aus dem Kunstmuseum Hamburg
Im Februar d. J. machte die „Deutsche Orient-Korrespondenz“ auf die Tatsache aufmerksam, daß Sir Willcocks, der in Mesopotamien tätige Wasserbautechniker, sich den Ausbau einer Bahn zwischen Euphrat und Tigris mit einem Anschlußgleise nach Bagdad hätte konzessieren lassen. Die „Deutsche Orient-Korrespondenz“ knöpfte hieran die Bemerkung, daß es fraglich erscheine, ob diese Bahnstrecke nur dazu dienen sollte, die Heranführung von Arbeitern und Arbeitsmaterial für die Kanalbauten zu erleichtern, oder ob nicht vielmehr dieser Bahnbau den Beginn des Ausbaues der von Sir Willcoxs vorgeschlagenen Bahnlinie Bagdad-Damascus bedeute. Kaum war diese Nachricht damals in die Presse erschienen, als auch sofort der Dementierapparat — diesmal im „Temps“ — in Bewegung gesetzt wurde. Die Deutschen sollten sich nur nicht so aufregen, hieß es; die Nachricht wäre falsch und an einer Ausführung des Projekts – nicht zu denken. Falls Sir Willcocks dem Plane näher treten sollte, so würde auch nichtenglisches Kapital herangezogen werden. Jetzt wird der „Deutschen Orient-Korrespondenz“ aus Bagdad berichtet, daß Sir Willcocks tatsächlich mit dem Plan umgeht, Kapitalien für den Ausbau einer Bahn von Bagdad nach Damascus zu beschaffen. Es bedarf keiner näheren Ausführung, um die Bedeutung dieser Bahnlinie für den mesopotamischen Handelsverkehr klarzumachen, würde sie doch unter Benutzung der bestehenden Bahnstrecke Damascus-Beirut, das Zentrum Mesopotamiens auf dem kürzesten Wege mit dem Mittelländischen Meer verbinden. Eine weitere Bedeutung gewinnt aber diese Bahnstrecke, wenn man sie vom Standpunkt der deutschen Interessen aus betrachtet; sie würde sich zu einer gefährlichen Konkurrenzlinie des unter deutscher Leitung stehenden Bagdadbahnunternehmens entwickeln, und dieser Umstand allein genügt schon, um französische Zeitungen zu einer warmen Unterstützung des Willcocksschen Projekts zu veranlassen. Wollte man von deutscher Seite derartige Pläne verfolgen, so würden dieselben Zeitungen in höchste Aufregung geraten und uns wieder die Märchen von deutschen Expansionsgelüsten in Kleinasien und Mesopotamien auftischen; da es aber Engländer sind, die noch dazu ein Unternehmen planen, das deutsche Interessen schädigen könnte, so haben die Franzosen gegen das Projekt nichts einzuwenden. Das ist die Wirkung der „Entente“, die man schon zu Genüge während der Marokkohändel verspürt hat. Jetzt greift sie in ihrer Wirkung auch nach Mesopotamien hinüber, und sucht auch dort, deutschen Bestrebungen entgegenzuarbeiten. Gelingt es Willcocks, seinen Plan durchzuführen, dann werden die Leiter des Bagdadbahnunternehmens wohl mehr als je bedauern, daß sie vor sieben Jahren schon von Kennern der mesopotamischen Verhältnisse ausgesprochenen Vorschlägen nicht gefolgt sind und damals schon mit dem Ausbau der südlichen Strecke der Bagdadbahn — Bassra-Bagdad — begonnen haben. Je länger mit der Herstellung dieser Bahnlinie gezögert worden ist, um so mehr Zeit haben die Engländer gewonnen, um in Süd-Mesopotamien ihre wirtschaftlichen Unternehmungen — Kanalbauten, Petroleumraffinerie und jetzt auch Eisenbahnbauten weiter auszudehnen. Schließlich wird die Zeit bald kommen, daß auch die Bahnlinie Bagdad-Bassra den Engländern als reife Frucht zufällt, und die deutschen Kapitalisten werden diesen Mißerfolg ihrer Verkehrspolitik ihrer eigenen Kurzsichtigkeit zuzuschreiben haben, weil sie nicht rechtzeitig dort unten in Süd-Mesopotamien den Ausbau einer Bahnstrecke in Angriff genommen haben, die aus sich selbst heraus, auch ohne „Kilometergarantie“, sich rentiert hätte.
Nähere Angaben über den Anteil Deutschlands am mesopotamisch-persischen Handel sowie an den Kapitalsanlagen in türkischen Bahnen enthalten die zwei nächsten Artikel; in dem zweiten, hier folgenden Artikel sind auch Mitteilungen über die Linienführung der Bagdadbahn besprochen.
D. O. K. 1909, 16. September.
Text aus dem Buch: Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte, Verfasser: Wiedemann, Max.
Siehe auch:
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Vorwort
Die Türkei, Deutschland und die Westmächte.
Deutschlands Verhältnis zur Türkei
Der Verkauf deutscher Kriegsschiffe an die Türkei
Die Sorgen der türkischen Marine um ausreichende Transportschiffe
Frankreich — noch immer die „christliche Vormacht“ im Orient
Frankreich als Lehrmeister der neuen Türkei
Eine türkische Studienreise nach Frankreich
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Überraschungen
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Nervosität
Bagdad und Teheran : politische Betrachtungen und Berichte – Übertreibungen
Der Streit um die Bagdadbahn
Deutschland und die Bagdadbahn