chalcidius fand das Schicksal in den neugeschaffenen Sternen und zwar dreigeteilt in die drei Parzen Atropos, Clotho und Lachesis.

Noch überraschender ist nun die folgende Mitteilung, daß eine Götterversammlung Zwerge beauftragt, Menschenformen in Erde aus Wasser und Gestein zu bilden, da doch die Genesis als fünftes Werk die Schöpfung der Tiere schildert. Hier folgt der Dichter völlig der platonischen Schöpfungsgeschichte. Denn darnach werden von einer Götterversammlung die niederen Götter und Dämonen, die der nordische Verfasser Zwerge nennt, beauftragt, die Formen sterblicher Wesen aus den Elementen zu bilden.

Alsbald kehrt der Verfasser mit der Schilderung des sechsten Schöpfungsaktes zu der biblischen Vorlage und ihrer mittelalterlichen Auslegung zurück. Die Krone des ganzen SchöpfungsWerkes ist auch in der Völuspa das erste Menschenpaar. Die Worte Gottes in der Genesis:

„Lasset uns Menschen machen“

wurden von den Kirchenvätern schon früh auf die Dreieinigkeit gedeutet, und so greifen auch in der Völuspa drei Götter das Werk an und zwar durch dieselben zwei Eigenschaften getrieben, ihre Macht und ihre Güte. Der dreieinige Gott findet einen Erdenkloß, dem er den lebendigen Odem in die Nase bläst, so daß der Mensch eine lebendige Seele wird. Diese Gaben verteilt die christliche Auslegung auf die drei göttlichen Personen, so daß Gottvater den Atem, Gottsohn die Seele und der heilige Geist die bewegliche Lebenskraft spendet.

So finden die drei nordischen Götter unvermögend und schicksalslos jene von den Zwergen aus Erde gemachten Körper und verleihen ihnen dieselben Gaben in derselben Verteilung. Und sie tragen die frei erdichteten Namen Ask und Embla, die den gleichen Stabreim bilden wie Adam und Eva. Daß die erste Person der Dreieinigkeit mit dem Namen des höchsten nordischen Gottes Odin bezeichnet wurde, ist fast selbstverständlich, wie ihn auch Snorre als Här den Hohen neben die beiden anderen Namen der christlichen Dreieinigkeit Jafnhär Ebenhoch und Thridi den Dritten setzt. Verunglückt dagegen ist die Umtaufung der beiden andern Schöpfer in Hoenir und L6-ßor, denn jener ist ein höchst unbedeutender Gott und dieser ein völlig unbekanntes, wohl nur für diese Stelle erfundenes Wesen.

Der dritte Abschnitt der Völuspa besteht aus den Strophen 19—26:

19.
Eine Esche weiß ich stehen, sie heißt Yggdrasill;
Ein hoher Baum, mit glänzendem Naß begossen,
Von da kommen die Tautropfen, die in die Täler fallen,
Er steht immer grün über dem Urdarbrunnen.

20.
Von da kommen Mädchen, vielwissende,
Drei aus dem Saal (See), der unter dem Wipfel steht.
Urd nannten sie die eine, die andre Werdandi,
— sie schnitten ins Scheit ein — Skuld die dritte.
Sie setzten die Satzungen, sie erkoren das Leben
Den Kindern der Menschen, das Schicksal der Männer.

21. D
ieses Volkskriegs gedenke ich als des ersten in der Welt,
Als sie Gollweig mit Geren stießen
Und sie in der Halle des Hohen brannten,
Dreimal brannten, die dreimal Geborne;
Oft, unselten; dennoch lebt sie noch.

22. Heibr nannten sie sie, wo immer sie in die Häuser kam,
Eine wohlkundige Wölwa: sie rüstete Zauberwesen aus,
Zauberte, wo sie konnte, zauberte sinnbetörend,
Immer war sie die Lust böser Weiber.

23.
Da gingen alle Berater auf die Gerichtsstühle,
Die hochheiligen Götter, und berieten darüber,
Ob die Äsen Abgabe zahlen sollten,
Oder alle Götter Opfer haben.

24.
Odin schleuderte und schoß ins Volk,
Das war jener erste Volkskrieg in der Welt,
Gebrochen wurde der Ringwall der Asenburg,
Die kampfkühnen Wanen waren imstande, die Felder zu
zerstampfen.

25.
Da gingen alle Berater auf die Gerichtsstühle,
Die hochheiligen Götter, und berieten darüber,
Wer die ganze Luft mit Unheil gemischt hätte
Oder dem Riesengeschlecht Ods Mädchen gegeben.

26.
Thor allein schlug zu, von Zorn bezwungen,
Er sitzt selten, wenn es sich darum handelt.
Zertreten wurden die Eide, die Worte und Schwüre,
Alle feierlichen Verträge, die zwischen ihnen fuhren.

Der Erschaffung des Menschen folgt auch in der Genesis das Bild eines Baums des Lebens, der nach der Apokalypse an beiden Seiten des Flusses mit dem krystall-hellen Lebenswasser steht und das ganze Jahr hindurch Frucht und Laub trägt. Mit ihm verschmolz der Dichter die heidnische hohe Weltesche, die bei den Skalden Odins Roß d. i. Yggdrasill hieß. Aber auch des Genossen des paradiesischen Lebensbaumes scheint er sich dabei erinnert zu haben, des schicksalvollen Baumes der Erkenntnis, und darum die drei Schicksalsweiber an seinen Stamm gesetzt zu haben, wenn ihm hier nicht eine ältere volkstümliche Nornenszenerie vorschwebte. Ob nicht auch die Namen der drei Nornen ,

Gegenwart und Zukunft den drei lateinischen Parzennamen Praeteritum, Praesens und Futurum, die wir bei den Gelehrten des Mittelalters z. B. Isidor finden, nachgebildet worden sind?

Und nun entrollt sich das Schicksal der Welt. Es beginnt in der Völuspa wie in der Bibel mit der Ver- schuldung eines Weibes, die hier wie dort auf eine noch ältere Verwicklung, einen Krieg, zurückdeutet. Denn nach der Kirchenlehre erhoben sich Luzifer und andere treulose Engel gegen Gott, weil sie ihm gleichgestellt sein wollten, zum „primum bellum civile“, zum ersten Volkskrieg. Sie wurden aber aus dem Himmel gestoßen, worauf sich Satanas rächte durch die Versuchung der Eva zum Sündenfall. Die lichten Engel verwandelt der Dichter in die lichten Wanen, die gleich den andern Göttern durch Opfer geehrt sein wollen. Darüber bricht der erste Volkskrieg aus. Die angelsächsische Genesis schildert, wie nun des Himmels Hochkönig zornig gegen die Aufrührer die Hände erhebt, auf einer ihrer 48 Miniaturen schleudert er sogar, von seinen Engeln umgeben, ein Bündel Pfeile gegen sie. So schießt in der Völuspa Odin ins Volk hinein. Dennoch gelang es nach der romanhaften Darstellung des Engelsturzes z. B. durch Honorius von Augustodunum, den meuterischen Engeln, einen Palast des Allmächtigen zu zerstören. So brechen auch in der Völuspa die Wanen den Burgwall der Äsen.

Dieses Volkskriegs gedenkt also die Seherin mit Recht, als sie den Sündenfall schildern will. Denn die mit Geren gestoßene, in der Halle des Hohen dreimal gebrannte, dreimal geborene, noch lebende , Goldgetränk (?) ist keine andere als Eva, wie sie die kirchenväterliche Deutung darstellte. Sie wird nach Ambrosius durch drei vergiftete Pfeile d. h. drei Versuchungen des Teufels getroffen, die von andern Kirchenvätern auch drei feurige Gere genannt wurden. Das geschah im Paradiese, das hier die Halle des Hohen heißt. Ob sie dreimal geboren genannt wird, weil sie erstens zugleich mit und in Adam, dann aus seiner Rippe, endlich auf Erden gleichsam noch einmal geboren wurde, bleibe dahingestellt. Auf Erden lebt sie noch heute als Heidr, Heitere, Strahlende fort, die durch ihre Schönheit bezaubert, immer die Lust böser Weiber.

Den Sinn der zwei folgenden Strophen 25 und 26 kann man nur erraten, wenn man sich erinnert, daß mit dem Riesengeschlecht insbesondere der riesige Baumeister Smidr gemeint sein muß, der eine große Burg den Göttern baute und dafür Ods Mädchen d. i. Freyja zum Lohn erhalten sollte, bis Thor dazwischen fuhr, den Vertrag brach und den Baumeister erschlug. Die Anspielungen auf einen alten Heidenmythus haben hier den Sinn der christlichen Heilslehre fast verdrängt, die hier als einen der durch die Sünde der Menschen herbeigeführten Hauptakte den Bau des Turms zu Babel vorführt. Dieser Bau galt auch den Kirchenschriftstellem als ein Bau der bösen Giganten, den Gott zerstört, und die auffällig breite Ausführung der Störung der Eide, Worte, Schwüre und Verträge hatte zur geheimen Ursache die andere Bedeutung Babels, die der Störung, der Verwirrung der Sprachen.

27.
Sie weiß Heimdalls Horn verborgen
Unter dem aethergewohnten heiligen Baume,
Wasser sieht sie sich ergießen in feuchtem Falle
Aus dem Pfände Walvaters: wißt ihr noch weiteres?

28.
Allein saß sie draußen, als der Alte kam,
Der schreckliche der Äsen und sah ihr ins Auge.
„Wonach fragst du mich, wie versuchest du mich?
Alles weiß ich, Odin, wo du das Auge verbargst“.

29.
Ich weiß Odins Auge verborgen
In jenem berühmten Mimisbrunnen,
Met trinkt Mimir jeden Morgen
Vom Pfände Walvaters: wißt ihr noch weiteres?

30.
Heervater schenkte Ringe und Halsbänder,
Ich empfing weise Kunden und Zauberkünste.
Ich sah weit und breit über alle Welten.

31.
Ich sah die Walküren weither gekommen,
Fertig zum Ritt ins Heldenvolk.
Skuld hielt den Schild, Skögul war die andre,
Gudr, Hildr, Göndul und Geirskögul.
Nun sind gezählt die Mädchen Herjans (Odin),
Die Walküren fertig zum Ritt auf die Erde.

32.
Ich sah dem Balder, dem blutigen Gotte,
Odins Sohne, das Schicksal verborgen.
Gewachsen stand hoch über der Flur
Der zarte und sehr schöne Mistelzweig.

33.
Es wurde aus dem Baumstamm das sehr zart erscheinende,
Aber gefährliche Unglücksgeschoß: Höder ergriff es zum
Schießen.
Balders Bruder wurde alsbald davon getragen,
Da übernahm Odins Sohn, eine Nacht alt, die Rache,

34.
Wusch seine Hände nicht, noch kämmte er sein Haupt,
Bevor man auf den Scheiterhaufen trug Balders Feind.
Aber Frigg beweinte in ihren Fensälen
Das Weh der Walhall: wißt ihr noch weiteres?

35.
Gebunden sah ich liegen unter dem Kesselhaine
Die unheilbrütende Gestalt, den widerwärtigen Loki.
Da sitzt Sigyn, doch nicht um ihren
Mann sehr erfreut: wißt ihr noch weiteres?

In diesen dunklen Strophen tritt die Wölwa mit Fug und Recht wieder in den Vordergrund. Die Schöpfung samt den ersten sündigen Störungen der neu geschaffenen Welt liegen hinter ihr. Ihr drängt sich jetzt etwas Wichtigeres, Schwereres, Persönlicheres auf. Sie hat ein zentrales Ereignis zu verkünden, das voll Schmerz und Kampf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Es birgt das tiefste Mysterium in sich, das das furchtbarste Strafgericht nach sich zieht. Dies Mysterium stellt sich ihr in drei Gesichten vor, immer deutlicher, immer beängstigender.

Sie weiß Heimdalls Horn, sie weiß Odins Auge, sie weiß Balders Schicksal verborgen. Das alles weiß sie aber nicht aus dem nordischen Mythus, wenn sie sich auch der Sprache desselben bedient, sondern aus dem christlichen Ideenkreise und zwar aus demjenigen, der den Mittel- und Kernpunkt der Heilslehre, den Kreuzestod des Gottessohnes Christus, umgibt. Von dem seltsamen Versteck des Homes Heimdalls unter einem in den Äther ragenden heiligen Baum ist im nordischen Mythus nichts bekannt, auch nicht die leiseste Anspielung. Dagegen nannten zahlreiche Kirchenschriftsteller, auch angelsächsische und nordische Dichter, das Kreuz den „heiligen Baum“ und rühmten von ihm, daß sein oberer Teil gen Himmel blicke, also äthergewohnt sei. Seine Äste oder Arme wurden von ihnen Hörner genannt. Den in der Tiefe der Erde verborgenen unteren Teil, das untere Horn, hebt hier die Wölwa besonders hervor, denn dieses unsichtbare „Profundum“ des Kreuzes wurde auf die unerforschlichen Gerichte Gottes gedeutet, von denen zu reden sie sich ja gerade hier anschickt. Das Wächterhom Heimdalls (S. 408) hat hier nichts zu schaffen, es ist hier eine bloße mythologische Ketming oder Umschreibung eines christlichen Begriffs.

Wie tief aber die Wölwa aus der christlichen Ideenwelt schöpft, das lehren auch ihre unmittelbar folgenden Worte:

„Wasser sieht sie sich ergießen in feuchtem Falle (forse) vom Pfände (ved) Wal vaters.“

Schon im Epheser-brief und weiterhin überall in der kirchlichen Literatur heißt das „Pfand“ der Erlösung durch sein Blut der Sohn Gottes, der Gekreuzigte, aus dem sich nach dem Lanzenstich des römischen Soldaten durch eine Seitenwunde Blut und Wasser ergießen, auf manchen alten Bildern in einem förmlichen Falle. Noch im 16. Jahrhundert sagt ein nordisches geistliches Gedicht:

„Uns wuschest du, o Christus, mit dem Falle (fossi) deines Blutes.“

In ihrer zweiten Vision sieht die Wölwa Odins Auge im Mimisbrunnen verborgen; Met trinkt Mimir jeden Morgen aus dem Pfände Walvaters. Die altmythischen Begriffe Odins Auge und der Mimisbrunnen sind hier, wie soeben Heimdalls Horn, der Darstellung christlicher Ideen dienstbar gemacht. Denn die Kirchensprache faßte auch wohl in der Dreieinigkeit Gott als das Auge, Christus als den Brunnen, den heiligen Geist als das daraus fließende Wasser auf. Und da Christus hier von neuem das „Pfand Gottes“ heißt, so gilt er für das verpfändete Auge, das im Brunnen verpfändete, im Brunnen des heiligen Geistes. Bedeutet vielleicht der tägliche Trunk Mimirs aus diesem Pfände den täglichen Opfertrunk des Messe haltenden Priesters? Denn es heißt z. B. bei Honorius, ohne Zweifel nach älteren Auslegern: Wegen des der Kirche übergebenen „Pfandes“ nimmt der Priester mit der Weihe des heiligen Geistes täglich Brot und Wein, das Fleisch und Blut Christ! Dieses nannte der Angelsachse Älfric auch kurzweg Pfand, mit dem gleichen Ausdruck, wie es die Wölwa „wedd“ nennt. Schon Snorre ahnte die neue Bedeutung des Mimis-brunnens, indem er ihn den Brunnen der göttlichen Weisheit (visindi) nannte. Doch gestehen wir gern, daß diese dunkle Partie noch sehr der Aufhellung bedarf, die sie aber schwerlich aus der Natursymbolik empfangen wird.

Die Wölwa sieht diese rätselhaften Bilder nach der Sitte der heidnischen Wölur draußen in der Einsamkeit, wobei ihr der Zaubergott Odin durch Gaben verschiedener Art Hilfe leistet. So ausgerüstet sieht sie das letzte, das traurigste Bild, das der wilde Ritt von Walküren ankündigt Krieg ist die Losung auf der Erde, wie im Himmel, zwischen den Guten und den Bösen. Und nun tut der Dichter einen Meistergriff. Er setzt den lichten der beiden altgermanischen Dioskurenbrüder, den Sommergott Balder, an die Stelle des lichten Christus und beläßt zwar noch dessen dunklen Bruder Hödr, der ihn mit der Mistel, dem Wintersymbol, erlegt, aber er macht zum eigentlichen Urheber des Todes Balders den unheilvollen Dämon , den Saxo noch gar nicht in diesem Mythus kennt So wurde Loki zu einer Art Teufel, der ja der eigentliche Urheber des Todes Christi war, und mußte sich die weitere Verchristlichung gefallen lassen, daß er für seine Untat in der Hölle gebunden wurde. Der Baldermythus mag auch schon, da er den Untergang eines glänzenden Lichtgottes zum Inhalt hatte, einen schwermutsvollen, auch die andern Götter beunruhigenden oder gar erschütternden Charakter gehabt haben; aber die das Schicksal des Weltalls entscheidende Zentralbedeutung des Todes Balders kann nur der des Todes Christi nachgebildet sein. Wie es in der Apokalypse 19, 11 heißt:

„Ich sah den König aller Könige, den Herrn aller Herren, angetan mit einem Kleide, das mit Blut besprengt war, und ich sah das Tier, und mit ihm den falschen Propheten, und lebendig wurden diese beide in den feurigen Pfuhl geworfen, der mit Schwefel brennt“,

so heißt es in der Völuspa:

„Ich sah dem Balder, dem blutigen Gotte, sein Schicksal verborgen und ich sah gebunden liegen unter dem Haine der heißen Sprudel die unheilbrütende Gestalt, den widerwärtigen Loki.“

Die weinende Mutter Gottes aber wird durch die weinende Mutter Balders, Frigg, ersetzt. Beide Schilderungen des Todes des lichtesten Wesens, Balders wie Christi, bereiten die Ankunft des jüngsten Gerichts vor.

36.
Ein Strom fällt von Osten her durch Gifttäler.
Mit Schneiden und Schwertern: der Grausige heißt er.

37.
Es stand nördlich auf den Finsterfeldern
Ein Saal aus Gold des Geschlechtes Sindris,
Aber ein anderer stand zu Unkühlheim,
Der Biersaal des Riesen, der Brimer heißt.

38.
Einen Saal sah sie stehn, der Sonne unerreichbar,
An den Leichenstränden; nordwärts wendet sich die Tür.
Es fielen Gifttropfen herein durch die Lichtlöcher, G
eflochten ist der Saal aus Schlangenrücken.

39.
Sie sah da waten schwere Ströme Meineidige Männer und Mörder,
Und den, der eines Anderen Frau verfährt.
Da sog Nidhögg die Leichen der Abgeschiedenen,
Der Bösewicht zerriß die Männer: wißt ihr noch weiteres?

Diese Bilder der Unterwelt muten uns auf den ersten Blick unchristlich, nordisch genug an: der Waffenfluß, der aus den östlichen Frosttälern strömt, der Goldsaal der Zwerge, der Biersaal des Riesen und der Saal der Hel mit seinem Schlangendach. Die Sünder waten durch Ströme, Leichen werden von einem Drachen ausgesogen oder vom Bösewicht zerrissen. Aber gegen altheidnische Herkunft spricht, daß alle diese Unterweltsbilder, abgesehen etwa von dem Waffenfluß, kaum im altnordischen Glauben

nachgewiesen werden können, zumal nicht die Hel als Qualort der Sünder. Dagegen bieten die christlichen Quellen zahlreiche gleiche Vorstellungen dar, z. B. wird in der aus dem 4. Jahrhundert stammenden paulinischen Apokalypse, die seit dem 9. Jahrhundert vielfach übersetzt und bearbeitet wurde, Paulus in die goldtorige Stadt der Seligen, ins mehr als Gold glänzende Land der Sanftmütigen, endlich in die Stadt Gottes mit ihren Honig-, Milch-, Öl- und Weinflüssen versetzt. Daraus machte der nordische Dichter einen Goldsaal der Zwerge und einen Biersaal des Riesen. Darauf schaute Paulus den finstern Ort der Verdammten mit dem „bestrafenden“ Strom, in dem die Ehebrecher waten, und einen feurigen Strom, in dem die Diebe und Mörder gepeinigt werden. Einem dieser Sünder kriechen Würmer aus dem Munde. In der Vision Karls III. um 900 stehen die Räuber und Raufer in einem metallenen, also wirklich „schweren“, Strom, und Schlangen packen sie von den Ufern her an. Wie nach der Offenbarung des Johannes der Drache, die alte Schlange, im Abgrund gefesselt liegt, so haust auch in der Völuspa der Drache tief in der Unterwelt.

Der christliche Einfluß erscheint in dieser Strophengruppe vollends sieghaft durch die Stellung, die ihr im Gedankengange des Gedichts angewiesen ist. Die Schilderung des Paradieses und der Hölle eröffnet die eigentliche Darstellung des jüngsten Gerichts, wie auf den alten Wandbildern der Kirche und den Miniaturen der Evangeliarien Italiens und Deutschlands unter dem Gerichtsbilde häufig Hölle und Paradies nebeneinander stehen, und Predigten und Gedichte des Mittelalters vor der Schilderung des Gerichts diese beiden Welten vorführen.

40.
Ostwärts saß die Alte im Eisenwalde
Und gebar da Fenris Gezücht.
Es wird von allen vornehmlich ein Gewisser
Des Gestirns Verschlinger in Unholdsgewande.

41.
Er füllt sich mit dem Fleische getöteter Männer,
Er rötet der Götter Sitz mit rotem Blute.
Schwarz werden die Sonnenscheine die folgenden Sommer über,
Die Wetter werden alle übelgesinnt. Wißt ihr noch weiteres?

42.
Es saß da auf dem Hügel und schlug die Harfe
Der Riesin Hirte, der frohe Eggther,
Über ihm sang im Vogelwalde
Ein schönroter Hahn, der Fjalar heißt.

43.
Es sang über den Äsen Gullinkambi,
Der weckt die Männer in Heervaters Hause,
Aber ein andrer singt unter der Erde unten,
Ein rußroter Hahn, in den Sälen der Hel.

44.
Laut bellt Garm vor Gnipahellir,
Die Fessel wird zerreißen, aber der Wolf rennen!

Viel weiß ich der Kunden, vorwärts sehe ich weiter Über der Götter Untergang, den gewaltigen der siegmächtigen. Man hat die im Eisenwalde d. h. im unermeßlichen Walde sitzende Alte für eine Waldriesin erklärt, die im östlich gelegenen Riesenheim wohnte. Aber nirgendwo erscheint in der heidnischen Überlieferung der Osten als Brutstätte besonders bösartiger Wesen, und vollends über deren schlimmstes gibt sie keine Auskunft, weder über dessen Charakter, noch über dessen Auftreten in einem so entscheidenden Zeitpunkt der Erzählung. Dagegen stellen uns die Offenbarung des Johannes und die im Mittelalter außerordentlich beliebte Antichristlegende jene beiden abschreckenden Persönlichkeiten, Mutter wie Kind, dicht vor dem Einbruch der Weltkatastrophe vor Augen. In der Wüste fern im Osten sitzt das furchtbare Weib, die Mutter aller Gräuel auf Erden, die Behausung der Teufel und das Behältnis aller unreinen Geister, die „alte, wüste Babilonie“, wie es oft im Mittelalter heißt. Die unermeßliche Wüste, deren Begriff den Germanen weiter ablag, wird hier, wie auch in andern Wiedergaben der Antichristlegende, ein unermeßlicher Wald genannt. In ihrer Wildnis gedeihen namentlich Drachen und Würmer aller Art, und mit dem Teufel gebiert sie als schlimmstes Kind, als omnium nequis-simus, den größten Böse wicht, den Antichrist, der das menschliche Geschlecht verderben wird, und zwar in des „Teufels Form“, also in Unholdsgewande. Aus dem Osten dringt er vor und übt dieselben Frevel aus, wie der Sohn der Eisenwälderin. Nach Jerusalem kommend tötet und erwürgt er alle Gläubigen und dringt in den heiligen Tempel Jehovas, um dort seinen Sitz aufzuschlagen. Er erfüllt nun Christi evangelische Prophezeiung, daß der Antichrist große Zeichen und Wunder tun wird und daß Sonne und Mond den Schein verlieren und die Sterne vom Himmel fallen und die Kräfte der Himmel sich bewegen werden. Auch heißt es in der Antichristlegende:

„Die Lüfte wird er mit Winden erregen.“

Die auch die Sommer über übelgesinnten Wetter, die in der Völuspa zu den Vorzeichen des Weltuntergangs gehören, werden in den Vafthrudnismal, einem andern der Völuspa ungefähr gleichaltrigen eddischen Gedichte, und in der Prosaedda als der Fimbulvetr d. h. der große, furchtbare Winter bezeichnet. Und auch diese beiden nordischen Berichte zeigen sich durchaus abhängig von der Antichristlegende. Denn der Antichrist kehrt die Ordnung der Natur um, erregt die Lüfte durch Winde und vielfache Störungen. Diese schreckliche Plage wird drei und ein halbes Jahr in der ganzen Welt dauern, nach andern Theologen drei Jahre. Die Prosaedda aber beschreibt jenen Winter so:

„Da treibt Schnee aus allen Ecken, großer Frost ist da und scharfe Winde, und die Sonne nützt nichts. Da fahren drei Winter zusammen, und ist kein Sommer dazwischen“.

Also auch hier dieselbe dreijährige Frist furchtbaren Wetters. Ferner: als der Antichrist gebietet, daß Feuer vom Himmel herabfalle, fliehen viele Menschen in die Einsamkeit. So verbergen sich nach der Prosaedda zwei Menschen in Hoddmimisholt während dem Feuer, das Surtr auch vom Himmel reißt, und Surtr, der Schwarze, ist auch weiterhin beim Ansturm auf die Himmelsmächte mit dem Antichrist identisch. Jene beiden Menschen Lif und Lifthrasir d. h. Leben und Lebenswünscher haben Morgentau zur Speise, und davon nähren sie ihr Leben. So fliehen z. B. nach dem Kirchenschriftsteller Lactanz die Menschen vor dem Antichrist in die Einsamkeit, da fällt von Gott der Morgentau seines Segens, und Gott spendet allen reichliche und unschuldige Nahrung.

Den zwei folgenden Strophen 42. 43 ist kein bestimmterer, tieferer mythischer Sinn abzugewinnen. Der Harfenschlag Eggthers und die Schreie der drei Hähne scheinen auf die Entscheidung vorbereiten zu sollen, wie das Gebell des Hundes und das Loskommen des Wolfes in der 44. Strophe. Der letzte Zug entstammt wohl wieder der christlichen Überlieferung: schon im 8. Jahrhundert hört ein Christ als Zeichen des Weltuntergangs, wie die Seylla und ihre jungen Hunde vor der Hölle nicht aufhören, zu bellen; und in der Apokalypse wird vor dem jüngsten Gericht ein Tier los, der Drache oder die alte Schlange oder Teufel und Satanas genannt Nun überblickt die Wölva den gewaltigen Untergang der Götter, das

Weitende, das in ein paar andern Liedern auch Götterdämmerung ( Ragnarekkr) genannt wird d. h. ebenfalls Untergang der Götter, etwa wie die Christen des Mittelalters das jüngste Gericht den Finis oder die Consummatio mundi, das Ende oder den Untergang der Welt, nannten, oder auch die Vespera mundi, den Abend der Welt.

45.
Brüder werden sich schlagen und einander zu Tötern werden,
Schwesterkinder, werden die Sippe brechen.
Arg ist es in der Welt: großer Ehebruch,
Beilalter, Schwertalter, Schilde werden zerspalten,
Windalter, Wolfsalter, bevor die Welt zusammenstürzt,
Kein Mensch wird des andern schonen.

46.
Es spielen Mims Söhne, aber der Maßbaum entzündet sich,
Beim Schall des alten Gjallarhorns.
Laut bläst Heimdall, das Horn ist in der Luft:
Odin redet mit Mims Haupt.

47.
Es bebt Yggdrasils Esche, die emporragende,
Es stöhnt der alte Baum, aber der Riese kommt los!
Alle fürchten sich auf den Unterweltswegen,
Bevor Surts Blutsfreund ihn verschlingt.

48.
Was ist bei den Äsen, was bei den Elfen?
Es tost ganz Jötunheim, die Äsen sind auf der Dingstatt,
Es ächzen die Zwerge vor den Steintoren,
Der Felswand kundig. Wißt ihr noch weiteres?

49. wiederholt Strophe 44.

Der Dichter überläßt sich in der 45. Strophe dem Zuge der biblischen Schilderung der Vorzeichen des Weltuntergangs. So heißt es im Marcusevangelium 13,12: Es wird ein Bruder überantworten den andern zum Tode und der Vater den Sohn, und die Söhne werden sich gegen die Eltern erheben und werden sie töten. Und schon Jesaias 9,19 verkündet, daß im Zorn des Herrn kein Mensch des andern schonen wird. Ehebruch wird nicht erwähnt, aber nach Marcus wird man, bevor alles zu Ende geht, hören von Kriegen und Kriegsgeschrei, und Erdbeben werden geschehen, und es wird teure Zeit sein. Das meinen jene Schwertalter, Wind- und Wolfsalter.

Nur kurze Zeit bedient sich der Dichter einer einfacheren, unverhüllten Ausdrucksweise, um in den nächsten Strophen wieder ganz in den skaldischen Rätselton zu verfallen. Aber wie dunkel er klingt, biblische Anschauungen von den Vorgängen vor dem Weltuntergang, nicht heidnische, klären uns über den Sinn auf. Nach Matthaeus 24,29 werden nach der Trübsal derselben Zeit die Kräfte des Himmels sich bewegen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes im Himmel. Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen. Die Bewegung der Himmelskräfte, die auf die vom heiligen Geist belebten Engel gedeutet wurden, übersetzt der Dichter durch das Spiel der Söhne Mimirs, in dem wir schon oben den heiligen Geist vermutet haben. Das Zeichen des Herrn, des Gekreuzigten, das bei den Angelsachsen das leuchtende Zeichen, der leuchtende Baum und insbesondere als Vorzeichen des Gerichts auch bei Berthold von Regensburg das „leuchtende“ heißt, wird der sich entzündende Maßbaum genannt und auch hier wie oben mit dem Gjallarhom in unmittelbare Verbindung gesetzt. Hier aber ist dieses nicht mehr verborgen, sondern erschallt laut wie ein Heerhom in die Luft gleich den Posaunen der Engel, die den Kampf verkünden. Gottvater und der heilige Geist, Odin und Mimir, bereden sich mit einander, wie sie beide nach den Kirchenschriftsteilem dem Gottsohne beim Gerichte beistehen.

Zwischen heidnischem Ausdruck und christlichem Inhalt bewegen sich auch die folgenden Strophen. Freilich ist Yggdrasils Esche, die heidnische Weltesche, ein Abbild des Alls, die beim Beginn des allgemeinen Zusammenbruchs ganz natürlich erbebt und alle Wesen der Welt, die Riesen wie die Menschen, die Äsen wie die Zwerge, in Aufregung versetzt. Aber ein paar intimere Züge des Baumes stammen doch von Ezechiel Kap. 31 und Jesaias 14. 26. 31, wo sie den Sturz Assurs mit dem Sturz eines gewaltigen Baumes vergleichen. Denn die Völker erschrecken, da sie ihn fallen hören, da er hinuntergestoßen wird mit denen, so in die Grube fahren. Und als der Herr die gewaltige Rute Babel zerbricht, da erweckte er die Giganten. Nach Ezechiel fällt der Assurbaum in die Hand des Mächtigsten, der mit ihm machen wird, was er will. Er rottet ihn aus. Das ist wahrscheinlich Surts Blutsfreund, der ihn verschlingt, nämlich das Feuer. Die Aufregung der Riesen, Götter und der felswandkundigen Zwerge, die in den Bergtoren vor Angst stöhnen, entspricht der Angst der Könige, der Gewaltigen, der Freien und der Knechte, die nach der Apokalypse Kap. 6 vor dem Gericht in den Höhlen und Steinen der Berge sich verbergen.

In die apokalyptische Bahn lenken dann auch die folgenden Strophen ein.

50.
Hrym fährt von Osten her, hält den Schild vor.
Die Weltschlange windet sich im Riesenzorne,
Der Wurm drängt die Wogen. Aber der Adler kreischt,
Der schnabelfahle zerreißt die Leichen: Naglfar kommt los.

51.
Ein Schiff fährt von Norden her:
kommen werden der Hel Leute über die See, aber Loki steuert.
Die tollen Gesellen fahren alle mit dem Wolfe,
Mit denen der Bruder Byleipts in der Fahrt ist.

52.
Surtr fährt von Süden her mit dem Reiserverderben:
Es glänzt von dem Schwerte die Sonne der Schlachtgötter.
Steinberge schlagen zusammen, aber die Bergriesinnen stürzen.
Die Männer betreten den Helweg, aber der Himmel spaltet sich.

53.
Dann kommt der Hlin zweiter Harm heran,
Als Odin auszieht, mit dem Wolf zu kämpfen,
Aber der Töter Belis, der leuchtende, gegen Surtr:
Dann wird fallen der Frigg Geliebter.

54.
Es kommt der große Sohn Siegvaters,
Vidar, zu kämpfen mit dem Leichentier,
Es läßt dem Sohne Hvethrungs dringen
Das Schwert ins Herz: so ist der Vater gerächt.

55.
Es kommt der herrliche Sohn der Hlothyn:
Es übergähnt die Luft der Erdumgürter von unten,
Es geht Odins Sohn dem Wurm zu begegnen.

56.
Er erlegt im Zorne den Schützer Midgards,
Alle Menschen werden die Heimstatt räumen!
Neun Schritte geht der Sohn der Fjörgyn
Kaum noch von der Schlange, die die Schandtat nicht kümmert.

57.
Die Sonne beginnt zu verfinstern: die Erde sinkt ins Meer,
Es fallen vom Himmel die heitern Sterne,
Es rast Dampf und Feuer:
Es spielt die hohe Hitze bis zum Himmel selbst.

58. = 44. 49.

Die Völuspa zählt fünf dämonische Angreifer auf: Hrym, die Schlange, Loki mit den Helsöhnen, den Wolf Freki und Surtr, die Apokalypse im 20. Kapitel Mors und Infemus, dazu im 16. drei andre, den Drachen, die Bestia und den Pseudopropheten oder Antichrist, also auch fünf. Hrym scheint ein Schiffer, dem das aus den Nägeln der Toten zusammengesetzte Schiff Naglfar gehört, und der vielleicht auch dem Namen nach mit dem antiken Ch(a)rön verwandt ist. Er vertritt den apokalyptischen Tod, der im Mittelalter trotz des weiblichen Geschlechts der Mors durchweg als Mann vorgestellt wurde. Ihm ist in der Apokalypse, wie in der mittelalterlichen Malerei und Dichtung, der Infemus, der Höllenfürst, zugesellt, gleich wie in der Völuspa Loki, der mit seinen Höllenleuten über die See fährt. Und wenn in der Apokalypse das Meer und der Tod und die Hölle ihre Toten herausgeben, so zerreißt hier ein Adler, der Hrym, die Wogenschlange und Loki begleitet, die auf dem Meer treibenden Toten. Den drei andern Gottesfeinden der Apokalypse: dem Drachen, der Bestia dem Antichrist entsprechen aufs beste der Wurm, der Wolf und Surtr. Hier vollendet sich unsere obige Gleichung Surtr-Antichrist. Surtr fährt mit dem Reiserverderben d. h. mit Feuer daher, oder, wie Snorre es ausdrückt, er reitet an der Spitze der Söhne Muspells d. h. des Feuers, brennendes Feuer vor sich und hinter sich, gegen ein sonnenleuchtendes Schwert, und der Himmel klafft. So geht eine unauslöschliche Flamme vor dem Antichrist her, vom Himmel fällt ein Schwert, und der Himmel öffnet sich in der Mitte.

Nun hebt der Kampf an. Der Antichrist überwindet nach der Legende den Apollo, Jupiter und Mercurius, wie in der Völuspa drei Götter besiegt werden, die aufs genaueste nach der gangbaren lateinischen Auslegung jenen römischen Göttern entsprechen. Denn Odin, der Geliebte der Frigg oder Hlin (S. 415), ist gleich Mercur, der Töter Belis, d. i. der milde lichte Frey gleich dem Lichtgotte Apoll und der herrliche Sohn der Hlothyn d. i. Thor gleich Jupiter. Doch weichen die beiden Kampfschilderungen darin erheblich von einander ab, daß der Antichrist alle drei überwindet, während in der Völuspa dem Surtr nur Frey erliegt. Aber nach der Apokalypse Kap. 16 versammeln sich mit dem Antichrist am großen Tage Gottes auch gerade jene beiden tierischen Dämonen, der Drache und die Bestia, auf dem Schlachtfeld Armageddon, das in Vafthrudnismal Vigridr Kampfplatz heißt, zum Streite.

Nun mußte der Drache dem alten Drachenschläger des altnordischen Mythus, dem Thor, entgegengestellt werden und die Bestia als Wolf, als Fenriswolf, dem Odin. Eine schlimmere Ungereimtheit ergibt sich aber daraus, daß Odin, der durch das ganze übrige Gedicht hin den Christengott der christlichen Heilslehre wiedergibt, an dieser Stelle dem Ansturm des Antichrists erliegt wie ein Heidengott. Ein solcher uns unerträglicher Widerspruch ist aber in allen derartigen ernsten und gewaltsamen Trave-stieen fast unvermeidlich. Er ist aber kaum stärker, als wenn die Skalden Christenkönige feierlich in Walhall von heidnischen Göttern empfangen lassen oder Christus im Kampfe mit Riesen und am Nornenbrunnen sitzend darstellen (S. 437). Daß aber der Dichter wirklich, dem Druck der Antichristlegende nachgebend, jene Götter erliegen und dem Tode verfallen sein ließ, daß er wirklich hierin einem christlichen Vorbilde folgte, geht klar daraus hervor, daß keiner von ihnen zu der herrlich erneuten Welt zurückkehrt, sondern nur die beim letzten Kampf unbeteiligten, die noch stärker christianisierten, wie Balder, oder solche bedeutungslose Wesen, wie Hoenir. Wie hätte ein wirklich heidnischer Dichter es übers Herz bringen können, seinen alten Göttern Odin, Thor und Frey die neue Herrlichkeit zu verschließen und statt ihrer andere jüngere, im Kult ganz nichtige Götter darin einzuführen?

Die Schilderung der Naturstörungen in der 57. Strophe schließt sich wieder an die Apokalypse Kap. 6, denn es heißt dort: „Da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack. Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde. Der Himmel entwich, und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern. Nach 2. Petrus 3, 7 werden die Himmel und die Erde dem Feuer Vorbehalten für den Tag der Gerichte, und nach Apokalypse 20 fällt verzehrendes Feuer vom Himmel auf die dämonischen Angreifer.

59.
Sie sieht aufsteigen zum andern Male
Die Erde aus dem Meer frisch und grün.
Sturzbäche fallen: der Adler fliegt darüber,
Der auf dem Gebirge Fische jagt.

61.
Da werden wieder die wundersamen Goldnen Bretter im Grase sich Anden,
Die sie vor Zeiten gehabt hatten.

62.
Ungesät werden die Äcker tragen,
Alles Übels Besserung wird werden;
Balder wird kommen. Höder und Balder bewohnen Hropts Siegeshallen,
Herrlich die Schlachtgötter. Wißt ihr noch weiteres?

63.
Dann kann Hoenir den Loszweig kiesen
Und die Söhne der zwei Brüder bewohnen
Das weite Windheim. Wißt ihr noch weiteres?

64.
Einen Saal sieht sie stehen schöner als die Sonne,
Mit Gold bedeckt, auf Gimlee:
Da sollen treue Scharen hausen Und ewiglich Freude genießen.

65.
Es kommt der Mächtige zum gewaltigen Gericht,
Der Starke von oben her, der über alles herrscht

66.
Es kommt der düstre Drache fliegend,
Die gleißende Schlange unten von den Finsterbergen:
In seinem Gefieder trägt er, — das Feld überfliegt er, —
Nidhögg die Leichen: nun wird er versinken.

Nach dem Kampf und dem Brande fährt die Völuspa im Ton der Apokalypse Kap. 21 fort, wo es heißt: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Ob der fischjagende Adler, der dann über Wasserfällen fliegt, eine tiefere Bedeutung hat, ist unsicher. Aber wie vor der Ankunft des jüngsten Tages nach 2 Petrus 3 die Frommen sich zu heiligen Unterhaltungen versammeln und im neuen Himmel und auf der neuen Erde nach Jesaias 65 die vorige Angst vergessen wird und nach der Apokalypse dann der

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Herr spricht: „Ich bin das A und O“, so unterhalten sich nun die Äsen auf dem Idafelde, in der neuen Welt, ruhig von dem sie früher so beängstigenden Erdumspanner, der Midgardsschlange, und gedenken jener alten Runen (A und O) des Herrgottes.

Jesaias prophezeit weiter:

„Sie werden sich ewiglich freuen . . . und sie werden Häuser bauen und bewohnen; sie werden Weinberge pflanzen und derselben Früchte essen. Sie sollen nicht pflanzen, daß ein anderer esse.“

Und nach Ezechiel 36 will der Herr sich wieder zu den Bergen Israels wenden und sie ansehen, daß sie bebaut und besäet werden. Die christliche Theologie ging weiter. Honorius z. B. sagt: „Dann wird die verfluchte Erde gesegnet und keine Arbeit und kein Schmerz mehr sein“. So werden sie in der Völuspa ewiglich Freude genießen, Höder und Balder Häuser bewohnen und die Äcker ungesät Früchte tragen. Balder wird kommen und alles Übel bessern. Wenn Balder in seiner Siegeshalle dem Christus entspricht, den die Angelsachsen gern den Siegesherm nannten, so mag hier Höder, der Kampfgott, den streitbaren Erzengel Michael bedeuten, der als Verwalter des Paradieses im Mittelalter für die Herbergen tüchtiger Krieger im Himmel sorgte.

Außer Christus und Michael sind nach der Apokalypse auch Henoch und Elias in den letzten Kampf mit den dämonischen Mächten verwickelt. Sie kommen dabei um, werden aber nach der Apokalypse neu belebt. Wie sie dem alten Paradiese angehörten als die zwei einzigen Menschen des alten Testaments, so auch dem neuen. Als alttestamentlicher Heros hat namentlich Henoch für die Juden in der neuen Welt zu sorgen. Nach der berühmten Vision Ezechiels Kap. 37 (vergl. 47, 14) fährt ein aus vier Winden herzugekommener Wind über ein weites Totenfeld und weckt die Toten zu neuem Leben. Dann werden die Wohnsitze des neuen Jerusalems unter die Söhne der beiden lange getrennten Stämme Israel und Juda wie unter Brüder verteilt durch ein Losholz. Das Mittelalter übertrug diese

Verteilung dem Henoch. Der Völuspadichter verwandelte dessen Namen in den für einen skandinavischen Mund leichter aussprechbaren nordischen Götternamen Hoenir. So enträtselt sich der Sinn der Worte:

„Dann kann Hoenir den Loszweig kiesen, und die Söhne der zwei Brüder bewohnen das weite Windheim.“

Und mm wird das himmlische Jerusalem geschildert fast genau mit den apokalyptischen Zügen. Es bedarf der Sonne nicht, seine Häuser sind von Gold, seine Mauern von Edelstein. Darum heißt es bei den Kirchenschriftstellen die gemmata et aurea Jerusalem. So nennt die Wölwa hier den Saal der neuen Welt schöner als die Sonne, mit Gold bedeckt und mit halbfremdem Worte Gimle d. h. Gemmenheim, Edelsteinheim. Im neuen Jerusalem wohnen nach christlichen Quellen Gottes Trautfreunde, um mit ihm in Ewigkeit zu genießen, gerade wie die treuen Scharen in der Völuspa im Edelsteinheim.

Endlich kommt nach Matthaeus Kap. 24 des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit zum Gericht, und in der Völuspa kommt der Mächtige zum gewaltigen Gericht, der Starke von oben her, der über alles herrscht.

Zuletzt erhebt sich noch einmal der Drache aus der Hölle mit Toten im Gefieder, um dann zu versinken. So wird der in den Abgrund geworfene Drache der Apokalypse Kap. 20 nach tausend Jahren der Gefangenschaft noch einmal los, aber nur eine kleine Zeit.

So endet das ernsteste, erhabenste Gedicht des alten Nordens mit gewaltigen, trostreichen Akkorden. Immer freier durchbricht in der Schlußpartie der Strom der christlichen Gedanken die Dämme der Heidensprache und führt nur noch ein paar heidnische Namen, aber keine heidnische Mythen mehr mit sich. Wie sollte die darüber schwebende Hoffnung auf eine letzte Gerechtigkeit und einen ewigen Frieden anderswoher als aus einem Christenherzen auf steigen? Man sieht, wie der neue Glaube den alten fast vollends überwältigt.

Wie die Geistlichen des Mittelalters so gern die Ereignisse und Personen des neuen Testaments in denen des alten vorgebildet wiederfanden, weil dem Neuen etwas tief ausgebildetes Altes vorangegangen war, so suchte der noch immer auf seinen alten Glauben und seine alte Kunst stolze nordische Skalde für die neuen christlichen Heilswahrheiten gewisse Vorbilder in der alten Fundgrube seiner Dichtung, in der heimischen Mythologie. Hatten doch die starken Götter Odin und Thor manche Züge mit Gottvater gemein und der jung sterbende Balder mit dem Heiland! Und, was noch wichtiger war, die poetische Sprache fühlte sich stark genug, mit ihren mythologischen Bildern auch die christlichsten Gedanken zu umschreiben! Je tiefer der Dichter nicht nur aus der Bibel und ihren Erläuterungen, sondern auch aus anderen christlichen Schriften fremde Weisheit, auch allerlei christliche Mythen schöpfte, desto williger fügte sich das alte Nordlandstum der „neuen Summe der Theologie“.

So bietet uns denn die Völuspa die goldenen Früchte des Christentums in der silbernen Schale der Skaldendichtung dar, schön geschichtet nach altheiliger Ordnung. Sie ist demnach wohl ein Kunststück, nicht aber ein Kunstwerk ersten Ranges, weil ihr die Haupttriebfeder eines solchen gebricht, die innere Wahrheit. Dem Mythologen aber klingt sie wie ein Gruß des siegreichen christlichen Geistes an das versinkende Heidentum.

Text aus dem Buch: Mythologie der Germanen, Verfasser Meyer, Elard Hugo.

Siehe auch Deutsche Mythologie:

Die einzelnen Kapitel des Buches:
Deutsche Mythologie – Seelenglaube und Naturverehrung
Deutsche Mythologie – Der Seelenglaube
Deutsche Mythologie – Die Seele als Atem, Dunst, Nebel, Schatten, Feuer, Licht und Blut
Deutsche Mythologie – Die Seele in Tiergestalt
Deutsche Mythologie – Die Seele in Menschengestalt
Deutsche Mythologie – Der Aufenthaltsort der Seelen
Deutsche Mythologie – Der Seelenkultus
Deutsche Mythologie – Zauberei und Hexerei
Deutsche Mythologie – Der Maren- oder Alpglaube
Deutsche Mythologie – Schicksalsgeister
Deutsche Mythologie – Der Mütter- und Matronenkultus
Deutsche Mythologie – Naturverehrung
Deutsche Mythologie – Naturerscheinungen in Tiergestalt
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Elfen und Wichte
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Zwerge
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Hausgeister
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Wassergeister
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Waldgeister
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Feldgeister
Deutsche Mythologie – Die Riesen – Name und Art der Riesen
Deutsche Mythologie – Die Riesen – Luftriesen
Deutsche Mythologie – Die Riesen – Berg- und Waldriesen
Deutsche Mythologie – Die Riesen – Wasserriesen
Deutsche Mythologie – Der Götterglaube
Deutsche Mythologie – Name und Zahl der Götter
Deutsche Mythologie – Mythenansätze und Mythenkreise
Deutsche Mythologie – Mythenansätze und Mythenkreise – Der Feuergott
Deutsche Mythologie – Mythenkreise – Licht und Finsternis. Gestirnmythen.
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Tius
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Foseti
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Wodan
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Donar
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Balder
Deutsche Mythologie – Die einzelnen Götter – Deus Requalivahanus
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen
Deutsche Mythologie – Die Mutter Erde
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen – Nerthus
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen – Nehalennia
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen – Tanfana
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen – Hludana
Deutsche Mythologie – Die Göttinnen – Haeva
Deutsche Mythologie – Die himmlischen Göttinnen – Frija
Deutsche Mythologie – Die himmlischen Göttinnen – Ostara
Deutsche Mythologie – Die himmlischen Göttinnen – Baduhenna
Deutsche Mythologie – Die himmlischen Göttinnen – Walküren
Deutsche Mythologie – Die himmlischen Göttinnen – Schwanjungfrauen
Deutsche Mythologie – Der Kultus
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Gottesdienst, Gebet und Opfer
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Opferspeise
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Opferfeuer
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Der Götterdienst im Wirtschaftsverbande
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Der Götterdienst itn Staatsverbande
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Der Götterdienst im Kriege
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Der Götterdienst des Einzelnen im täglichen Leben
Deutsche Mythologie – Das Priesterwesen
Deutsche Mythologie – Wahrsagerinnen und Priesterinnen
Deutsche Mythologie – Das Erforschen der Zukunft
Deutsche Mythologie – Ort der Götterverehrung
Deutsche Mythologie – Tempel
Deutsche Mythologie – Tempelfrieden
Deutsche Mythologie – Tempelschatz
Deutsche Mythologie – Götterbilder
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Der Anfang der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Die Einrichtung der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Das Ende der Welt


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