aus dem Kunstmuseum Hamburg
Nervosität, die Krankheit unserer unruhigen Zeit, hat, wie es scheint, auch die Diplomaten in Paris, London und St. Petersburg erfaßt, seitdem die Türkei gewisse Regungen von Selbständigkeit bekundet hat und in ihrer auswärtigen Politik den Versuch macht, neue Wege zu gehen. Namentlich in Paris und London ist man über diese größere Selbständigkeit unangenehm berührt und wittert dahinter natürlich Deutschland und seine „Klienten“, obgleich die Vorgänge der letzten Wochen sich ungezwungen aus der veränderten inneren Lage der Türkei erklären lassen, ohne daß es nötig wäre, nach auswärtigen Anregungen zu suchen. Die englischen und französischen Blätter überbieten sich jetzt in der Anpreisung der guten Dienste, die man von jener Seite der jungen Türkei angeblich geleistet und wirft der türkischen Regierung krassen Undank und sonstige Untugenden vor.
In der Türkei aber erinnert man sich nunmehr mancher Vorkommnisse an den Gestaden des Roten Meeres und des Persischen Golfs, an den Grenzen von Tunis und in Aegypten, die keineswegs danach angetan sind, als gute Dienste angesprochen zu werden; und man wird zurückhaltender in seinen Freundschaftsbezeigungen, stellenweise sogar grob, wie z. B. Frankreich gegenüber in der Anleihefrage.
Das widerspricht so sehr allem jahrzehntelangen Brauch, daß man an der Seine und Themse unruhig wird, die Türkei gern wieder ins Schlepptau nehmen möchte — und den bösen Dreibund mit Deutschland an der Spitze für all die kürzlich erlebten Enttäuschungen und Ueberraschungen verantwortlich macht.
Zuletzt hat der „Temps“ vor kurzem wieder in diesem Sinne das Verhältnis Deutschlands zur Türkei besprochen. Dabei vergessen die Publizisten dieser Art, daß die Türkei nun einmal ein konstitutioneller Staat mit parlamentarischer Vertretung geworden ist, der zwar noch völlig in der Entwicklung begriffen ist, doch aber verlangen kann, daß man ihn gebührend beachtet und vor allem ihn nicht unnütz schulmeistert und mit Gegenmaßregeln bedroht, wenn er in der auswärtigen Politik sich von den zwei Westmächten selbständig macht und seine militärischen Kräfte den neuen Aufgaben anpaßt.
In Frankreich und England hat man die neue Türkei anfangs mit Schmeicheln und Lob günstig zu stimmen versucht, behandelt sie aber hinterher von oben herab, als ob die staatlichen Umwälzungen von 1908 und 1909 gar nicht gewesen wären. Ein solches Doppelspiel führt zu nichts gutem, denn es wird schließlich durchschaut und erweckt Mißtrauen, das hinterher trotz redlichen Willens schwer zu beseitigen ist und nur dazu führen muß, daß die Türkei Rumänien und dem Dreibund sich nähert. — Das sind im wesentlichen die Schlußfolgerungen, die auch die leitenden türkischen Zeitungen während der letzten Wochen aus dem Verhalten der französischen und englischen Presse und Diplomatie gezogen haben.
Die unruhige, nervöse Stimmung in England und Frankreich im Herbst 1910 zeitigte die wenig erfreuliche Erscheinung, daß jedes auch noch wie geartete Unternehmen Deutschlands im Orient sofort höchst unfreundliche Kommentare in den englischen und französischen Zeitungen hervorrief.
Eine Antwort auf dieses leider unausrottbare Gebahren ausländischer Publizistik, das im Streit um die Bagdadbahn seine tollsten Kapriolen aufwies, war im folgenden Artikel enthalten.
D. 0. K. 1910, 28, Oktober.
Text aus dem Buch: Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte, Verfasser: Wiedemann, Max.
Siehe auch:
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Vorwort
Die Türkei, Deutschland und die Westmächte.
Deutschlands Verhältnis zur Türkei
Der Verkauf deutscher Kriegsschiffe an die Türkei
Die Sorgen der türkischen Marine um ausreichende Transportschiffe
Frankreich — noch immer die „christliche Vormacht“ im Orient
Frankreich als Lehrmeister der neuen Türkei
Eine türkische Studienreise nach Frankreich
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Überraschungen