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Zeitalter des Nationalismus : Der Staatsbegriff in der Neuzeit

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aus dem Kunstmuseum Hamburg

Die Begriffe der Vergangenheit wirken bis in die Gegenwart noch fort. Die französische Revolution, die alles über den Haufen stürzen, alles frisch beginnen will, die sogar eine neue Zeitrechnung einführt, als ob mit der Hinrichtung Ludwig XVI. erst die Weltgeschichte begönne — gerade sie ist der deutlichste Beweis dafür, daß man den alten Sauerteig nicht so schnell verdaut:

Die Girondisten berufen sich auf Brutus und Cassius, Bonaparte auf Cäsar. Nicht die Revolution selbst, sondern die Gegenwirkung, die sie hervorrief, hat zu völlig neuen Umständen geführt. Napoleons Trachten nach einer Universalmonarchie regte die schlummernden Instinkte der Völker an. In Italien, in Deutschland, in den Niederlanden, und später auch in Polen, Böhmen und Ungarn, in Serbien, Bulgarien und Rumänien hub eine volkliche Bewegung an, die sich in der jüngsten Gegenwart bis nach Südafrika, Rußland, Türkei und Marokko fortpflanzte. Die Krone aller solchen Bestrebungen war der Nationalstaat.

Napoleon gab nur die Anregung, den äußeren Anstoß. Er beschleunigte eine Entwickelung, die ohnehin schon eingesetzt hatte. Beweis: der Sturm und Drang in Deutschland; die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ls war schließlich mit dem Wirken Napoleons wie mit dem Aulkommen der Renaissance. Nicht die Wiedergeburt des klassischen Altertums hat die Kunst Raffaels und die Reformation Luthers heraufgeführt, sondern sie traf auf eine Entwicklung, die schon seit Jahrhunderten jenem glänzenden Höhepunkte zustrebte. Es galt nur, längst vorhandene Gefühle und Gedanken auszulösen, das längst Schlummernde zum Bewußtsein zu bringen und in die Hallen der Tat einzuführen.

Die ganze jetzige Staatenwelt ist in ihren Grundzügen gar nicht sehr alt. China und Marokko sind beinahe die einzigen, die in ihrer heutigen Gestalt bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Die Dynastie, die Persien wiederum etwas in Ordnung brachte, kam erst nach 1790 auf den Thron; die Türkei ist durch die Reformen Mahmuds und die fortwährende Losbröckelung an der Peripherie, durch die Gleichberechtigung der Christen und durch den Zulaß von Kurden und Armeniern! in die Staatsämter ein Staat geworden, der mit dem Selims I. und Suleimans des Prächtigen wenig Ähnlichkeit mehr hat; das deutsche Reich von heute beginnt 1871, das moderne England eigentlich erst mit der imperialistischen Ara, die 1877 einsetzt, als sich Victoria zur Kaiserin von Indien erklärte, und dem Ausgleich von Adels- und Volksrechten, der durch eine Reihe von Wahlreformen zustande kam. Die Geburt Neu-Japans datiert von 1868; das Königreich Italien erstand 1870; ebenso das heutige Frankreich. Die Staaten Schweden und Norwegen sind erst von gestern. Ein neuzeitliches Rußland will jetzt erstehen. Im Lichte solcher Betrachtungen ist eigentlich die Nordamerikanische Union, deren verfassungsmäßige und tatsächliche Grundlagen seit 1783 so ziemlich fortbestehen, ein recht alter Staat. Besonders gegenüber Brasilien, das 1889 erst das Kaisertum abschaffte, und sich zur Republik erklärte.

Wir sehen also, daß das Staatensystem der Gegenwart durchaus nicht auf eine lange Tradition Anspruch erheben kann. Es ist, im Angesichte des Jahrtausends japanischen Mikadotums, byzantinischen und deutsch-römischen Kaiserreichs eine blutjunge Schöpfung. Die Staaten sind größer geworden, aber“der Staatsverband selbst hat sich gelockert. Es ist unvergleichlich viel leichter wie früher, aus einem Staatsverband in den anderen überzutreten; es ist sogar möglich, Bürger zweier Staaten zugleich zu sein. Das sind Verhältnisse, von denen sich das Altertum nichts träumen ließ. Wenn damals nur ganz vereinzelte Philosophen, die ein zigeunerhaftes Dasein lebten, sich als Weltbürger bekannten, so könnte man ein solches Bekenntnis in der Neuzeit namentlich in Deutschland, aus des ersten besten Spießbürgers Munde vernehmen, der nicht über Kirchturmsinteressen hinausblickt, sich aber über staatliche Bande erhaben dünkt. Sehr viel hat zu einer derartigen Anschauung der Gegensatz zwischen Staat und Kirche beigetragen. Früher verschmolzen beide Gewalten. Wer athenischer Bürger war, gehörte auch der athenischen Staatsreligion an. Heute herrscht sowohl der Zar, wie der König von England und die Königin von Holland über Protestanten und Katholiken, über Juden und Mohammedaner, über Buddhisten und Heiden. Wer dem Staat sich widersetzen will, findet immer in seiner Kirche einen Anhalt; der indische Mohammedaner Javas an den beiden Glaubensobherrn, dem Türkensultan und dem Emir von Mekka; der deutsche und französische Katholik am Papste. Darin ist der moderne Staat gegen früher zweifellos gesunken, daß er nicht mehr das religiöse Leben beherrscht. Wie der geistliche, so ist auch der weltliche Besitz von der Staatsgewalt unabhängig geworden. Die Neuzeit ermöglicht es, daß der in Papieren, statt in Land angelegte Besitz mit der Leichtigkeit eines Vogels die staatlichen Grenzen überfliegen kann, und in irgendeinem anderen Lande seine Heimat sucht und findet. Ein in London oder Berlin ausgestellter Scheck wird in Neuyork oder Sidney honoriert. Des weiteren sind die eisernen Klammern, mit denen früher der Staat Dichten und Trachten des einzelnen umschloß, gesunken. Die Kunst, die Wissenschaft, die Anschauung, Lebensweise und Tracht der Gebildeten —wenigstens im Kreise der Westarier— ist universell geworden; dieselben Sitten, Gedanken und Formen gelten von St. Franzisko bis Berlin.

Gerade diese zerfließende Universalität hat aber eine Gegenströmung ans Licht gerufen, die zu traulicher Enge, zu besonnenen Schranken, zu vaterländischer Gesinnung zurückführt. Das Hochbild des Nationalstaates ist emporgetaucht. Gegen die zentrifugalen Bestrebungen des Kosmopoliten, sei es der schwarzen oder der roten oder der goldenen Internationale, erheben sich die zentripetalen Wünsche der Volks- und Vaterlandsfreunde. Rein äußerlich schon läßt sich diese Strömung deutlich verfolgen. Der faden, nüchternen Allerweltstracht gegenüber sucht man neuerdings, namentlich in Bayern, Baden und Japan die malerische farbenprächtige Volkstracht wieder zu Ehren zu bringen. Die Allerweltskunst weicht bodenständiger Heimatskunst; in der Dichtung kommt die Mundart zur Geltung; die Baukunst wird es müde, vom Antiken zum Gotischen, vom Romanismus zum Rokoko zu taumeln; man schließt sich den Formen thüringischer Bauernhäuser an, erfindet einen in die Landschaft passenden Villenstil, und sucht auch auf diesem Gebiet eine nationale Kunst heraufzuführen. Man lernt endlich das Eigene schätzen, das Fremde kühler zu betrachten. So sind wir auf dem Umweg von Partikularismus über den Nationalismus zum Heimatstile zurückgekehrt, wissen das Eigene, Besondereliebevoll zu pflegen, ohne die Vorteile einer großzügigen Höhenkunst preiszugeben. Wenn auch dies augenblicklich noch mehr Forderung als Erfüllung ist: der Grundzug unserer Zeit, ihr Sehnen und Trachten ist damit dargestellt.

Dazu kam äußerer Zwang. Die fremden Völker und Völkchen, ebenfalls erstarrt, erwachten und fühlten sich, drängten und schoben. Sie wollten zur Anerkennung, zur Geltung, zu Rechte kommen. In Großbritannien erhoben sich die Iren und die Leute von Wales gegen die Angelsachsen, in Belgien die Vlamen gegen die Wallonen, die Polen und die Dänen gegen die Deutschen; in Österreich vollends war die Hand aller gegen alle! In dieser Bewegung der Volkheiten sind wir noch mitten drin, und mit ihr muß sich der moderne Staat auseinandersetzen. Seinem innersten Wesen nach ist der Staat immer in erster Linie territorial. Die Nationalitäten aber rühren und recken sich über die Landesgrenzen hinaus; ihr Bestreben ist nicht selten unmittelbar gegen den Bestand des Staates gerichtet. Daher ist auch z. B. die deutsche Reichsregierung alldeutschen Wünschen keineswegs hold, und ebenso bedeuten die polnischen Treibereien das Sorgenkind dreier Kaiser. Dieser Gegensatz ist jedoch keineswegs unausweichlich. Das beweist der italienische Staat, der die Pläne der Irredentisten in Triest und Trient begünstigt. Hier ist in der Tat die Lösung des Widerspruchs zu finden, die Aussöhnung der Gegensätze. Der Nationalstaat muß selbst der herrschenden Nation die Fahne vorantragen, er muß sich mit den Staaten verwandten Volkstums verbinden. Das tat Deutschland mit Österreich, das noch immer von Deutschen regiert wird, und will England mit Amerika tun.

Text aus dem Buch: Männer, Völker und Zeiten, eine Weltgeschichte in einem Bande, Verfasser: Wirth, Albrecht.

aus dem Kunstmuseum Hamburg

Weltgeschichte in einem Bande:
Männer, Völker und Zeiten – Anfänge
Der alte Orient und Griechenland
Arier und Chinesen
Juden und Phönizier
Feudalherrschaften in China, Indien, Vorderasien und Hellas
Homer
Assyrer und Perser
Religionsstifter und Philosophen
Perserkriege
Peloponnesischer Krieg
Anfänge Roms
Politischer Niedergang Athens
Alexander der Große
China und Rom
Punische Kriege
Der Staatsbegriff im Altertum
Kelten und Romanen
Hellenismus
Wuti und Cäsar
Römischer Imperialismus
Germanen
Christentum
Die Cäsaren und die späteren Han
Römische Spätzeit – Anfänge Japans
Völkerwanderung – Weltstellung des Christentums
Die Reiche der Völkerwanderung
Der Islam
Karl der Große
Anfänge der modernen Völker
Papsttum und Kaisertum – Aufstieg des Papstes
Die Kreuzzüge
Westöstliche Kulturvermittlung
Der Kampf der Weltreligionen
Der Staatsbegriff im Mittelalter
Mongolensturm
Aufschwung der Seestädte
Die Geburt heutiger Volkstümer und Sprachen
Die Zünfte
Die Condottieri
Entdeckungen und Erfindungen : Renaissance und Reformation
Entdeckungen und Erfindungen : Europäer in Afrika, Asien und Amerika
Entdeckungen und Erfindungen : Südeuropa gegen Nordeuropa
Aufstieg der Nordvölker : Holländer und Engländer
Aufstieg der Nordvölker : Kämpfe in Ostasien
Aufstieg der Nordvölker : Abschließung Ostasiens
Aufstieg der Nordvölker : Peter der Große
Aufstieg der Nordvölker : Das Wachstum Preußens
Aufstieg der Nordvölker : England und Frankreich werden Weltmächte
Aufstieg der Nordvölker : Friedrich der Große
Aufstieg der Nordvölker : Die Vereinigten Staaten von Amerika
Zeitalter der Revolutionen : Napoleon
Zeitalter der Revolutionen : Wachstum Englands
Zeitalter der Revolutionen : Lateinisch-Amerika unabhängig
Zeitalter der Revolutionen : Heilige Allianz und Romantik
Zeitalter der Revolutionen : Die Woge des Liberalismus
Zeitalter der Revolutionen : Englands Hand über Asien und Afrika
Zeitalter der Revolutionen : 1848
Zeitalter der Revolutionen : Krimkrieg
Zeitalter der Revolutionen : Erschließung Ostasiens
Zeitalter der Revolutionen : Bürgerkrieg in Nordamerika
Zeitalter der Revolutionen : Einigung Italiens und Deutschlands
Zeitalter der Revolutionen : Der Mikado stürzt den Shogun
Zeitalter der Revolutionen : Erschließung Afrikas
Zeitalter der Revolutionen : 1870/71


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