aus dem Kunstmuseum Hamburg
Meine besten Wünsche für meine Freunde, die Netschjillieskimos, fasse ich zusammen in dem einen, daß ihnen die Zivilisation niemals nahen möge!
Meine Polarfahrt auf der Gjöa 1903 bis 1907
Siebentes Kapitel
In diesem Kapitel will ich versuchen, meine persönlichen Eindrücke von den Eskimos, mit denen wir an der Nordostküste von Amerika zusammengetroffen sind, wiederzugeben, das heißt, meine Beobachtungen über ihr Leben und ihren Kampf ums Dasein.
Unsre Auffassuugen über diese Eskimos waren sehr verschieden, und ich kann wohl sagen, daß jeder einzelne von den sieben Mitgliedern der Gjöaexpedition sein ganz besondres Urteil über diese Eskimos hatte. Wegen deren Sprache und Aussprache lagen wir täglich im Streit, ja wir einigten uns gewissermaßen nicht um ein einziges Wort. Würde daher ein andres Mitglied als ich von diesen Menschen erzählen, dann würden dessen Schilderungen gewiß in vielen Punkten von den meinigen ab weichen, ohne daß man sagen könnte, welches die richtigere und wahrere von beiden wäre. Wenn ich nun von diesen Bewohnern des magnetischen Pols, den Netschjillieskimos erzähle, werde ich sie nur so darzustellen versuchen, wie sie mir entgegengetreten sind und wie ich sie habe kennen lernen. Es gibt auf diesem Gebiet gar vielerlei Quellen und Autoritäten, wo ich hätte nach-sehen können, um meinen Lesern ein erschöpfenderes Kapitel über die Eskimos zu geben; aber ich habe diese Bücher absichtlich nicht gelesen, gerade weil ich fürchtete, ich würde dann vielleicht das erzählen, was andre gesehen und erlebt hätten, und nicht ich selbst. Wegen meiner mangelhaften Kenntnis ihrer Sprache mögen freilich auch einige irrtümliche Auffassungen der Erklärungen, die mir die Eskimos gaben, mit unterlaufen, aber ich glaube doch zuversichtlich sagen zu können, daß die Hauptsachen richtig sein werden. Unser Alphabet hat Buchstaben genug, die Laute der Eskimo – Aussprache wiederzugeben; deshalb habe ich die annähernd ähnlichen Buchstaben genommen und dem Laut so nahe wie möglich zu kommen versucht.
Die Eskimos auf der Halbinsel Boothia-Felix an der Nordostküste von Amerika und westwärts nach dem Kobber-minefluß sind — ihrer eignen Aussage gemäß — in folgende Stämme eingeteilt: der Itchjuachtorvikstamm, der seinen Hauptsitz um Elizabeth, Victoria, Felix und Sheriffhafen auf der Ostküste von Boothia-Felix hat, in Itchjuachtorvik, wo Sir John Roß mit seinem Schiff „Victory“ 1827 bis 1833 überwinterte; der Netschjillistamm bei dem Willerortsee (Netschjilli) auf dem Boothia-Isthmus; der Utkohikchjallik-stamm in Utkohikchjalli oder den Gegenden um die Mündung des Backflußes und des Großen Fischflusses in das Eismeer; der Oglulistamm in Ogluli, der Westküste von der Halbinsel Adelaide; und endlich der Knlnermiunstamm in Kiilnermium oder der Gegend um die Mündung des Kobbermineflusses ins Eismeer. Durch Umgang, Verheiratung und Aufnahmen sind diese verschiednen Stämme so ineinander verschmolzen, daß sie in Wirklichkeit nur als ein einziger Stamm gerechnet werden können. Aussehen, Kleidung und Gebräuche sind auch beinahe dieselben, und das bewirkt noch eine weitere Verschmelzung. Doch halte ich es nicht für richtig, wenn man — wie ich in vielen Abhandlungen und Berichten gelesen habe — alle diese verschiednen Stämme als einem einzigen ursprünglichen Grundstamm, dem Netschjillistamm, angehörig betrachtet. Die Oglulieskimos sind der Stamm, der am meisten in Berührung mit dem Weißen kam. In deren Nähe haben die Leute von der Franklinexpedition ihren letzten Seufzer ausgehaucht. Mit diesem Stamm trafen auch Mc. Clintock, Hall und Schwatka auf ihrer Forschungsreise nach den Franklin-Papieren zusammen, und diese Eskimos waren also auch die ersten, denen wir begegneten. Mehrere Leute dieses Stammes konnten sich noch an die Mitglieder der Schwatkaexpedition erinnern, und es hatten sich auch noch einige Überbleibsel von englischen Worten unter ihnen erhalten, so zum Beispiel „oata“ (Wasser) und „naiming“ (knife). Ein andrer schlagender Beweis dafür, daß dieser Stamm früher schon mit zivilisierten Menschen zusammengewesen war, ist auch die Tatsache, daß uns der alte Teraiu schon am ersten Abend, wo wir mit ihm zusammentrafen, bereitwillig seine Frau Kajogollo anbot. Sonst waren eigentlich keine sichtbaren Dinge vorhanden, die man sonst nach einem Beisammensein mit weißen Menschen findet. So gab es zum Beispiel außerordentlich wenig eiserne Gegenstände bei ihnen. . Bei den andern Stämmen war sogar, ausgenommen die Netschjillieskimos, ein vollständiger Mangel an Eisenmaterial. Von den übrigen Stämmen waren die Itchjuachtorvik- und Netschjillieskimos im Jahr 1829 bis 1834 mit Engländern zusammengewesen; aber jene Leute waren jetzt alle tot. Nur im Netschjillistamm waren noch drei alte Frauen am Leben, die erzählen konnten, sie hätten einst weiße Männer gesehen, nämlich bei Evili (Repulse Bay), wo sie damals mit ihren Männern gewesen seien.
In demselben Jahr, wo wir King-Williams-Land erreichten, waren vier Netschjillieskimos südwärts nach Evili gezogen, um Pelzwerk zu verhandeln. Dies war ein Zeichen von Unternehmungsgeist, den wir bei keinem der andern Stämme bemerkten. Sonst sahen wir bei unsrer ersten Begegnung mit den Netschjillieskimos nichts, was auf eine Verbindung mit der Außenwelt hätte schließen lassen, mit Ausnahme von einigen eisernen Stangen und Messern, die sie sich von den südlicher wohnenden Eskimostämmen eingehandelt hatten. Mit einem Schlag standen wir hier von Angesicht zu Angesicht einem Volk aus der Steinzeit gegenüber, wurden also ohne Übergang mehrere tausend Jahre in der Zeitrechnung zurückversetzt, zu Menschen, die keine andre Art des Feuer-anzündens kannten, als zwei Stücke Holz aneinander zu reiben, und die mit Mühe und Not ihr Essen über der Seehundstranlampe nur einigermaßen lau bekamen, während wir unser Essen auf unserm modernen Kochapparat in ein paar Minuten zum Kochen brachten. Wir kamen mit unsern sinnreichen, modernen Erfindungen auf dem Felde der Schießwaffen zu Menschen, die noch Lanzen, Pfeile und Bogen aus Renntierhorn gebrauchen. Ihre Fischgeräte bestanden aus langen, von Renntierhorn verfertigten Spießen. Stunde um Stunde mußten sie beschwerlich dastehen und jeden einzelnen Fisch, je nachdem er daherkam, aufspießen — während wir nur unsre Fischnetze auswarfen und so viele Fische fingen, wie wir wollten. Wenn man übrigens nach den Waffen, Geräten und dem Hausrat dieser Menschen auf einen minderwertigen Verstand schließen wollte, so täte man ihnen unrecht. Die anscheinend so primitiven Gegenstände erwiesen sich den vorhandnen Bedürfnissen und Verhältnissen so gut angepaßt, wie sie nur die Erfahrung und ein kluges Ausprobieren durch Jahrhunderte hindurch hergestellt haben konnten.
Netschjilli — die Heimat und das irdische Paradies der Netschjillieskimos — liegt, wie schon gesagt, auf dem Boothia-Isthmus. Der große Willerortsee mit seinen moosbewachsenen Ufern und seinem kleinen Bach, der ins Meer fließt, trägt schon seit Jahrhunderten diesen Namen. Hier hat der Netschjillistamm sein Vaterland; hier an diesen Ufern sind ihre Väter und Vorfahren in den hellen Sommernächten von ihren Zelten auf die Jagd ausgezogen. Hier liefen sie als Kinder mit ihren kleinen Bogen und Pfeilen umher und schossen auf kleine Vögel, um später das große Wild wie im Sturm verfolgen und erlegen zu können. Hier sind sie in ihrer Jugend mit den Alten ausgezogen und erhielten manchen guten Rat und machten viele gute Erfahrungen, bis sie schließlich selbst als Ehemänner und Väter im Ernst den Kampf ums Dasein aufnahmen, in dem Leben, das ihnen beschieden ist. Wir sind mitten im Juni, dem schönsten Monat in diesen Gegenden. In Frieden und Ruhe können wir die herrlichen Sommerabende genießen; denn die Mücken, die schlimmste aller arktischen Plagen, die selbst den entzückendsten Sommerabend zu einer Hölle machen kann, sind noch nicht gekommen. Die Zelte liegen einzeln über das ganze Territorium zerstreut. Der eine hat sich eine kleine Felskuppe mit der Aussicht auf den Zeltplatz gewählt, ein andrer das Ufer eines kleinen Gewässers, in dem die Forellen dick und fett herumschwimmen. Die Zelte sind keine Prachtwerke. Die meisten sind aus Renntier-und Seehundfellen zusammengenäht. Die besten Jäger haben ausschließlich Seehundfelle, die schlechtesten ausschließlich Renntierfelle. Seehundfell ist kostbarer als Renntierfell.
Atikleura hat in diesem Sommer für sein Zelt die höchste Felsenkuppe gewählt, wo er die Renntiere gleich bei ihrer Ankunft erspähen kann. Sein Zelt ist ein wahres Musterzelt. Es besteht aus dünnen wohlerhaltnen Seehundfellen. Selbst die Nähte sind bei Atikleuras Zelt feiner als bei den andern. Die Zeltöffnung liegt gegen den Wind. Ein reicher Mann wie Atikleura gebraucht drei Zeltstangen — eine Hauptstange, die das ganze Zelt trägt, und zwei übers Kreuz gelegte, die den Eingang bilden. Ein besondres Patent für einen Zelteingang gibt es nicht. Um das Zelt am Boden festzuhalten, sind ringsum große Steine auf den Rand der Zeltdecke gelegt. Wenn die Eskimos Weiterreisen, bleiben diese Steine liegen und bilden ungefähr einen Kreis. Diese Kreise werden Zeltringe genannt, und wir fanden solche über ganz King-Williams-Land zerstreut. Selbst in der Auswahl dieser Steine zeigt der Eskimo seinen Geschmack. Atikleuras Zeltring zu sehen, ist zum Beispiel ein wahres Vergnügen. Seine Einrichtung besteht nicht aus Luxusgegenständen, aber für ein Eskimozelt ist es ungewöhnlich reinlich und ordentlich darin. Der Moosboden, auf dem das Zelt steht, ist mit vielen Renntierfellen bedeckt. Und da Atikleuras Frau, Nalungia, ihre Ehre darein setzt, ein hübsches Heim zu haben, liegen die Felle in schöner Ordnung da. Nirgends ist eine Spur von Küchengeräten zu entdecken. Die Küche ist dicht vor dem Zelteingang. Die Specklampe wird nur im Winter gebraucht, im Sommer wärmt man sich das Essen mit Heidekraut. Das Feuer wird zwischen zwei Steinen angezündet und der Kochtopf über den Spalt in die Mitte gestellt. Die Kochtöpfe sind von verschiedner Größe. In einer Musterhaushaltung wie Atikleuras sind sie ungefähr fünfundsiebzig Zentimeter lang, fünfundzwanzig Zentimeter breit und fünfundzwanzig Zentimeter hoch. Sie werden aus einer weichen Steinart gemacht, die sie von ihren Freunden, den Utkohikchjallikeskimos bekommen.
Klein Anni springt zwischen den Zelten umher und spielt; er ist in Gefahr, verzogen zu werden. Alle andern Kinder in seinem Alter müssen arbeiten und Hand mit an-legen, aber bei den reichen Leuten ist das anders. Errera, der älteste Sohn, ist ein prächtiger Bursche. Er kommt gerade vom Fischfang heim. In der einen Hand trägt er seine Fischgabel (kakiva) und auf dem Rücken in einem Ranzen aus Seehundfell seinen Fang. Er wirft den Ranzen der Mutter hin, die mit ihrer ewigen Näharbeit im Zelt sitzt, und lehnt dann den Spieß an die Zeltwand. Die Fischgabel (Figur 1) besteht aus vier Teilen. Der Schaft ist aus Holz, und je länger er ist, desto besser; unter drei Meter Länge soll er nicht haben. Ganz außen an diesem Schaft sind die drei andern Teile mit Schnüren aus Renntiersehnen festgemacht. Zwei Teile davon sind von derselben Form und bilden die äußeren Wände der Gabel; beide haben an ihrer Innenseite einen Widerhaken. Der dritte Teil besteht nur aus einer scharfen Spitze, die in das Ende des Schaftes hineingedreht und festgeschnürt ist. Mit dieser Spitze werden die Fische aufgespießt, und die Widerhaken an den beiden Seitenteilen verhindern den Fisch am Wiederhinausgleiten. Ursprünglich wurde dieses Geräte nur aus Renntierhorn gemacht; jetzt in unsern Tagen bestehen die mittlere Spitze und die Widerhaken sehr häufig aus Eisen und die Seitenstücke aus Knochen von Moschusochsen. Das Horn der Moschusochsen ist ein elastischeres Material als das Renntierhorn.
Klein Anni ist schon zu der Mutter hingelaufen, die in dem Fischranzen umhersucht, den Inhalt zu prüfen. Jetzt gilt es, sich einen guten Bissen zu ergattern. Die rohen Fischaugen besonders sind das Ziel seiner Wünsche. Die Augen gelten als ein großer Leckerbissen, und Klein Anni läßt nicht nach, bis er seinen Teil davon abbekommen hat. Die übrigen Mitglieder der Familie verzehren einen Teil der Beute sogleich roh, der Rest wird zum Erwärmen in den Topf gesteckt. Eigentlich gekocht werden die Speisen nicht; dieses Wärmen ist aber doch keine so ganz einfache Verrichtung, wie man denken könnte. Die Eskimos kennen ja unsre Zündhölzer nicht, die das Feuer in einem Nu hervorzaubern. Ihr Feuerzeug ist von der allerprimitivsten Art. Es besteht aus zwei Holzstücken, einem flachen, mit einer Reihe Vertiefungen darin, und einem an beiden Enden abgerundeten runden Stab, sowie einem Stück Renntierknochen und einer dicken, kräftigen Schnur aus Renntiersehnen. Außerdem ist ein kleines, mit völlig dürrem Renntiermoos gefülltes Säckchen unentbehrlich. Wenn Feuer angemacht werden soll, wird das flache Stück mit den Vertiefungen nach oben auf eine harte Unterlage gelegt; der andre Teil, der runde Stab, wird mit dem einen Ende, das genau in die Vertiefungen des flachen Stückes hineinpaßt, in eine von diesen gesteckt, das andre aber in das entsprechende Loch des Rentierknochens, der gegen die Brust gedrückt wird. Die Renntiersehne wird einmal um den Stab geschlungen und dann eifrig hin und her gezogen. Im Winter geht es oft sehr langsam, aber in der gegenwärtigen Jahreszeit, wo alles trocken ist, bringen die Eskimos in wenigen Augenblicken ein Feuer zustande. Bald raucht es lustig von den beiden Holzstücken, und der Arbeitende hält inne und sieht nach. Wenn er genügend gedreht hat, so muß sich ein feines Holzpulver gebildet haben, das jetzt glüht. Dieses glühende Pulver wird von dem Holzstück in den Beutel voll dürren Renntiermooses hineingeklopft, wo es durch beständiges Draufblasen zu weiterem Umsichgreifen gebracht wird. Wenn dann das Moos glücklich Feuer gefangen hat, wird es mit irgend einem mit Tran getränktem Stoff in Verbindung gebracht, und da flammt es sogleich hell auf. Wer zuerst ein Feuer zustande gebracht hat, leiht natürlich gerne seinen Nachbarn davon.
Ich zeigte ihnen einmal, wie wir mit Hilfe der Sonne und eines Brennglases Feuer machen können. Dies er götzte sie sehr, aber es fiel ihnen nicht ein, sich ein Brennglas zu verschaffen und sich die neue Weisheit zu Nutzen zu machen. Wenn der Fisch endlich warm ist, geht die Familie im Ernst ans Essen. Gabel und Messer kennen Atikleura und seine Familie natürlich nicht. Sie müssen sich mit den Eßgeräten begnügen, die die Natur ihnen verliehen hat. Da mag es einem ja bisweilen recht warm an den Händen werden, aber sie nehmen das nicht so genau. Nach beendigter Mahlzeit beschäftigt sich jedes eine Weile nach eigenem Belieben. Errera entdeckt einen Fehler an seiner Fischgabel und sucht ihn zu verbessern. Bei den Eskimos wird jede Arbeit unter Gesang getan, wenn man überhaupt einen so schönen Namen für die Laute, die sie hervorbringen, anwenden will. Aber nicht die allergeringste Arbeit wird von Mann oder Frau getan, ohne daß sie von diesem merkwürdigen, einförmigen Tonbildungen begleitet würde: „c-d-e-f, f-e-d-c, c-e-d-f, d-f-e-c“ — so geht es fort bis ins Unendliche. Selbst für einen Menschen, dessen höchste Leistung sich auf ein einfaches ,/0 du lieber Augustin!“ beschränkt, ist diese einförmige Musik zum Verrücktwerden. Wenn ich den Eskimos einen Besuch machte, unterbrachen sie doch immer ihren Gesang, weil sie wußten, daß ihre musikalischen Übungen sofort ansteckend auf mich wirkten, und da schwiegen sie lieber, als daß sie mich anhörten. Während Errera seine Fischgabel ausbessert, trifft Nalungia Vorbereitungen, Atikleuras Kajak instand zu setzen. Der Kajak liegt jetzt vor dem Zelt auf drei kleinen Steinhaufen, die so hoch sind, daß die Hunde nicht daran kommen können. Alle Holzarbeit ist schon fertig. Es muß nur noch zum Schluß da und dort etwas geleimt und verschnürt werden. Das Zusammensetzen ist eine große Geduldprobe für Nalungia gewesen, denn der Kajak besteht aus vielen ganz kleinen Holzstücken, die fest zusammengebunden werden. Zum Zusammenbinden werden Renntiersehnen verwendet, die in trocknem Zustand ausgezeichnet halten; wenn sie aber naß werden, dehnen sie sich aus und die Verschnürung gibt nach. Nur wo es sich um eine feinere Zusammenfügung handelt, wird Leim angewendet. Dieser Leim wird auf höchst eigentümliche Weise aus Renntierblut hergestellt. Ein ganz kleiner Beutel wird mit Blut gefüllt, der Eskimo nimmt ihn in den Mund und saugt lange Zeit daran. Durch diese Behandlung gerinnt das Blut und bildet eine dicke Flüssigkeit, die unserm besten Leim vollkommen gleichgestellt werden kann.
Atikleura möchte sein Boot möglichst rasch fertig haben, um es benutzen zu können, sobald das Eis auf dem Fluß aufgeht. Die Renntiere stellen sich nämlich schon in Rudeln ein, und die große Sommerjagd wird bald ihren Anfang nehmen. Es wird auch allmählich Zeit, daß die Leute etwas frisches Renntierfleisch bekommen, denn es ist lange her, seit sie das letzte gegessen haben. Außerdem ist fast der ganze Vorrat an Faden aufgebraucht; als das Boot vollends zusammengebunden ist, bleibt der Hausfrau keiner mehr übrig; und Seehundsehnen taugen nichts. Es ist ein wahres Vergnügen, Nalungia zu beobachten, die sich alle Mühe gibt, möglichst rasch fertig zu werden. Einfacher Faden ist zu dünn zum Zusammennähen des Kajaküberzugs. Nalungia ist deshalb dabei, einen dickeren zu flechten. Ihre kleinen Hände — jawohl, denn feinere und wohlgeformtere Hände und Füße als die der Eskimofrauen gibt es wohl kaum — bewegen sich so hurtig, daß man die einzelnen Finger nicht unterscheiden kann. Auf diese Weise ist die ganze Familie vollauf beschäftigt. Und wir gehen deshalb jetzt zu Atikleuras Nachbar Kaa-aak-kea hinüber, um zu sehen, wie es dort aussieht. Sein Zelt hat eine merkwürdige Lage, und wir können unmöglich verstehen, warum er gerade diesen Platz gewählt, hat, der weder auf einer Anhöhe noch in der Nähe von Wasser ist. Aber es gibt ja überall Sonderlinge, warum nicht auch unter den Eskimos! Ein halber Blick auf das Äußere des Zeltes sagt uns schon, daß wir es hier mit dem vollständigen Gegensatz zu der Familie Atikleura zu tun haben. In der Zeltdecke befindet sich fast gar kein Seehundfell. Sie ist aus durchlöcherten, wurmstichigen Renntierfellen zusammengenäht. Er hat sich nicht einmal Zeit genommen, die Haare zu entfernen; da und dort sitzen noch große Büschel daran, und die Nähte entsprechen den Fellen. Ein Stich hier und ein Stich da. Es ist so schlecht gemacht, daß möglicherweise ich selbst es schließlich besser hätte machen können. Eine Menge Fischgräten liegen vor dem Zelt und ziehen ganze Schwärme von Schmeißfliegen herbei.
„Manik-tu-mi, Kaa-aak-kea!“ Ein langgezogenes träges Maniktumi dringt aus einem Haufen von Felldecken zu mir heraus. Er ist noch nicht aufgestanden. Man sieht nur eine Strähne verwirrten Haares und zwei blutunterlaufene Augen, die aus einer Felldecke hervorleuchten. Hier drinnen ist alles mit Schmutz besudelt, und es riecht auch danach. Ich lasse mich daher in keine längere Unterhaltung mit ihm ein; so gern ich es möchte, aber ich kann kein Mitleid mit diesem Menschen haben, denn seine eigene Roheit ist schuld daran, daß er jetzt einsam und verlassen ist. Seine erste Frau hat er oft mißhandelt, er schlug und prügelte sie, daß sie grüne und blaue Flecken bekam. Sie starb im Wochenbett, und das war ein Glück für sie. Kaa-aak-kea fand indes den Witwerstand etwas traurig und sah sich bald nach einer andern Frau um. Das ist aber nicht so leicht, wenn die Frauen so wenig zahlreich sind, wie bei diesen Eskimostämmen. Er war deshalb so vernünftig und reiste ins „Ausland“, um sich von einem der andern Stämme eine Frau zu holen. Nach Verfluß von wenigen Monaten kehrte er zurück, und da hatte er ein Kind von neun Jahren bei sich. Dieses Kind war seine Frau. Wie es sich mit diesem Verhältnis eigentlich verhielt, habe ich nie ganz ergründen können. Er selbst sagte, das Mädchen solle erst in einigen Jahren wirklich seine Frau werden — aber ich habe so meine eignen Oedanken darüber. Es war grauenvoll, wie diese arme Kleine angezogen war. In einem ganz ver-tragnen Anzug von Kaa-aak-kea, der natürlich viel zu groß für sie war, lief sie herum. In derselben Verfassung war die Fußbekleidung. Schläge bekam sie viel, aber wenig zu essen. Eines schönen Tages jedoch brannte sie durch. Ohne Speise und fast ohne Kleider lief das arme Kind dreißig Meilen weit, ehe es auf Menschen stieß, die sich seiner annahmen. Jetzt lebt also dieser Bärenbeißer mit seinen zwei kleinen Jungen allein.
Sein älterer Bruder Akla war um viele Grade besser als Kaa-aak-kea, obgleich auch er dem Stamm nicht zur Zierde gereichte, Akla war mit „Pandora“, der größten und stärksten Dame des Stammes, verheiratet. Wahrscheinlich hielten diese Eigenschaften seiner Gattin Akla davon ab, dieselben Gewalttaten zu verüben wie sein Bruder. Diese Ehe sah gerade so aus, wie alle andern „glücklichen Ehen“ auch. Sie führte ein uneingeschränktes Kommando, und er gehorchte blindlings. Diese Dame war es auch, die damals eine so eingreifende Rolle in dem Leben unsres Freundes Talurnakto spielte. Ihre Reize hatten ihn zum erstenmal von dem Weg der Pflicht verlockt, und die handfeste Natur dieser Reize hinterließ dann auch deutliche Spuren bei dem armen Manne während der Zeit, wo er die Rolle eines Mitehemanns in Aklas Hause spielte. Les extremes se touchent. Talurnakto war der kleinste Mann des Netschjillistammes — Pandora dessen Riesendame. Eine Musterhaushaltung führte Pandora aber keineswegs. Die Kinder waren schmutzig und unartig, und Aklas Kleidung durchaus nicht immer tadellos. Der dritte Bruder, Ojara, war der beste von ihnen und einer von den ansprechenden Leuten des Stammes. Er mochte ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt sein, war groß von Gestalt, von dunkler Hautfarbe und hatte ein freundliches, gewinnendes Lächeln. Er und sein bester Freund Ahiva gehörten zu den Stutzern des Stammes. Sie hatten beide hübsche, junge Frauen, Alo-Alo und Alerpa. Als ich zuerst mit diesen beiden jungen Paaren zusammentraf, war Ojara mit Alo-Alo verheiratet, und ein verliebteres Paar habe ich bestimmt noch nie gesehen. Als ich kurze Zeit nachher zu ihnen kam, waren die Verhältnisse umgekehrt. Jetzt saß Alo-Alo auf dem Platz der Hausfrau in Ahivas Zelt. Da ich ihnen zu verstehen gab, es müsse meiner Ansicht nach entweder ein Mißverständnis obwalten oder früher eins bestanden haben, neigte die kokette, kleine Frau sich zu ihrem Mann hin, nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und rieb ihre Nase an der seinigen, wie wenn sie sagen wollte: „Da siehst du! Hier kann es sich nicht um ein Mißverständnis handeln!“ Wie schon gesagt, ist das Nasenreiben bei den Eskimos dasselbe wie bei den Europäern das Küssen. Ich enthielt mich auch selbstverständlich jeder weiteren Äußerung. Ein solches Verhältnis ist ja auch in dem Lande der „Kabluna“ nicht ganz unbekannt. Dies war übrigens der einzige Fall von Frauenaustausch, den ich mit meinen eignen Augen gesehen habe. Diese beiden Männer waren tüchtige Jäger, und die Frauen, so jung sie waren, tüchtige Hausfrauen. Ihre Zelte lagen nebeneinander auf einem reizenden Platz, wo die Liebe wohl gedeihen konnte.
Auf einer kleinen Landzunge dicht bei dem Fluß liegt ein andres Zelt. Dieses Zelt muß einem großen Tier gehören, so ungewöhnlich stattlich und schön ist es. Der Mann hat gewiß auch einen großen Fischfang gemacht, und es sieht aus — was bei den Eskimos sonst nicht allgemein ist — als ob er auch etwas an die Zukunft dächte. Denn da sind lange Reihen von herrlichen kleinen Lachsen und Forellen zum Trocknen aufgehängt. Schon aus weiter Ferne hört man das Lachen des Besitzers, Kachkochnelli. Er hat das gereifte Alter erreicht, ist zwischen vierzig und fünfzig und ist auch schon Großvater. Schön kann er nicht genannt werden, eher das Gegenteil. Er ist von Mittelgröße, ein wenig beleibt, und als besondres Kennzeichen hat er rotumränderte Augen. Er ist immer voller Scherz und Lachen. Dabei ist Kachkochnelli aber ein sehr kluger Mann und einer der besten Jäger des Stammes. Außerdem ist er auch einer von dessen schlauesten Geschäftsleuten. Mit irgend einem hatte er immer einen Handel vor. An Familie hatte er eine Frau und drei Kinder. Die Frau glich einem recht wohlgenährten Bauernweib und war immer sanft und freundlich. Unter uns führte sie den Namen „Nujakke“ oder Schwiegermutter. Kachkochnelli wollte nämlich durchaus, ich solle Ojaras Frau Alerpa, die seine Tochter war, kaufen, und dann wäre also seine Frau meine Schwiegermutter geworden. Der Vorschlag erweckte natürlich stürmische Heiterkeit bei uns allen. Aus dem Handel wurde jedoch nichts. Er suchte auch sehr beharrlich einen Liebhaber für seine Frau, aber auch dieses Geschäft glückte ihm nicht. Sein ältester Junge, Kallo, ein zehnjähriger Bursche, war zwar hübsch, aber sehr unartig. Sein jüngster Sohn hieß Nulieiu und war einer der komischsten kleinen Burschen, die ich je gesehen habe, aber immer schmutzig und nichtsnutzig. Seine Kleidung war es, die unsre Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich zog. Wie alle kleinen Eskimokinder seines Alters — bis zu sechs Jahren — trug er einen Anzug aus einem Stück, das heißt, Hose und Jacke aneinander, eine Art Kombination. Nulieius Tracht zeichnete sich aber noch besonders aus; sie war besonders luftig, da sie vorne vom Hals bis auf das Bäuchlein offen war. Diese ganze Partie war bei dem Jungen also entblößt. Wenn man dann noch die unentbehrliche Öffnung rechnet, die alle Eskimokinder hinten auf einer gewissen Stelle haben, dann wird man verstehen, daß Nulieiu in einem beständigen Zuge umherging. Ich sah ihn in diesem luftigen Anzug bis in die strengste Winterkälte hinein. Im Frühling war man vorsichtiger mit ihm; aber wenn die Temperatur bis zum Gefrierpunkt gestiegen war, konnte man sicher sein, den Knirps wieder in seinem Sommeranzug auftauchen zu sehen. Wenn die Eskimokinder sechs Jahre alt sind, wird die Kleidung ganz geschlossen.
In dem kleinen, etwas weiter entfernt liegendem Zelt wohnt Poieta, Atikleuras jüngerer Bruder, mit seiner Frau Nalungia und ihrem kleinen Sohne. Sie haben nicht besonders viel Platz, aber rein und ordentlich ist es da, den Verhältnissen nach. Nalungia versorgt ihren kleinen Jungen mit rührender Liebe. Sie benimmt sich dabei gerade wie eine Katze, sie leckt ihn am ganzen Körperchen ab, und da liegt er nun lieblich glänzend vor ihr. Der Junge gehört ihr übrigens nicht einmal eigen; sie hat ihn von einer Mutter zum Geschenk erhalten, die wahrscheinlich zu viele Kinder hatte. Nach dem Bade ist der Junge durstig geworden, was er mit lautem Gebrüll kund gibt. Er wird auch sogleich an die Brust gelegt. Der Kleine meint nun, sein Durst solle gestillt werden, und er verstummt augenblicklich. Nalungia ist jedoch nie Mutter gewesen. Und nun führt sie eines der komischsten Kunststücke auf, die ich je gesehen habe. Sie weiß wohl, daß der Kleine sich nicht lange zum besten haben läßt, und hält es deshalb für besser, ihm zuvorzukommen. Rasch nimmt sie einen Schluck Wasser in den Mund, und ehe der Junge wieder schreien kann, bringt sie mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Mund an den ihren und läßt mit einer geradezu fabelhaften Fertigkeit das Kind das Wasser aus ihrem Munde trinken. Da aber jetzt Gäste gekommen sind, ist Nalungia des Spielens mit dem Kinde überdrüssig; sie legt es weg, um mit den Besuchern zu plaudern. Das Kind liegt indes froh und zufrieden unter einem Renntierfell und lutscht an seinem „Tröster“. Dieser besteht weder aus einer Flasche noch aus einem Lutsehbeutel; sondern einfach aus einem Stück Speck, durch das ein langer Stecken gesteckt ist. Dies ist vollständig gefahrlos; der Junge kann den Speck nicht in den Hals bekommen, denn der Stecken bleibt quer vor dem Munde sitzen, deshalb kann man das Kind ruhig sich selbst überlassen. Nalungia ist eine dicke, rundliche Frau von etlichen zwanzig Jahren, dabei rot und weiß wie eine Rose, und sieht aus wie die Gesundheit selbst Übrigens macht ihr ganzes Wesen den Eindruck von Bequemlichkeit.
Mutter zu sein ist in diesen Gegenden keine beneidenswerte Stellung. Bis das Kind volle zwei Jahre alt ist — ja oft noch länger — wird es in einer Art von ganz kleinem Sack auf dem Rücken getragen, nicht in der Kapuze, wie man meinen sollte; diese ist nur ein notwendiger Anhang der weiblichen Kleidung und hat weiter keine Bedeutung, als daß sie bei kaltem Wetter hinaufgeschlagen wird. Sie würde aber ganz denselben Dienst tun, wenn sie nur ein Drittel von ihrer wirklichen Größe hätte. Allerdings, als Versteck für gestohlne Sachen könnte sie sehr zweckmäßig sein. Das Kind aber wird immer in jener Art Sack getragen, der so klein ist, daß man ihn, wenn das Kind nicht drin ist, kaum sieht. Da liegt nun das Würmchen mit heraufgezognen Beinen wie ein Frosch ganz nackt auf dem nackten Körper der Mutter. Das ist natürlich ein sehr warmer Platz; und um das Kind am Hinuntergleiten zu verhindern, trägt die Mutter auf ihrem Überkleid einen aus Renntiersehnen geflochtenen Strick um den Leib. Dieser Strick wird vorne mit zwei hölzernen oder beinernen Knöpfen zusammengehalten und kann in einem Nu aufgemacht werden, wenn das Kind herausgenommen werden muß, was natürlich nicht so ganz selten vorkommt und bisweilen mit Blitzesschnelle ausgeführt werden muß. Das arme nichtsahnende Kind wird da mit unglaublicher Geschwindigkeit herausgenommen. Ich habe gesehen, wie Säuglinge unter solchen Umständen aus ihrem warmen Platz herausgerissen und dann mehrere Minuten lang bei einer Temperatur von minus fünfzig Grad Celsius splitternackt gehalten wurden. Man sollte meinen, dies sei zu viel für so ein kleines Kind, aber es schadet ihnen offenbar nicht das geringste. An die Heirat von Poieta und Nalungia knüpft sich ein kleiner Roman. Nalungia war, wie die meisten ihrer Eskimoschwestern, von Geburt an für einen Mann bestimmt, und zwar für einen andern als Poieta. Da geschah es, daß sich Poieta sterblich in die holde Nalungia verliebte, die damals schon verheiratet war. Er machte kurzen Prozeß, begab sich in ihre Wohnung und entführte die erst kurz verheiratete Frau, wahrscheinlich mit ihrem eignen Einverständnis. Als der Ehemann heimkam, fand er das Haus leer, und als er auf der Rückkehr seiner Frau bestehen wollte, wurde ihm nur ein geringschätziges: „Komm und hol sie dir, wenn du es wagst!“ zur Antwort. Da nun dem Ehemann dieser Mut fehlte, durfte Poieta im Frieden mit seiner Nalungia leben. Der verschmähte Ehemann wanderte in den Süden aus, und die Geschichte berichtet, er sei im Eis eingebrochen und ertrunken.
Die Hochzeiten werden still und ruhig, ohne größere Aufregung gefeiert. Wenn das Mädchen vierzehn Jahre alt ist, sucht sie den Bräutigam auf — oder vielleicht ist es umgekehrt, und er kommt zu ihr — und wohnt mit ihm im Hause seiner Eltern. Ich glaube nicht, daß die Eskimos bei dieser Handlung von wärmeren Gefühlen beseelt sind, weder der Mann noch die Frau. Die Frauen verheiraten sich, weil sie eben von den Eltern weggegeben werden, und der Mann, um ein Haustier mehr zu bekommen; denn in Wirklichkeit ist die Stellung der Frau nicht mehr und nicht weniger als die eines Haustiers. Selbst unser guter Freund, der Uhu, der sein Zelt westwärts auf der andern Seite des kleinen Tales hat, selbst er ist in dieser Beziehung nicht besser als die andern. Jetzt eben kehrt er mit Bogen und Pfeilen von der Vogeljagd zurück. Die Vögel werden ohne ein Wort vor Kabloka, seine kleine Frau, hingeworfen, die an der Näharbeit sitzt. Sie weiß schon, was von ihr verlangt wird, und macht sich sogleich an das Ausnehmen der Vögel. Mittlerweile setzt sich auch der Uhu nieder, nach dem langen Tagewerk der Ruhe zu pflegen. Zuerst muß er die nassen, schlüpfrigen Stiefel aus Seehundfell von den Füßen los werden. Er wäre kein Eskimo, wenn er daran dächte, das selbst zu tun, und so streckt er die Beine einfach seiner Frau hin. Sie legt augenblicklich ihre Arbeit weg, hebt mit beiden Händen seinen einen Fuß auf, beugt dann den Kopf vor, so daß er unter den Fuß hinunterkommt, und zieht mit Ein lebendiger Stiefelknecht Kabloka Der „Uhu“ den Zähnen kräftig an der Ferse des Stiefels — einen Absatz hat dieser Stiefel nicht — und zieht ihn herunter. Es geniert sie gar nicht, daß sie den Mund voll von dem Schmutz und der Nässe bekommt, in die der Mann den Tag über hineingetreten ist. Aber da verstand ich, warum sich die Eskimos die Nasen reiben, anstatt sich zu küssen. Der Mund wird zu allem möglichen gebraucht; außer daß er ein recht gutes SprechWerkzeug ist, ist er das Universalgerät der Eskimos-Er entwickelt sich daher auch ganz besonders groß und kräftig. Die Zähne haben eine eigentümliche Form. Während die unsrigen spitzig und dünn sind, haben die der Eskimos eine große, breite Kaufläche. Sie beißen auch mit den Jahren ihre Zähne bis an die Wurzel ab, was bei uns ja ganz unbekannt ist Dagegen habe ich unter den Eskimos nie von Zahnschmerzen reden hören. Anana, die Mutter des Uhu, hatte anscheinend noch alle ihre Zähne, aber sie waren so abgenützt, daß sie gerade nur noch am Zahnfleisch hervorsahen. Wenn es sich um etwas handelt, was die Finger allein nicht fertig bringen, dann müssen die Zähne helfen; zum Beispiel, einen Nagel mit den Zähnen gerade zu biegen, ist für die Eskimos eine Kleinigkeit, mit den Fingern können sie es nicht.
In dem Zelte des Uhu herrscht Anana unbeschränkt. Die Alte ist übrigens eine gute Schwiegermutter, und Kabloka hat sie deshalb lieb. Sie kann noch alles nähen, was die Familie braucht; Kabloka ist dazu noch zu jung und hat noch eine lange Lehrzeit vor sich. Die Eskimos haben keinen ausgeprägten Ordnungssinn; wenn sie aufhören zu nähen, legen sie die Nadel an den ersten besten Platz. Soll diese dann nach mehreren Stunden wieder benützt werden, so heißt das so viel, als eine Nadel in einem Heuhaufen wiederfinden. Alle Felle müssen umgedreht und alles auf den Kopf gestellt werden, bis die Nadel wieder zum Vorschein kommt. Ehe wir kamen, war es mit den Nähnadeln spärlich bestellt. Der Besitz einer einzigen Nadel wurde schon als Reichtum betrachtet. Aber dann stellte sie auch ein gutes Stück Arbeit dar. Der Hausvater hatte sie nämlich selbst aus einem Stück Eisen oder Kupfer — was er gerade bekommen konnte — hergestellt. Und diese Arbeit spricht genügend für seine Geschicklichkeit; denn mit so außerordentlich primitivem Handwerkszeug eine nicht nur brauchbare, sondern auch gute Nadel anzufertigen, — das ist wirklich keine Kleinigkeit Allerdings hat der Eskimo Zeit genug dazu; aber ich möchte den von uns sehen, der mit noch so viel Zeit eine solche Geduldprobe leisten würde. Der Eskimo hat eine große Fingerfertigkeit und viel praktischen Sinn.
Wand an Wand mit dem Uhu wohnt dessen Bruder Umiktualli mit seiner Frau, einer Tochter und einem kleinen Sohn. Umiktualli ist ein Meisterfänger und steht auf derselben Höhe wie Atikleura. Deshalb leidet die Familie auch keinen Mangel und besitzt eine Menge Felle und Kleider. Übrigens herrscht in allen diesen Zelten ein ganz niederträchtiger Fischgeruch; alles, was man sieht und anrührt, ist mit Fischöl getränkt. Die kleinen Jungen fischen draußen auf dem Eise Dorsche, und die Erwachsenen im Wasser Forellen. Der Dorsch wird geangelt, und der Angelhaken besteht aus einem alten krummen Nagel. Ein kleiner Knirps von fünf bis sechs Jahren kann in einem Tag große Bündel Dorsche heimbringen. In dieser Jahreszeit gehen die Eskimos nicht regelmäßig schlafen; sie legen sich, wenn sie sich eben müde fühlen, nieder und schlafen ein wenig. Es ist ja bei Nacht ebenso hell wie am Tage. Die Forellenfischerei wird auf den Seen im offnen Wasser am Ufer betrieben. Bei diesem Fischfang wird die oben beschriebene Kakiva (Fischgabel) und die „Locker“ angewendet. Etwas später, wenn das Eis in den Flüssen aufgeht, fischen sie in kleinen Stromschnellen mit der Kakiva allein große Mengen von Lachsen. Noch sind vier Zelte übrig, deren Besitzer zu unserm täglichen Umgangskreise gehören, und denen wir noch keinen Besuch abgestattet haben. In der einen von diesen wohnt Kejo mit seiner Frau Nalungia und einer kleinen Tochter von acht Jahren, namens Kamokka. Kejo wäre gewiß ein ausgezeichneter Mann, wenn ihn die Versuchungen der Zivilisation nicht verdorben hätten. Ich bedaure, dies sagen zu müssen, — aber nach dem Verkehr mit uns war er nicht mehr so, wie er hätte sein sollen. Ob die Schuld an ihm oder an uns lag, wage ich nicht zu entscheiden; wahrscheinlich lag sie auf beiden Seiten. Aus einem wahrhaftigen, fleißigen Manne war ein lügnerischer, fauler Bursche geworden. Er wollte nur immer faulenzen und bot seine Frau jedermann an. Die Frau war sehr hübsch und schlank, bedeutend über Mittelgröße und glich mehr einer „Kabluna“ als alle die andern. Sie tat einem herzlich leid, daß sie so einen Lümmel zum Mann hatte, denn sie selbst war, so weit ich es beurteilen konnte, eine sehr brave Frau. Aber der Mann gebot — und die Frau gehorchte. In zwei von den andern Zelten wohnten Kirnir mit seiner Frau und Angudju mit der seinen. Kirnir war ein Itchjuachtorvikeskimo, hatte sich aber für den Sommer bei den Netchjillieskimos niedergelassen. Es war ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren; seine Frau Magito mochte etwa zwanzig sein und war außerordentlich hübsch. Kirnir war Kejos allerbester Freund und trieb den gleichen Fiandel wie dieser. Da die kleine Magito es aber ruhig geschehen ließ und es sich offenbar nicht zu Herzen nahm, hatte ich kein großes Mitleid mit ihr.
Das dritte Paar waren Angudju und seine Frau. Angudju war in dieselbe Form gegossen, wie die beiden andern: ein Lümmel ersten Ranges. Seine Frau Kimaller war ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt und meiner Ansicht nach sehr schön. Daß eine solche Frau in die Hände eines solchen Flegels gefallen war, konnte man-nur von Herzen beklagen. Kimaller hatte etwas ganz besonders Feines und Nettes. Sie war meist recht ruhig, lachte selten, hatte aber ein ungewöhnlich gewinnendes Lächeln. Ihre schönen Augen mit dem tiefen, wehmütigen Blick machten sie höchst anziehend. Sie hatte wirklich etwas, was ich sonst bei den Mitgliedern des Netchjillistammes mit dem besten Willen nur sehr schwer herausfinden konnte — Anmut. Diese drei Männer gingen bei uns unter dem Namen die „Nichtsnutze“. In dem vierten von diesen Zelten endlich wohnte der vollständige Gegensatz zu diesen letztgenannten drei Herren — der Oglulieskimo Nulieiu, der sich gleichfalls für den Sommer hier mit den Netchjillieskimos zusammengetan hatte. Er war ein Mann von ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Jahren, von untersetzter Gestalt und mit etwas mehr Bartwuchs als die meisten seiner Kameraden. Was dieser Mann versprach, darauf konnte man sich unentwegt verlassen. Ich will hier nur einen kleinen schlagenden Beweis für seine Zuverlässigkeit anführen. Er war unter den Eskimos, die uns im November 1903 besucht hatten. Als er wieder fortging, bestellte Leutnant Hansen mehrere Kleidungsstücke bei ihm. Im Herbste des nächsten Jahres kehrte er denn auch wieder und legte bis aufs Tüpfelchen genau vor uns hin, was bestellt worden war. Zu der Zeit, wo wir in Ogchjoktu lagen, brachte er uns große Mengen von Renntieren und Fischen an Bord. Er war in jeder Beziehung tüchtig und ehrenhaft. Ganz besonders bewunderte ich ihn im Umgang mit seiner Frau, worin er sich von den andern Eskimos unterschied. Ich glaube fast, er war der einzige Eskimo, der seine Frau nicht feil bot. Sie hieß Kajaggolo, war ungefähr dreißig Jahre alt und durchaus nicht ohne Reize. Die beiden hatten nur ein kleines Mädchen, ein Kind von acht Jahren. Nulieiu war der erklärte Liebling der Expedition. Talurnakto, der umherzog und bald hier, bald dort wohnte, habe ich schon früher ausführlich beschrieben, so daß eine nochmalige Schilderung überflüssig wäre.
Aber einen habe ich vergessen, — dort kommt er eben den Hügel herauf. Er ist während der langen Vorstellung der andern auswärts gewesen. Das ist der Älteste des Stammes und dessen geschicktester Zauberer: Aleingan Kagoptinner oder „der Grauhaarige“. Ich kann ihn mit nichts besser vergleichen, als mit einem verschlagnen alten Fuchs. Atikleura und Poieta sind seine Kinder, und er wohnt bei dem letzteren. Er ist zwischen sechzig und siebzig, und sein schwarzes Haar und der prächtige Bart sind jetzt sehr grau gesprenkelt, was ihm auch den Namen „der Grauhaarige“ eingetragen hat. Sein Auftreten ist barsch und gebieterisch, und ich glaube wirklich, er steht in hohem Ansehen. Er hat eine große Gestalt und ist gewiß früher auch ein sehr starker Mann gewesen. Dabei steht er in dem Rufe eines „Angat-kukkiange“, und als Abzeichen dessen trägt er immer einen großen Kragen aus Renntierfransen um die Schultern. Er selbst hält sich für den ersten des Stammes, und das drückt sich auch in seinen Mienen aus. Ich konnte mir nie recht klar darüber werden, ob er sich wirklich in seinem Herzen für größer hielt als die andern, oder ob alles nur ein Komödienspiel war, und ich bin sehr geneigt, das letztere anzunehmen. Er machte dem ganzen Stamme weis, er sei auf dem Monde gewesen, und erzählte lange Geschichten, wie es dort aussehe. Er selbst hatte seinen Aussagen nach natürlich während seines Aufenthaltes dort eine große Rolle gespielt. Die Eskimos, die sich auf der Erde exemplarisch aufführten, das heißt, die täten, was er befähle, sollten dort oben einen Platz bekommen. Die Renntierjagd würde dort auf endlosen Ebenen betrieben, und außerdem könnte man sich noch auf die verschiedenste Weise vergnügen. Denen, die ihm nicht immerfort gehorsam waren, wurde von ihm ein Platz auf den Sternen zugeteilt, wo er natürlich auch gewesen war, die aber, die den Gehorsam ganz verweigerten, stieß er in die Erde hinunter. An diese Märchen glaubten alle unerschütterlich. Als der Uhu einmal das Schlüsselbein gebrochen hatte und ich ihn behandelte, konnte das nicht wieder gut werden, bevor Aleingan sich damit befaßt hatte. Worin seine Einmischung bestand, weiß ich jedoch nicht. Aleingan war einer der wenigen Eskimos, die zwei Frauen hatten.
In diesem Stamm hatte sich die Sage von einem Riesengeschlecht erhalten, das einst vor den Eskimos in diesem Lande gewohnt habe. Das Volk der Riesen hieß „Tungi“, und es wurde immer mit der größten Achtung von ihnen gesprochen. Die Tungi waren bedeutend größer und viel stärker als die Eskimos und ganz in Bärenhäute gehüllt gewesen. Einige Ruinen von alten Steinhütten, die wir in der Nähe von Ogchjoktu fanden, hielten die Eskimos für die Hütten der Tungi. Der alte Aleingan wußte außer seinen andern Prahlereien auch noch zu berichten, daß er den letzten Tungi gefällt habe. Und alle glaubten ihm; nicht einer war so unverschämt, ihn zu bitten, die Leiche sehen zu dürfen. Übrigens sah ich nicht viel von seinen Künsten; er war klug genug, sie für ein besseres Publikum aufzuheben. Es war mir nicht möglich, ihn für etwas andres zu halten, als einen ganz raffinierten alten Scharlatan, der die Leichtgläubigkeit seiner Stammesgenossen ausnützte, und ich arbeitete ihm daher entgegen, so gut ich konnte, obgleich ich nicht glaube, daß ich auf längere Zeit etwas Wesentliches ausgerichtet habe. Indessen vergeht die Zeit, der Frühling nähert sich mit raschen Schritten, und bald kommt der Zeitpunkt heran, wo die Kajaks überzogen werden müssen. Diese sind, was die Arbeit der Männer anbetrifft, schon seit mehreren Tagen fertig, aber die langen Vorbereitungen, die das Zubereiten der Felle und Fäden verlangt, hat die Frauen etwas zurückgebracht. Jetzt sind sie übrigens auch so weit, daß sie das Beziehen in Angriff nehmen können. Einen Kajak zu beziehen, ist keine leichte Sache, sondern eine sehr anstrengende Arbeit, und eine einzelne Frau kann damit nicht fertig werden. Sie muß deshalb ihre Freundinnen um Hilfe bitten – und diese tun es gern, denn sie wissen ja, daß sie selbst Hilfe nötig haben, wenn die Reihe an ihren Kajak kommt. Das Beziehen der Kajaks ist darum eine gemeinsame Arbeit unter den Frauen.
Als Überzug der Kajaks wird nur das Fell der aus-gewachsnen weiblichen Seehunde verwendet. Sechs Stück genügen für einen Kajak. Die Zubereitung der Felle geschieht folgendermaßen: Das Fell wird abgezogen und mit dem „Olo“ oder dem Frauenmesser von allem Speck so sauber gereinigt wie nur möglich, und zu diesem Zweck wird das Fell meist über ein Stück Holz gebreitet. Danach wird das Fell gekaut und ausgesaugt, um die kleinen Fettteile zu entfernen, die das Messer zurückgelassen hat. Wenn nun das Fell auf diese Weise sorgfältig entfettet ist, wird es mit den Haaren nach außen zusammengerollt. Dieses Bündel wird dann in ein andres Fell, auch mit den Haaren auswärts, hineingerollt und alsdann das ganze über ein schwaches Feuer gelegt. Wenn es da lange genug gelegen hat, lösen sich die Haare ab, so daß sie mit dem Daumennagel abgekratzt werden können. Nachdem die Felle auf diese Weise von den Haaren befreit sind, wird jedes einzeln zusammengerollt, alle miteinander aber werden in gewöhnliches Seehundfell eingepackt und im Schnee vergraben, um zu gefrieren. Wenn der Sommer kommt und der Schnee auf dem Erdboden schmilzt, werden die Häute herausgenommen und nun zusammengenäht. Dann werden sie in nassem Zustand gestreckt, über den Kajak gezogen und zugenäht. Dieses Strecken verlangt Kraft, und dabei müssen die Freundinnen helfen. Wenn der Bezug zusammengenäht ist, wird der Kajak zum Trocknen aufgestellt. Während die Haut trocknet, zieht sie sich zusammen und wird so stramm wie ein Trommelfell; sie bekommt eine hellgelbe Farbe und ist fast durchsichtig. Da wir nun bei dieser wichtigen Frage angekommen sind, will ich auch gleich die sonstige Zubereitungsart von Fellen im allgemeinen mitteilen. Im Gegensatz zu vielen andern Eskimostämmen verwenden die Netschjilli keinen Urin bei ihrer Fellbehandlung. Zu ihren Überkamiken -Kamileikun — werden die Häute von einjährigen Seehunden verwendet. Die Behandlung ist dieselbe wie bei den Kajakbezügen, bis der Kau- und Saugprozeß vollendet ist. Anstatt aber dann die Felle in die Erde zu legen, breitet man sie aus und trocknet sie bei schwacher Wärme. Wenn sie trocken sind, werden sie mit den Zähnen bearbeitet, bis sie eine genügende Weichheit erreicht haben. Diese Häute werden weißgelb und sind im Gegensatz zu den durchsichtigen Kajakhäuten undurchsichtig.
Zu Wasserstiefeln — Epirahir — werden die Felle von weiblichen und männlichen Seehunden verwendet. Sie werden mit dem Olo vollständig abgespeckt und in der Nähe des Feuers aufbewahrt, bis sie ganz aufgetaut sind. Wenn die Abspeckung fertig ist, krempelt die Frau ihr Beinkleid von dem rechten Schenkel so weit hinauf wie nur möglich, legt das Seehundfell darüber und schabt mit dem Olo die Haare bis an die Wurzel ab, wozu dieses Messer so scharf wie ein Rasiermesser gemacht worden ist. Der praktische Eskimo hat herausgefunden, daß der Schenkel eine weiche, gleichmäßige Unterlage ist, die dem scharfen Messer zugleich einen Schwung verleiht. Aber ein kaltes Vergnügen mag es sein, mit dem eben aufgetauten Fell. Wenn die Frau fleißig ist, kann sie auf diese Weise drei Felle am Tag enthaaren. Die Haut wird dann auf dem Schnee ausgebreitet und getrocknet. Ehe sie aber verarbeitet wird, wird sie noch einem gründlichen Kauprozeß unterworfen, damit das Fell weich und geschmeidig wird. Im Frühjahr sieht man deshalb die Eskimofrauen immer und ewig an solchen Häuten kauen. Zu Halbsohlenleder für die Kamiksohlen werden Felle von männlichen Seehunden verwendet, weil diese Häute am dicksten sind. Sie werden keiner weitläufigen Behandlung unterworfen, sondern nur abgespeckt, ausgebreitet und getrocknet. Zu Seehundkleidern werden die Felle von einjährigen jungen Seehunden verwendet, und da sind die von beiden Geschlechtern gleich gut. Wenn das Fell abgespeckt ist, wird es draußen im Schnee gewaschen. Auf die Haarseite wird laues Wasser gegossen und reichlich Schnee darauf geworfen. In dieser Mischung von Wasser und Schnee auf dem Fell tritt und stampft nun die Hausfrau herum, bis die Haare peinlich von allem Speck gereinigt sind. Dann wird das Fell auf dem Schnee ausgebreitet und getrocknet. Wenn die Frau später Kleider daraus machen will, wird es nicht abgeschabt, sondern ihr Ehegatte bearbeitet es mit den Fäusten, bis es ganz weich ist. Die Felle von ganz jungen Seehunden — der Wurf von demselben Jahr — werden wesentlich zu Frühjahrshosen verwendet.
Zu Zeltdecken werden weibliche und männliche Felle verwendet. Faule Leute lassen die Haare daran; wer aber sein Zelt ordentlich und hübsch haben will, der schabt sie ab. Wenn man hört, daß der Seehundfang der Netschjilli-eskimos nur aus ganz kleinen Seehunden — Snadd — besteht, dann wird man verstehen, welche große Anzahl von diesen Fellen zur Deckung ihres Bedarfes gehört. Wenn man also eine Zeltdecke aus Seehundfell sieht, so ist deren Besitzer sicher ein Meisterfänger. Renntierfelle werden zu Kleidern, Lagerstätten und Zeltdecken verwendet. Sollen sie zu Kleidern verarbeitet werden, so gibt es zweierlei Arten der Zubereitung. Die erste ist die vollständige Freilufttrocknung. Wenn das Renntier abgezogen ist, wird das Fell auf der Erde ausgebreitet, ohne gespannt zu werden, und mit einer Reihe von kleinen Steinen festgemacht, oder auch mit Renntierrippen, die an den Enden des Fells hineingesteckt werden. Wenn die Sonne scheint, sind die Felle schon nach kurzer Zeit trocken. Wenn man ein solches an der Luft getrocknetes Fell auf der Haarseite betrachtet, kann man nicht bis auf die Haarwurzeln hineinsehen. Ein auf diese Weise behandeltes Fell wird nur zu Winterkleidern oder Bettdecken verwendet. Der Vorteil dieser Felle ist, daß der Schnee nicht durch die Haare hindurchdringen kann und daß sie dadurch leichter trocken bleiben. Sonst sind sie ja ein wenig steif, selbst wenn sie, ehe sie verarbeitet werden, mit einem Schaber aus Eisen, Stein oder Bein so weiß und fein gekratzt worden sind wie nur möglich. Bei der zweiten Behandlungsweise gewinnt man weichere und feinere Häute, die in der Hauptsache zu Unterkleidern, häufig aber doch auch zu Überkleidern verwendet werden. Wenn das Fell vorläufig an der Luft getrocknet ist, wird es in die Hütte hereingenommen — die Felle werden meistens, nachdem Schnee gefallen ist, behandelt — und der Eskimo legt sie mit der Innenseite auf den bloßen Körper. Darüber deckt er sich dann mit den gewöhnlichen Bettdecken zu, die Haare nach innen. Eine Nacht genügt gewöhnlich. Am nächsten Morgen wird das Fell zusammengerollt und der Kälte ausgesetzt, bis es fest gefroren ist. Im Lauf des Tages behandelt es dann die Frau auf der Innenseite mit einem Renntierschulterblatt, um es zu brechen und weich zu machen, und am Abend, wenn der Hausherr von der Tagesarbeit heimkommt, behandelt er es nach allen Regeln der Kunst mit den gebräuchlichen Schabern. Der Gefrier- und Brechprozeß nebst der liebevollen Behandlung von einer Nacht hat eine geradezu erstaunliche Wirkung auf das Fell. Es wird so weich wie Seide, und man kann bei diesen Fellen bis auf die Haarwurzeln sehen. Als Unterkleider sind sie darum nicht so praktisch wie die andern, da der Schnee leicht durch die Haare auf die Haut dringt, wo er von der Körperwärme schmilzt und die Kleider naß macht.
Zu Zeltdecken endlich werden die Renntierfelle verwendet, die im Frühjahr erbeutet werden. Diese haaren nämlich und sind nicht sehr geeignet für Kleider. Jetzt nähert sich die große Zeit, wo die Flüsse und Seen aufgehen und die Renntierjagd beginnt. Dies ist die unvergleichlich herrlichste Zeit für den Eskimo. Er schwelgt in frischem Fleisch. Schon im Mai kommen die Renntiere nordwärts über den Istmus von Boothia herüber; aber da ist es nur ein Glücksfall, wenn ein einzelnes Tier mit Bogen und Pfeil erlegt wird. Erst wenn das Eis geht und der Kajak ins Wasser gesetzt wird, beginnt die große und eigentliche Renntierjagd. Wenn der Kajak für die Renntierjagd ausgestattet ist, hat der Fänger zwei Renntierlanzen vor sich, die in einem kleinem Henkel aus Renntierhaut stecken, damit sie nicht über Bord fallen können. Im Frühjahr hat das Renntier einen festen Wechsel nach Norden, und wenn es an Net-schjilli vorüberkommt, können die Eskimos es leicht ins Wasser hineintreiben. Die Jäger teilen sich in zwei Partieen, die einen mit, die andern ohne Kajaks. Die Kajakruderer nehmen ihre Stellung auf dem Ufer, das dem, von dem das Renntier kommt, gegenüber liegt. Wenn sich nun ein Rudel nähert, umringen die Eskimos es aus weiter Entfernung und treiben die Tiere ins Wasser hinein. Sobald die Tiere darin sind, springen die Kajakruderer in ihre Fahrzeuge und stechen ein Renntier ums andre mit ihren Lanzen nieder. Die Tiere werden an Land bugsiert und dort von den wartenden Jägern in Empfang genommen. Später im Sommer, wenn die Renntiere sich über das ganze Land verbreitet haben, wird die Jagd meistens an irgend einen großen See verlegt, am liebsten dahin, wo sich eine Landzunge ins Wasser erstreckt. Zu dieser Zeit sind die Eskimos meistens nicht so zahlreich beieinander; und wenn sie die Renntierschar auf die Landzunge hinaustreiben wollen, merken sie, daß sie nicht zahlreich genug sind, das auszuführen. Aber der Eskimo weiß sich zu helfen. In aller Eile errichten sie eine Menge kleiner Warten; wenn dann die Renntiere daherkommen, meinen diese, die Warten seien Menschen, und die Absicht ist erreicht Trotz ganz geringer Anzahl gelingt es den Eskimos sehr oft, auf diese Weise große Scharen Renntiere ins Wasser zu jagen. Und wenn sie erst im Wasser sind, dann sind sie verloren; nur ganz wenige kommen wieder heraus und entgehen dem Tode. Die Verteilung der Beute geht nach Aussage des Uhu folgendermaßen vor sich: Von je fünf Rentieren bekommen die Kajakruderer vier und die Jäger am Land das fünfte. Das hat indes nicht viel zu bedeuten, denn ihre sozialistische Gemeinschaft erlaubt keine größere Anhäufung in einer Hand. Sie essen meistens alle miteinander von dem Fleisch, so lange noch etwas da ist. Die Haut aber und gewisse Körperteile sind unweigerlich das Eigentum dessen, der das Tier getötet hat. Nach einem Massenfang von Renntieren essen die Eskimos sich zuerst auf der Stelle gründlich satt, während die Häute abgezogen werden. Bei dieser Arbeit gehen sie sehr sorgfältig zuwege, denn jedes Fell ist kostbar. Der größte Teil von dem Körper wird in einem Depot niedergelegt. Das Depot wird aus scharfen Steinen sorgfältig aufgebaut, damit der Fuchs nicht daran kommen kann; aber es kommt trotzdem vor, daß dieser Hallunke sich hineinschleicht, und es ist unglaublich, welche Verwüstung er dann in kurzer Zeit anrichtet. Im Sommer geht das Fleisch natürlich sehr bald in Verwesung über. Aber was tut das! Es gleitet anscheinend gerade so gut den Hals hinunter; von dem herrlichen Blutpudding habe ich schon genug berichtet. Der Sommer ist also die Zeit für die Massenproduktion dieser Ware. Was hauptsächlich von der Jagd mit nach Hause gebracht wird, gleich wenn die Tiere erlegt sind, das sind die Häute, die Vorder- und Hinterkeulen, die Lenden, die Zungen und die Sehnen. Diese letzteren werden besonders sorgfältig behandelt. Die Rückensehnen sind die feinsten; sie geben den Nähfaden. Die übrigen Sehnen werden als grobes Garn benützt, das unserm Bindfaden entspricht.
Wenn nun ein Jäger mit dieser seiner Beute heimkehrt, werden die Sehnen rasch zum Trocknen aufgehängt. Das Fleisch wird sogleich verzehrt, und als Nachtisch eine reichliche Portion Mark aus den Knochen. Beim Zerschmettern dieser Knochen muß man sich aber hüten, nicht etwa einen Gegenstand aus Eisen zu benützen, er darf nur aus Stein sein, sonst fällt die Jagdsaison schlecht aus. Die übrig ge-bliebnen Knochen werden sorgfältig vergraben, damit die Hunde sie nicht herausbuddeln können, denn wenn so etwas geschähe, würde der Jäger am Ende in diesem Jahr nicht ein einziges Tier mehr erlegen. Dasselbe gilt von den Fischgräten zur Zeit des Fischfangs. Selbst Leuten ohne mathematische Vorbildung wird es klar sein, wie viel auf diese Weise für die Hunde übrig bleibt. . . .
Nach vollendeter Mahlzeit breitet sich Ruhe über das Lager. Die Hunde liegen drüben auf dem Moos und strecken sich anscheinend mit großem Wohlbehagen, trotz ihrer leeren Mägen. Aus den Zelten ertönt an dem schönen Abend Lachen und Scherzen. Die Sonne ist auf ihrem niedrigsten Punkt angelangt und steht nun dicht über dem Horizont. Sie wirft lange rosige Strahlen auf die Landschaft; der große See in Netschjilli liegt spiegelblank. Die ans Ufer gezognen und wegen der Hunde über die hohen Warten gestülpten Kajaks triefen noch von der blutigen Jagd. Allmählich wird ein Zelt nach dem andern geschlossen; Netschjilli schläft, und der tiefe Friede der Sonnennacht wird durch nichts gestört, als höchstens ab und zu durch den Schrei einer der nie ruhenden Eulen. —
Wenn der Sommer herrlich ist, so ist er leider auch kurz; und der Herbst kommt schnell heran. Nach den Witterungsverhältnissen kann man eigentlich kaum von einem Herbste sprechen. Der Sommer geht eigentlich direkt in den Winter über; die Seen gefrieren, und der Schnee fällt; aber in dem Leben der Eskimos ist dann doch ein kleiner Abschnitt, der als ihr Herbst bezeichnet werden kann, und der für sie die unangenehmste Periode des ganzen Jahres ist Dies ist die Zeit, wo das Eis noch nicht dick genug ist, um als Baumaterial verwendet zu werden. Der Aberglaube hält die Leute ab, in ihren Zelten Feuer zu machen. Ihre Wohnungen sind deshalb auch bei dem schlechten Wetter, das jetzt ein-treten kann, miserabel, und sie leben in einer kalten Feuchtigkeit, während der sie sich alle ohne Ausnahme schwere Erkältungen zuziehen. Die Hauptjagd ist jetzt vorüber, wenngleich ein oder das andre Renntier noch angetroffen wird. Die vielen Steinhaufen, die man ringsum im Lande sieht, legen Zeugnis von einem guten Jagdjahr ab. Jeder Steinhaufen bedeckt ein Depot, worin häufig mehrere Renntiere aufbewahrt sind. Jede Familie hat Häute und Fäden genug zur Verfertigung von Kleidern; da darf der Winter schon kommen. Die meisten bleiben aber noch in ihren Zelten und wollen mit dem Bau ihrer Häuser warten, bis genug Schnee gefallen ist. Aber einige von ihnen machen sich doch die Mühe, in dieser Jahreszeit schon eine „Eis-Iglu“ zu bauen.
Der Uhu ist einer von den wenigen, die mehr auf Behaglichkeit als auf die Arbeit sehen. Sein guter Freund Talurnakto hat ihm seine Hilfe zugesagt. Eine solche Eishütte wie die, von der hier die Rede ist, kann nämlich ein einzelner Mann nicht leicht allein bauen. Früh am Morgen gehen die beiden, mit langen Messern bewaffnet, hinaus. Sie sind in strahlender Laune, ihr frohes Lachen tönt hell durch den stillen Morgen. Diese glücklichen Menschen brauchen keine Anregung, wie zum Beispiel brühheißen Kaffee, um ihre Lebensgeister am Morgen zu wecken. Ein Schluck Eiswasser ist wahrscheinlich alles, was sie zu sich genommen haben. Sie sind bald drunten am Netschjillisee und gleich eifrig dabei, das Eis herauszuhauen. Es ist noch nicht dick — etwa einen halben Fuß — und sie brauchen also nicht viel Zeit, bis sie hindurchgedrungen sind. Kaum sind sie aber hindurch, als sich auch schon beide auf den Bauch legen und trinken, jeder aus seinem Loch. Ich habe niemals einen Eskimo ein Loch ins Eis hauen sehen, ohne daß er sofort daraus getrunken hätte. Er tut es weniger aus Durst oder, wie so viele glauben, aus unersättlicher Gier nach allem, was er vor Augen hat — sondern mehr aus einer Art Instinkt, die Gelegenheit zu benützen. Die Eskimos wissen aus Erfahrung, daß lange Zeit vergehen kann, ehe sie wieder Wasser bekommen, und da halten sie es für das beste, zu trinken, solange sie es haben. Die aus dem Eise herausgehauenen Tafeln sind etwa fünf Fuß lang und drei Fuß breit. Sie werden nicht ganz herausgehauen, sondern es. wird nur eine Anzahl Löcher gemacht, je nach der Größe und Form, wie man die Tafeln haben will, und dann wird das Stück durch einen Stoß oder einen Druck losgelöst. Talurnaktos größtes Vergnügen ist es, auf die derartig halb lose gemachten Stücke zu springen und sie herauszubrechen. Es würde mich gar nicht wundern, wenn er einbräche, so ausgelassen ist er dabei. Wenn die Tafel ganz losgelöst ist, wird in jede Ecke ein kleines Loch geschlagen, durch diese werden Seehundriemen hindurchgezogen und die Stücke rasch herausgeholt. Neun solche Tafeln genügen dem Uhu für sein Haus, und die beiden brauchen nicht viel Zeit, sie auf den Bauplatz zu verbringen. In einem Wassereimer, der aus Kajakhaut genäht ist, befindet sich ein Brei aus Schnee und Wasser, der bedeutend rascher wirkt als der Kalk, den unsre Maurer verwenden. Die Tafeln werden nun im Kreis auf die hohe Kante gestellt, in der Weise, daß die fünf Fuß lange Seite die Höhe bildet. In die Ritzen zwischen den Tafeln wird der Schneebrei geworfen, und er verbindet die Tafeln zu einer fünf Fuß hohen Eismauer. Darüber wird ein Dach aus Fellen gebreitet, und nun fehlt nur noch die Türe. Ich denke eben, ich würde sie in die Mitte einer der Tafeln hauen, weil das dann am hübschesten aussähe. Aber der Eskimo ist zu praktisch, die gute, dicke Eismauer zu zerschlagen, er macht die Türe da hinein, wo ohnedies eine Öffnung ist: in die Ritze zwischen zwei Eistafeln.
Diese Häuser haben große Vorteile; sie sind nicht nur in kürzester Zeit gebaut, sondern man kann auch augenblicklich hineinziehen. Die alte Anana und Klein Kabloka lassen sich deshalb auch nicht zweimal nötigen, das dunkle unbehagliche Zelt, wo sie schaudernd und frierend gesessen haben, mit dem hellen, luftigen Eishaus zu vertauschen. Wenn jetzt nur nicht gerade der dumme Mond schiene, könnte man ein behagliches Feuer anzünden und es sich so recht warm und mollig machen. Aber ehe der Mond eine bestimmte Stellung hat, darf um keinen Preis ein Feuer angezündet werden. Die Eskimos haben eine ganze Menge solcher abergläubischer kleiner Regeln, und es nützt alles nichts, sie lassen sich von der Lächerlichkeit dieser Ansichten nicht überzeugen. Zur Zeit der Renntierjagd darf zum Beispiel mit Ausnahme der allernotwendigsten Flickarbeit nicht ein Stich genäht werden; keine Macht der Erde würde die Leute dazu bringen, eine Nähnadel anzurühren, es sei denn, daß es durchaus notwendig wäre. Eines Morgens sah ich meinen Freund Akla bei einer Riesenkälte mit ganz entblößtem Oberkörper sein Messer wetzen. Sein Rock lag neben ihm, während er vor Kälte schauderte. Ich trat zu ihm und fragte ihn, was ihm denn einfalle, ob er denn meine, es sei Sommer, daß er in dieser Verfassung dasitze. Und als ich ihn einen Dummrian schalt und ihm befahl, seinen Rock anzuziehen, sah er mich nur mitleidig an und ließ den Rock ruhig liegen. Später hörte ich, es werde nicht für passend gehalten, während einer gewissen Zeit nach dem Tode eines Verwandten etwas mit Eisen zu arbeiten, ohne den Oberkörper zu entblößen — und Akla hatte vor kurzem seine Mutter und seine Schwägerin verloren. Der Uhu hatte gut daran getan, beizeiten seine Eis-Iglu zu bauen, denn jetzt zogen sich die Wolken drohend zusammen, und eins, zwei, drei hatte man einen von den Stürmen, die die Umwohner des magnetischen Pols sehr gut kennen. Da stürmt es, und es schneit so dicht, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen kann. In den Zelten wird es ganz dunkel, und das Schneegestöber dringt bis mitten hinein. Nur der Uhu sitzt in seinem neuen Hause und lächelt überlegen: ihm kann das Unwetter nicht das geringste anhaben. Der Schnee sammelt sich sogleich in hohen Wehen, und die Eskimos kriechen nun aus ihren Zelten heraus, um ihre Vorbeugungsmaßregeln für die Nacht zu treffen, die ja am schwersten zu ertragen ist. Wäre es nicht schon so spät abends, dann hätten sie sich noch ganze Schneehütten gebaut, nun aber müssen sie sich als Schutz vor dem Schneegestöber an einer Mauer vor dem Zelteingang genügen lassen. Um eine solche Mauer zu bauen, muß man viel Erfahrung haben; das ist nämlich eine große Kunst, da das Schneegestöber, von einem wilden Sturm dahergejagt, bestimmten Gesetzen folgt, die man nur sehr schwer verstehen lernen kann. Mir zum Beispiel ist es nie gelungen, das Problem zu lösen, wie eine solche Mauer beschaffen sein muß, wenn sie den Schnee wirklich abhalten soll. Aber der Eskimo kann das. In aller Geschwindigkeit gelingt es ihm, mit Hilfe einiger Schneeblöcke den wirbelnden Schnee abzuhalten und das Innere seines Zeltes zu einem warmen, behaglichen Aufenthalt zu machen.
Eine von diesen Schutzmauern um die andre wurde errichtet, und bald hatte jedes Zelt die seinige. Glücklicherweise blies der Sturm unveränderlich aus einer Richtung; so waren sie nicht gezwungen, später noch andre Schneemauern aufzuführen, und durften sich an dem einen Besuch im Freien genügen lassen. In diesen Gegenden hören die Stürme oft ebenso rasch wieder auf, wie sie gekommen sind. Wenn der Eskimo am nächsten Morgen erwacht, herrscht tiefer Winter draußen. Das Meer hat eine Eisdecke, und der Schnee ist an vielen Stellen zu meterhohen Wehen zusammengewirbelt. Jetzt ist kein Grund mehr vorhanden, das Schneehüttenbauen noch länger aufzuschieben; alle haben in dieser Nacht genügend gefroren. Bald ist die ganze Kolonie draußen und sucht eifrig nach Bauplätzen. Es ist von großem Wert, einen guten warmen Platz ausfindig zu machen, der etwas gegen den Wind geschützt und doch auch nicht zu weit vom Wasser entfernt sein soll, damit die Bewohner nicht jeden Tropfen Wasser mit unendlicher Mühe herbeischaffen müssen. Außerdem kommt auch sehr viel auf die Beschaffenheit des Schnees an; denn wenn der Schnee nicht gut ist, wird auch die Hütte kein Meisterstück. Darum ist es für einen Familienvater eine recht verantwortungsvolle Aufgabe, den Bauplatz auszuwählen, und er braucht oft sehr lange, bis er sich ent-gültig entscheidet. Der Schnee wird mit dem dazu bestimmten Geräte, „Hervon“ genannt, genau untersucht. Der Hervon ist ein aus einem Renntierhorn verfertigter Stock, dem man die Form eines ziemlich großen Spazierstocks gegeben hat. Seine Länge beträgt hundertfünfundzwanzig Zentimeter. An dem einen Ende ist ein Handgriff aus Renntierknochen, an dem andern eine Zwinge aus Knochen vom Moschusochsen. Beim Untersuchen wird nun dieser Hervon in den Schnee hineingestoßen und seine Beschaffenheit untersucht. Schon dieses „Befühlen“ des Schnees verlangt ein ungemein feines, durch jahrelange Übung und Erfahrung entwickeltes Gefühl. Wenn man mit einem Stock hineinsticht, kann natürlich jedermann leicht entscheiden, ob der Schnee weich oder hart ist; aber zu bestimmen, aus wieviel verschiedenen Lagen dieser Schnee besteht, das ist eine viel schwierigere Sache. Die Schneewehen bestehen nämlich meistens aus Schichten, die zu ver-schiednen Zeiten und bei verschiednem Wetter zusammengeweht wurden und deshalb auch von ganz verschiedner Beschaffenheit sind. In einer Wehe kann deshalb sowohl solcher Schnee sein, der bei einem Sturme fest zusammengebacken ist, als auch solcher, der bei stillem Wetter darauf gefallen ist und nur eine lose, als Baumaterial sehr ungeeignete Schichte bildet. Auf dieser kann sich dann abermals eine fast ganz dichte Schneelage gebildet haben, und es gehört die ganze Erfahrung des Eskimos dazu, solchen losen Schnee in der Mitte der Wehe zu entdecken. Das allerbeste ist, wenn zu oberst eine ungefähr fußhohe Lage losen Schnees liegt, und darunter bis auf den Boden eine gleichmäßige Masse von der passenden Härte, die hoch genug für die nötigen Blöcke ist. Zu hart darf der Schnee nämlich auch nicht sein, weil dann während der Arbeit leicht Eisstücke davon abspringen.
Um einen richtigen Eindruck davon zu bekommen, wie eine mustergültige Hütte gebaut wird, wollen wir Atikleura, den Meister im Bauen, aufsuchen. Er steht gerade dort drüben unter dem Berggipfel und winkt Nalungia, um ihr mitzuteilen, daß er jetzt den gewünschten Platz gefunden habe, und daß sie ihm seine Schneeschaufel bringen solle. An der Wahl dieses Platzes kann man schon erkennen, daß Atikleura ein praktischer und zugleich mit Schönheitssinn begabter Mann ist. Der Platz ist gegen Norden, Osten und Westen gut geschützt; besonders wird der Hügelkamm dahinter den scharfen Nordwind abhalten. Gegen Süden ist die Aussicht offen, und jeder Sonnenstrahl wird Atikleuras Hütte erreichen. Nicht viele Schritte davon liegt ein kleiner See, der der Familie das herrlichste Trinkwasser liefert. Das Land hier besteht in der Hauptsache aus großen Ebnen und Seen. Indessen hat Nalungia die Schneeschaufel gebracht. Diese ist aus einem hölzernen Brett gemacht, das sich Atik-leura bei den südlicher wohnenden Stämmen eingetauscht hat, denn bei den Netschjilli gibt es kein Holz; auch nicht das kleinste Stück Treibholz findet seinen Weg in diese Breiten. Die Schaufel ist sehr praktisch eingerichtet, und sie entspricht ihrem Zweck vollkommen, so lange der Schnee lose ist; bei hartem Schnee wären natürlich unsre eisernen Spaten vorzuziehen. Um die Schaufel stärker zu machen, hat man sie unten mit Renntierknochen beschlagen. Das erste, was Atikleura jetzt tut, ist, daß er die oberste Schichte Schnee wegschaufelt, in dem Umkreis, auf dem er seine Hütte aufzurichten gedenkt. Er tut dies mit einem sichern Augenmaß, denn bei den vielen Hütten, die er in seinem Leben schon gebaut hat, hat er wahrlich Übung darin erlangt. Dann nimmt er sein Messer, das bis jetzt in einer Schlinge an einem Haken gehangen hat, der auf dem Rücken des Anoraks festgenäht ist. Es ist ein wahres Ungeheuer von einem Messer, und wenn man es nicht vorher gesehen hätte, könnte man ordentlich Angst bekommen. Die Klinge ist so groß wie eines unsrer guten großen Schlachtermesser und Besteht aus Eisen, das auch vom Süden heraufgekommen ist. Der Griff ist ungefähr dreißig Zentimeter lang und besteht aus Holz oder Bein. Nun faßt Atikleura den Griff mit beiden Händen und schneidet einen Block nach dem andern heraus. Die Blöcke werden in einer Größe von anderthalb Fuß Höhe, zwei Fuß Länge und vier Zoll Breite herausgeschnitten. Wenn sie auf diese Weise herausgeschnitten werden, liefert der Bauplatz selbst genügend Material für das ganze Bauwerk. Es ist ein wahres Vergnügen, wie ausgezeichnet bei einem guten Baumeister alles ineinander paßt. Atikleura ist ein wahrer Zauberer auf diesem Gebiet. Nicht ein einziger von den Blöcken, die er herausschneidet, zerbricht, trotz der anscheinenden Gleichgültigkeit, womit er sie behandelt. Ein Einschnitt da und einer dort, dann ein Fußtritt, und der dünne, feine Block steht von der Schneemasse geschieden da. Alle Blöcke von Atikleuras Hand sind so genau gleich groß, daß es aussieht, als seien sie nach einem ganz genauen Maß gemacht worden.
Die Hütte wird spiralförmig gebaut, wie eine Heudieme oder ein Bienenkorb, und der eine Block wird immer dicht neben den andern gesetzt. Bei dem Zusammensetzen der Blöcke werden die Seiten fest aneinandergefügt, wodurch dann die Wände ganz dicht werden. Die Geschicklichkeit eines Baumeisters kann man daher an der Dichte seiner Hütte bemessen; aber selbst bei Atikleuras Geschicklichkeit können einzelne Ritzen da und dort nicht ganz vermieden werden. Und die Ritzen zu verdichten, ist Nalungias wichtige Arbeit. Zu diesem Zweck bearbeitet sie den zuerst weggeschaufelten losen Schnee, bis er sich wie ganz feiner Stampfmelis anfühlt; dann erst ist er als Verdichtungsstoff zu benützen. Mit diesem Schnee werden die Blöcke beworfen, sobald sie an ihrem Platze sitzen, und er füllt die allerkleinste Öffnung und Ritze aus. Die Wände der Hütte steigen schnell in die Höhe. Die herausgeschnittnen Blöcke schaffen Platz auf dem Boden, und wie sie gleichzeitig auf den ihnen bestimmten Platz gesetzt werden, wachsen die Wände heran. Atikleura sieht aus, als sei er kopfüber in eine Mehltonne gestürzt, denn er ist von oben bis unten mit Schnee bedeckt. Seine Kleider, die Haare und der Bart sind kreideweiß. Doch verhindern seine langen Fausthandschuhe den Schnee am Eindringen in die Anorakärmel. Der Bau des Daches solch einer Schneehütte ist für den Uneingeweihten eine höchst verwickelte Sache. Wie viele Schneeblöcke sind mir bei dieser Arbeit auf den Kopf heruntergefallen! Die Schneewände müssen sich nämlich oben nach innen immer mehr verjüngen, und für den Außenstehenden sieht es genau aus, als hänge der letzte Block buchstäblich ohne jeglichen Halt oder irgendwelche Unterlage horizontal in der Luft. Dieser letzte Block, der das Dach in der Mitte abschließt, ist meistens von dreieckiger Form. Er muß zuerst zu dem Loch, das er später ausfüllen soll, förmlich hinausgespielt werden, damit er dann von außen wieder darauf zu sitzen kommt. Es sieht aus, als sei dies ein Ding der Unmöglichkeit — aber der Eskimo macht das Unmögliche möglich. Mit der einen Hand hält er den Block durch das Dachloch hinaus, und während er ihn über dem Dach hält, schneidet er ihn mit der andern in die Form eines Keils. Wenn er ihn nun los läßt, paßt er in das Loch hinein, als sei er hineingegossen.
Mittlerweile hat Nalungia unter der Beihilfe von Errera die Hütte von außen eifrig mit dem feinen Schnee beworfen, bis die ganze Hütte einem einzigen Schneehaufen gleicht. Die feinen Linien der Schneeblöcke sind unter dem feinen Schneepuder ganz verdeckt. Aber dicht ist die Hütte jetzt. Denn das feine Pulver bohrt sich überall hinein, wo sich nur noch der Gedanke eines Loches oder einer Ritze findet. Der Baumeister zeigt sich noch nicht. Er ist im Innern der Hütte, in der er jetzt vollständig eingeschlossen ist, noch eifrig beschäftigt. Endlich dringt die lange Klinge seines Messers durch die Schneewand heraus, und mit einer raschen Bewegung schneidet er ein Loch hinein, das gerade groß genug ist, daß er herausschlüpfen kann. Ich verwundere mich, wie hoch oben an der Wand er das Loch herausgeschnitten hat, denn an allen den Iglu, die ich bis jetzt gesehen habe, ist der Eingang ganz unten am Boden gewesen. Jetzt kriecht Nalungia zu demselben Loch hinein, durch das ihr Mann herausgekommen ist, und ich folge ihr nach, um zu sehen, wie die Hütte nun weiter eingerichtet wird. Da entdecke ich auch sogleich, warum das Loch so hoch oben angebracht worden ist. Atikleura hat es in der Höhe der Schlafpritsche ausgeschnitten, um den Einzug zu erleichtern. Die Schlafstelle richtet er sich auf folgende Weise ein. Durch eine Reihe Schneeblöcke teilt er zuerst die Hütte in zwei Teile, von denen der innere doppelt so groß ist als der äußere. Allen losen Schneeabfall, der sich innen in der Hütte befindet, wirft er nun in den größeren Raum hinüber, bis der Schnee die Höhe der aufgestellten Blöcke erreicht hat, — und die Schlafstelle oder Pritsche ist fertig. An dem entgegengesetzten Ende der Hütte ist eine andre, aus zwei Blöcken hergestellte Erhöhung. Die Blöcke sind auf die Kante gestellt, und ein dritter liegt als Tischplatte darüber. Jetzt wird der Einzug durch das Loch über der Pritsche bewerkstelligt. Große Mengen Felle werden bunt durcheinander hineingeworfen. Hierauf kommt der Hausrat an die Reihe: Trockenrost, Wassereimer, Kochtöpfe, Specklampe. Alsdann die Lebensmittel: Speck, Fleisch und Fische; und schließlich das persönliche Eigentum der Frau, auf das ich nicht näher einzugehen wage. Jetzt scheint alles fertig zu sein, und Frau Nalungia sieht mich fragend an, ob ich hinausgehen, oder besser gesagt, hinauskriechen wolle. Ich habe keine Ahnung, was bevorsteht, bleibe aber aus Neugier; viel Schlimmeres, als was ich schon erlebt habe, kann wohl kaum kommen. Aber ein wenig verblüfft bin ich doch, ich kann es nicht leugnen, als das Loch über der Pritsche plötzlich von außen zugemauert wird und ich mich mit einer einzelnen Dame ganz allein in einer Schneehütte eingemauert finde. Nalungia scheint indes nicht im geringsten davon angefochten zu sein, und so werde wohl auch ich es überstehen können. Ohne sich um mich zu bekümmern, macht sie sich sofort an ihre Arbeit. Zu allererst wird die schwere Specklampe aufgehoben und auf den kleinen Schneetisch an der Wand quer vor der Pritsche gestellt. Die Specklampe ist aus einer Art Stein hergestellt, den unsre Eskimos von den Utkohik-chjalikeskimos bekommen. Sie hat die Form eines Halbmonds, ist aber schwer und unschön; sie wird auf drei in die Schneeplatte hineingesteckte Knochen gestellt, in der Weise, daß der innere fast gerade Rand des Halbmondes dem Innern der Hütte, die äußere runde Kante dagegen der Hütten wand zugekehrt ist. Jetzt holt Nalungia den Speckbeutel herbei, aus dem sie ein Stück gefrornen Speck herausnimmt, der dann mit einer dazu hergerichteten Keule aus Moschusochsenknochen geklopft wird, bis er ganz weich ist. Dann nimmt sie aus einem ihrer kleinen Behälter ein kleines Moosbüschel, das sie sorgfältig in Tran taucht — Ha ha! ich erkenne mit Grauen die entsetzlichen „Lichtpastillen“ wieder! — und mit Hilfe der obenbeschriebnen Hölzer macht sie nun Feuer an. Bald verbreiten die Lichtpastillen ein strahlend helles Feuer. Der weichgeklopfte Speck wird auf die Lampe und ein Docht aus Moos dem innern geraden Rand der Lampe entlang gelegt Der Docht wird mit Tran übergossen, und mit Hilfe des brennenden Moosbüschels angezündet. Bald brennt der ganze Docht, und eine herrliche Flamme erhellt die große, prächtige Hütte. Ich frage mich verwundert, was sie denn nur mit dem prächtigen Feuer wolle, ehe sie noch mit der Einrichtung ihrer Hütte fertig ist, ja, ich bin schon im Begriff, ihr Verschwendung des kostbaren Trans vorzuwerfen, unterlasse es aber doch, in dem Gedanken, daß ein Eskimo nichts ohne eine ganz bestimmte Absicht tut. Und dieser Gedanke erweist sich sehr bald als richtig. Das große Feuer verbreitet allmählich eine drückende Hitze in der Hütte, und jetzt verstehe ich: die Hitze soll die neugebaute Hütte in den Fugen zusammenschmelzen. Ich sehe, wie die Schneeblöcke bei der Wärme langsam zusammensinken, bis siq tatsächlich eine einzige zusammenhängende Schneemauer bilden.
Nalungia hat indessen die Zeit gut angewendet, und die Schlafpritsche ist ganz in Ordnung. Ganz unten auf dem Schnee liegt der wasserdichte Kajakbezug, der im Herbst von dem Kajak abgetrennt wird, und der alle Feuchtigkeit von den Renntierhäuten abhält. Die Renntierhäute sind hübsch zurechtgelegt, und die Schlafstätte sieht wirklich einladend aus. Jetzt dreht sich Nalungia nach der Lampe um und putzt den Docht, was schnell geschehen muß, füllt den Kochtopf mit Schnee und hängt ihn mit zwei Schnüren an zwei in die Wand gesteckten Knochen über das Feuer. Die Familie mag nach der Arbeit eine Erfrischung wohl nötig haben. Der Trockenrost, der aus Renntierknochen gemacht und mit einem Netz aus Sehnenschnüren überzogen ist, wird nun über den Kochtopf, aber nicht zu nahe ans Feuer gebracht. Felle vertragen keine zu große Wärme. Schließlich wird die „Anauta“, ein kleiner runder Holzstock mit einem Handgriff, der zum Abklopfen des Schnees von den Kleidern dient, als ein punktum Finale fest in die Wand hineingestoßen. Jetzt ist alles in Ordnung. Es scheint auch hohe Zeit zu sein, denn in diesem Augenblick fragt Atikleura von außen, ob er hereinkommen könne. Nalungia wirft einen letzten prüfenden Blick in der Hütte umher, und bittet ihn dann, noch ein wenig zu warten. Während er sich entfernt, höre ich ihn etwas vor sich hinbrummen, was wahrscheinlich in deutschen Worten „die verdammten Frauenzimmer“ oder etwas ähnliches heißen würde. Es sieht fast aus, als wolle sich Nalungia für diese Schmeichelei dadurch rächen, daß sie ihn nur noch länger warten läßt; denn es dauert noch eine gute halbe Stunde, bis sie ihm das Signal zum Eintreten gibt. Da wird die Wand ganz unten am Boden aufgebrochen und eine Öffnung gemacht, die gerade groß genug ist, daß ein Mann hindurchkriechen kann. Atikleura taucht auf, und im nächsten Augenblick ist er in der Hütte. Er zieht seine tropfnassen Fausthandschuhe ab und wirft sie Nalungia hin, die sie aufhebt, ausringt und auf den Trockenrost legt. Dann kommt der Rock an die Reihe, der zuerst ausgeschüttelt und dann mit der Anauta tüchtig durchgeklopft wird. Aller Schnee, selbst das allerkleinste Schneekorn muß entfernt sein, ehe es zu schmelzen beginnt und den Rock naß macht. Hierauf wird der Rock zusammengerollt und auf die Schlafpritsche geworfen. Atikleuras äußere Beinkleider erfahren nun dieselbe Behandlung und landen dann neben dem Anorak auf der Pritsche. Jetzt steht Atikleura in den bloßen Unterkleidern da. Das klingt nach unsern Begriffen nicht besonders comme il faut, geht aber bei den Eskimos ausgezeichnet an. Er schwingt sich auf die Pritsche und setzt sich nieder; aber er läßt die Beine nicht baumeln, wie wir es tun würden, sondern setzt sich so weit zurück, daß die Beine in ihrer ganzen Länge aufliegen. Jetzt müssen die Stiefel ausgezogen werden, und das ist nicht so ganz einfach, denn die Fußbekleidung des Eskimos besteht aus fünf verschiednen Hüllen. Ganz außen trägt er die kleinen niedrigen Schuhe aus Renntierfell mit den Haaren nach innen und der Haut nach außen. Bei einem Manne von Atikleuras vornehmer Herkunft sind diese Schuhe auch noch mit Halbsohlen aus Seehundfell versehen. Auf der untern Seite der Sohle fallen einem einige merkwürdige Schlangenlinien auf; diese weisen sich bei näherer Betrachtung als Lederstreifen aus, die darauf genäht sind, damit die Sohle weniger glatt ist. Als zweites kommen die Kamikken, die zu dieser Jahreszeit ausschließlich aus Renntierfell hergestellt sind. Davon trägt der Eskimo zwei Paar übereinander. Die äußern sind aus der Haut über den Knochenteilen der Renntiere verfertigt; die Haut ist da sehr kurzhaarig und sehr stark; sie haben die Haare nach innen, und reichen bis an die Kniee, wo sie mit einem Riemen zusammengebunden sind. Unter diesen Kamikken trägt der Eskimo dann noch ein zweites Paar von ganz derselben Länge und demselben Aussehen, nur daß bei diesem Paar die Haare nach außen sehen. Dieses Paar ist aus dem Fell eines einjährigen Renntierbocks verfertigt, und es ist ,sehr fein und weich. Zwischen diesen zwei Paar Kamikken trägt der Eskimo ein Paar kleine Socken aus Renntierfell mit den Haaren nach außen, und ein zweites solches Paar trägt er auch ganz innen auf dem bloßen Fuß, doch da mit den Haaren nach innen. Also im ganzen fünf Lagen übereinander! Als ich dies zum ersten Male sah, dachte ich mit Stolz, wir seien viel abgehärteter als die Eskimos, da wir nicht mehr als drei Hüllen über dem Fuß trugen. Aber auf meiner ersten Schlittenfahrt wurde mir klar, daß die Eskimos diese Hüllen nicht allein zum Schutz gegen die Kälte tragen, sondern ebenso sehr wegen des harten Untergrundes von Eis und Schnee, auf dem sie immer gehen. Mit meinen drei Hüllen taten mir die Füße so weh, daß ich schließlich kaum noch weiter kam.
Die Fußbekleidungen müssen alle miteinander gerade wie die Handschuhe getrocknet werden. Den Nachteil haben die Fellkleider, daß sie, wenn sie geschlossen sind, alle Feuchtigkeit aufsaugen und festhalten. Die Netschjilli-eskimos kennen unser Sennesgras nicht; sie legen Renntierhaare in die Kamikken, die sie am Abend herausnehmen, und das ist zwar besser als gar nichts, aber weit nicht so gut wie unser Sennesgras. Nachdem Atikleura sich aller seiner nassen Fußkleider glücklich entledigt hat, zieht er trockne Unterkleider an, sowie ein Paar ganz kleine Seehundlederschuhe — Kamileitkun — die unsern Pantoffeln entsprechen. Diese werden im Winter nur in der Hütte getragen, in der Übergangszeit zwischen Winter und Frühling aber auch im Freien. Jetzt ist er mit der äußeren Behandlung seines Körpers fertig, nun können die Bedürfnisse des inneren Menschen an die Reihe kommen. Und diese Bedürfnisse sind nach der harten Tagesarbeit nicht gerade klein. Es wird auch ein großer, prächtiger Lachs aufgetragen, und alle Familienmitglieder versehen sich reichlich davon. Er ist gefroren, und es hat den Anschein, als schmecke er allen vortrefflich; in kurzer Zeit ist von dem stolzen Fisch nur noch das rein abgegessene Skelett übrig. Der Kochtopf enthält jetzt herrliches reines Trinkwasser — ein paar hundert Renntierhaare können ja nicht als Verunreinigung betrachtet werden —, und in kurzer Zeit ist er geleert, worauf er sogleich von neuem mit Schnee gefüllt und wieder übers Feuer gehängt wird. Wasser ist der einzige Trank, den die Netschjillieskimos kennen, es gibt da kein „half and half“ mit irgend einer Art von Getränken. Jetzt tut die Gesellschaft laut kund, daß kein Platz mehr in ihrem Magen sei, weder für noch mehr Lachs noch für Wasser, und die Mahlzeit ist beendigt. Dann ist es Schlafenszeit. Nalungia macht mit allen herrlichen Felldecken die Schlafstelle für die Nacht zurecht. Atikleura verschließt den Eingang sorgfältig mit einem Schneeblock. Atikleura kriecht zuerst unter die große Familiendecke, und unter der Decke zieht er seine Kleider aus. Ganz im Gegensatz zu den grönländischen Eskimos entblößen sich diese Leute, Männer wie Frauen, nur im äußersten Notfall in Beisein von Fremden. Dem Gast wird sein Platz auf der einen Seite der Bank zugeteilt. Klein Anni und Errera sind längst schlafen gegangen, und der dem Feuer zunächst liegende Platz ist für Nalungia reserviert. Sie löscht das Licht und entkleidet sich im Dunkeln. Die Eskimos schlafen ganz nackt unter der großen Pelzdecke. Und bald tönt ihr kräftiges Schnarchen durch die Hütte.
Das Bild der Nacht draußen ist von dem, das wir im Sommer geschildert haben, sehr verschieden. Alle Zelte sind verschwunden, und im rötlichen Mondschein verschwinden auch die niedrigen kuppelförmigen Schneehütten beinahe im Schnee. Ein Fremder, der vorüberkäme, würde kaum ahnen, daß hier eine ganze Welt schlummert, oder wenigstens eine Welt von frohen, glücklichen Menschen, die vielleicht unter ihren niedrigen Schneedächern glücklicher sind als viele reiche Machthaber in prächtigen Häusern und Schlössern. Aus dieser Welt in der Eiswüste ist Groll und Neid, Verleumdung und Mißgunst verbannt; die Stille der Nacht wird nicht unterbrochen, und eine von hellem Mondschein durchwebte Luft zieht rein über menschlichen Wohnungen dahin. Auch am nächsten Tage gibt es noch allerlei kleine Arbeiten in der Hütte. Bei der Geschwindigkeit, mit der gestern alles getan wurde, kann unmöglich alles tadellos sein; deshalb gibt es noch allerlei zu verändern und zu verbessern. Nalungias erster Gedanke richtet sich auf ein Fenster. Eine Schneehütte ist zwar ohne Fenster so hell, daß man bei Tag drinnen arbeiten kann, aber mit einem Fenster ist die Wohnung viel heller und gemütlicher. Man kann dann auch von innen Wind und Wetter beobachten. Atikleura ist den Wünschen seiner Frau durchaus nicht abgeneigt: er geht ans Eis hinunter und hackt eine zu einem länglichen Fenster passende Eisplatte heraus, die er in die Wand über der Tür einsetzt; eine wirklich hübsche Fensterscheibe!
Die Zeit vergeht, und der hochwichtige Mond nimmt jetzt allmählich die Stellung am Flimmel ein, wo die Frauen mit ihrer Näharbeit beginnen dürfen. Dies ist eine emsige Zeit Die Felle müssen zubereitet, zerschnitten und zusammengenäht werden. Ein ganz ergötzlicher Anblick ist es, wenn man eine Eskimofrau Kleider zuschneiden sieht. Kreide hat sie natürlich nicht, um die einzelnen Teile aufzuzeichnen, aber — sie hat kräftige Zähne. Das Fell wird in der Form, die es bekommen soll, geknickt; mit den Zähnen beißt die Frau kleine Löcher hinein, und mit dem „Olo“ wird das Kleidungsstück dann herausgeschnitten. Viele Frauen beißen nicht einmal solche Zeichen hinein, sondern schneiden mit ihrem durch jahrelange Übung geschärften Blick drauflos. Wenn die Frau für ihre Familie oder für sich selbst näht, sind die Nähte musterhaft mit feinen, kleinen Stichen; näht sie aber „auf Bestellung“ für einen Weißen, dann sind die Nähte unerlaubt nachlässig gemacht, mit langen, groben Stichen, die keinen Tag halten. Wenn wir also brauchbare Kleider bekommen wollten, mußten wir sie den Leuten vom Leibe weg kaufen. Es ist eine Kunst, bequeme Fellkleider zu machen, nicht allein in Bezug auf den Schnitt, sondern noch vielmehr in Bezug auf die Naht. Die Eskimos nähen Kante an Kante zusammen und vermeiden dadurch die dicken Säume, die durch das Übereinanderlegen der beiden Kanten entstehen. Auf der Gjöa hatten wir Fellkleider, die in Norwegen und Sibirien gemacht worden waren; aber wir wären an einem einzigen Tag geliefert gewesen, wenn wir diese Kleider mit ihren Säumen auf dem bloßen Leibe getragen hätten, so dick und schwer waren sie. Dagegen ging ich mehrere Male im Sommer, wenn es recht warm war, in Eskimokleidern mit den Haaren nach außen und den Säumen auf dem Körper, ohne die geringste Unannehmlichkeit davon zu verspüren. Ende Oktober tauchen die ersten Eskimos in neuen Kleidern auf. Die Stutzer Ahiva und Ojara und ihre Frauen sind immer die ersten. Ein funkelnagelneuer Eskimoanzug ist auch wirklich sehr schön. Auf dem Oberkörper tragen sie zwei Anorakke, einen mit den Haaren nach innen und einen mit den Haaren nach außen. Der Schnitt gleicht auffallend unserm Frack — ich weiß nicht, welcher Teil das Modell von dem andern überkommen hat. Der Anorakschoß ist bei den Netschjillieskimos nicht sehr lang, er reicht bei ihnen nur bis über das Kniegelenk, bei einzelnen anderen Stämmen aber bis auf die Fersen. Der äußere Anorak ist meistens mit den schönsten Mustern ausgenäht und aus etwas dickerem Fell gemacht als der innere. Beide hängen lose um den Leib, damit die Luft frei zirkulieren kann. Auch der Beinkleider sind es zwei Paare, eines mit den Haaren nach außen, das andre die Haare nach innen. Das äußere Paar hat auch häufig eine kleine Stickerei, während dies bei dem innern natürlich nicht der Fall ist. Sie sind um den Leib zusammengebunden, aber um die Kniee offen. Die Anorakke und die Beinkleider sind häufig mit Fransen eingefaßt.
Im Anfang, ehe sich die Mitglieder der Expedition ganz an die Eskimotracht gewöhnt hatten, kam es einigen von uns wahrhaft verrückt vor, mit so einem Fransenzierat herumzulaufen, und so schnitten sie ihn ab. Ich hatte aber gleich meine Bedenken dabei und ließ sie sitzen, denn mir war schon das Verständnis aufgegangen, daß an der Eskimokleidung, wie bei allen ihren Einrichtungen, alles und jedes seinen praktischen Zweck hatte. Ich ließ also die Fransen sitzen, trotz des mir gespendeten Hohnlächelns. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten, — eines schönen Tages fingen die Anorakke, an denen die Fransen abgeschnitten waren, sich aufzukrempeln an, und sie hätten bald nur noch als Halskrausen dienen können, wenn die Fransen nicht in aller Eile wieder angenäht worden wären. Zu Weihnachten geht es lustig her in Netschjilli. Obgleich die Eskimos keine Ahnung haben von unserm Weihnachtsfest oder von dem Grunde, warum wir es feiern, feiern sie doch da gerade auch ihr Winterfest, das vollständig unsern Weihnachtstagen entspricht. In den Depots sind noch reiche Vorräte an Fleisch und Fisch, und die Tage werden ausschließlich mit Essen und Trinken und Vergnügungen verbracht. Sie haben gemeinsam eine große Iglu errichtet, die als Versammlungsort und Festsaal dient. So eine Festiglu ist oft ein wahrer Palast und faßt wohl fünfzig Menschen. Die Vergnügungen sind von verschiedner Art: Leibesübungen, Zauberkünste, Gesang und Tanz. Geturnt wird von den Männern in jeder Altersstufe; selbst der alte Kachkochnelli nahm teil daran und machte seine Sache so gut wie die andern. Da sie kein Reck haben, müssen sie sich mit den Hilfsmitteln begnügen, die ihnen zu Gebote stehen. Ein sehr langer Riemen aus Seehundfell wird fünffach zusammengelegt und ein andrer solcher Riemen darum herumgewickelt, wodurch sie ein Seil bekommen, dem man sich ruhig anvertrauen kann. Nun muß es befestigt werden; und das ist nicht so leicht, da die Schneewand ja eigentlich keinen ganz festen Halt gibt. Aber die Eskimos wissen auch hier Rat. Sie bohren in die beiden gegenüberliegenden Wände je ein Loch, stecken die Enden des Seils hindurch und befestigen sie außen an zwei Stöcken, die draußen im Schnee stecken. Nun hat man ein ausgezeichnetes elastisches Reck, und die Kunststücke nehmen ihren Anfang. Wie erstaunte ich, als ich bei diesen Menschen hier viele von den Künsten meiner Kindheit wiedersah, die auch wirklich recht tüchtig ausgeführt wurden. Ja, mich wandelte selbst die Lust an, alte Erinnerungen aufzufrischen und den Eskimos zu zeigen, was ich konnte. Aber ich hatte kein Glück. Es nützte alles nichts, wenn ich die Schuld auf das ungewohnte Seil anstatt des heimatlichen Recks schob, — meine mißglückten Versuche erweckten allgemeinen Jubel, nicht allein bei den Eskimos, sondern auch bei den Kabluna.
Zu ihren Angekokkünsten — Zauberkünsten — brauchten sie die große Hütte nicht; diese können überall stattfinden. Für gewöhnlich werden diese Künste in irgend einer Absicht ausgeführt: etwa um Krankheit zu verhindern, um einen guten Fang zu erlangen und so weiter. Trotz meiner eifrigen Nachforschungen erfuhr ich nie so ganz genau, was eigentlich zu einem richtigen Angekok gehörte. Es gab verschiedene Grade bei ihnen, ein paar größere, ein paar geringere und ein paar ganz kleine. Kagoptinner war ein sehr großer Angekok, ja, wie ich schon gesagt habe, der größte des Stammes. Der alte Präderik war auch einer von den größeren, aber nicht so groß wie Kagoptinner. Aber keiner von uns durfte je einer von diesen Vorstellungen anwohnen. Nur durch einen Zufall bekam ich einmal einen recht guten Einblick in die Sache. Ich wollte in die Hütte des Uhu hineingehen, um etwas mit ihm zu besprechen. Vor der Hütte standen ein paar Eskimos, die mich anredeten. Ich verstand zwar wohl, daß sie etwas Besondres von mir wollten, aber erst später wurde mir klar, was sie gemeint hatten. Schon im Gang hörte ich von außen lautes Heulen, das ich aber für Gesang hielt; vielleicht klang es etwas lauter, als ich ihn sonst zu hören gewöhnt war, aber ich ging ruhig weiter. An dem innersten Eingang der Hütte, der so niedrig war, daß ich hindurchkriechen mußte, blieb ich eine Weile auf allen Vieren liegen, um zu sehen, was da drinnen vorginge. Bald wurde mir die Sache klar: der alte Präderik und seine Frau — ein abscheuliches altes Weib, und eine von den wenigen, mit denen ich mich nicht vertragen konnte — waren am Hexen. Die Pritsche, auf der sie sich aufhielten, lag beinahe ganz im Dunkeln. Bei dem Widerschein einer einzigen kleinen Lichtpastille in der Hütte konnte ich gerade die Umrisse der beiden genannten Personen unterscheiden. Die Zuschauer waren der Uhu und Umiktuallu mit ihren Familien. Sie standen so weit wie möglich von den Auftretenden entfernt und sahen alle sehr ernst aus. Glücklicherweise wurde ich nicht sogleich bemerkt; so konnte ich sie ruhig eine Weile beobachten. Die Alte schrie aus Leibeskräften; das Geheul des alten Präderik, das unter gewöhnlichen Verhältnissen als eine recht gute Leistung in dieser Beziehung betrachtet werden würde, wurde von dem ihrigen ganz über-täubt. Was übrigens auf der Pritsche vor sich ging, konnte ich nicht sehen, und eine Bewegung, die ich machte, um etwas näher zu den Auftretenden hinzugelangen, führte zu meiner Entdeckung. Ich ließ es mich jedoch nicht anfechten, sondern stand ruhig auf und sagte guten Tag. Das hätte ich aber lieber bleiben lassen sollen, denn die alte Dame brach in ein so fürchterliches Geschrei aus, daß ich mich schleunigst auf und davon machte; vor Frauenzimmern in einem solchen Zustand habe ich von jeher den größten Respekt gehabt. Schon wenige Minuten nachher kam der Uhu zu mir heraus und sagte, die Vorstellung sei zu Ende, der alte Präderik habe sich jetzt den Spieß durch den Leib gestochen. Ich fand das nicht eben anziehend, da ich ihn mir krank und sterbend dachte; aber meine Fragen nach seinem Befinden wurden von dem Uhu nur mit einer Einladung, ihm in die Hütte zu folgen, beantwortet. Da sitzt nun der alte Gauner anscheinend im besten Wohlsein auf seiner Lagerstatt und singt vor sich hin. Seine Frau scheint noch nicht ganz aus ihrer Ekstase zurückgekehrt zu sein; sie schlegelt mit den Armen und wirft mir düstre Blicke zu. Ich wagte keine Andeutung über den Vorgang von vorhin zu machen und knüpfte daher ein gleichgültiges Gespräch an, ging dann auch bald an Bord zurück. Später am Abend kam der alte Präderik zu mir und zeigte mir zwei Löcher in seinem Anorak, eines auf dem Rücken und eines auf der Brust, als unwiderlegliche Beweise, daß er sich mit dem Spieße durchbohrt habe. Der alte Präderik war ein sehr anständiger, guter Mensch, und ich bin fest überzeugt, er selbst glaubte, er habe es wirklich getan — und es wäre auch gar nicht zu verwundern, wenn die entsetzlichen Schreie, die seine bessere Hälfte ausstieß, ihn eine Zeitlang seines gesunden Menschenverstandes beraubt hätten.
Ganz ohne Fürsorge für die Zukunft leben die Eskimos nicht. Ihre Vorräte an Fleisch und Fisch reichen bis über Weihnachten und noch etwas ins neue Jahr hinein. Der Seehundfang darf nach ihren Gesetzen nicht vor Mitte Januar anfangen, und dann ist er noch lange von geringer Bedeutung, weil der Seehund, feinhörig wie er ist, infolge der dünnen Schneelage die Schritte der Jäger schon von weitem hört und sich deshalb fernhält. Von Mitte Januar bis in den Februar hinein ist deshalb die magerste Zeit des Jahres für die Eskimos. Bei ihrem ersten Aufenthalt im Gjöahafen im Jahre 1905 mußten gerade zu der Zeit einige von ihnen mehrere Tage lang geradezu hungern. Wir konnten ihnen auch nur wenig helfen; wenn wir erst einem etwas gegeben hätten, dann hätten wir bald die ganze Kolonie zu ernähren gehabt, und ich mußte deshalb bei meinem einmal erlassenen Gebot bleiben, daß keinem von ihnen etwas zu essen verabreicht werden dürfe. Ich kenne ein kleines Beispiel von der Not in jenen Tagen, das, wenn auch nicht sehr schön für zartfühlende Gemüter, so doch recht bezeichnend ist. Ich habe aber, um die Gebräuche und Sitten der Eskimos zu schildern, schon so oft den Anstand verletzen müssen, daß ich auch diesmal nicht davor zurückschrecke. Tamoktuktu war ein sehr schlechter Fänger und deshalb auch schlecht mit Fanggeräten ausgerüstet. Sein Vorrat ging daher sehr bald auf die Neige, und wenn die andern nur noch wenig zu essen hatten, dann hatte Tamoktuktu gar nichts mehr. Seine Frau, Poojarlu, eine ganz nette Frau von dreißig Jahren, war arbeitsam und fleißig und stand ihrer Haushaltung ordentlich vor, aber bei einer leeren Speisekammer nützte das nichts. Sie hatten drei Kinder, von denen das jüngste erst vor ganz kurzer Zeit das Licht der Welt erblickt hatte. Und nun sollte sie für diese und für sich selbst Nahrung herbeischaffen. Als Hundefutter benutzten wir damals abwechslungsweise getrocknete Fische und Hundetalg. Diesen konnten die Flunde nur schwer verdauen, und das hatte Poojarlu bemerkt. Wenn die Hunde mit diesem Stoff ernährt wurden, lief sie darum hinter ihnen her und wartete den günstigen Augenblick ab; es lautet fast unglaublich, aber nachdem der Frost seine Wirkung darauf ausgeübt hatte, hob Poojarlu es auf und verzehrte es mit ihrer Familie. Es kamen sogar noch schlimmere Dinge vor, die aller Beschreibung spotten…
Eines Abends, nachdem der Seehundfang begonnen hatte, wurde ich eingeladen, dem „Kelaudispiel“, dem beliebtesten Festspiel der Eskimos, zuzuschauen. Es wurde gehalten, um die hohen Mächte für einen guten Fang günstig zu stimmen. Draußen war es glänzend hell, und über der gewaltigen totenstillen Eisöde lag der Vollmondschein mit wunderbar hellem Licht, bei dem man alles bis ins kleinste unterscheiden konnte. Mitten zwischen den vielen Iglu des Lagers ragte eine aus diesem Anlaß erbaute Festhütte über die andern empor und lockte mit ihren hell erleuchteten Eisfenstern. Wir fanden uns zeitig ein, um von der Aufführung nichts zu versäumen. Die mit Lichtpastillen prächtig erleuchtete Hütte nahm sich inwendig sehr gut aus. In der Mitte war aus großen Schneeblöcken ein Kreis gebildet. Einzelne von den Männern waren schon da, und sie unterhielten uns, so gut sie konnten. Sie trugen an diesem Abend ihre leichtesten und auch am feinsten ausgenähten Kleider aus Renntierfellen, von denen einzelne wahre Meisterwerke von gutem Geschmack und Kunstfertigkeit waren. Allmählich fanden sich auch die übrigen Gäste ein: Anana, Kabloka, Onaller, Alerpa, Alo-Alo, und wie sie alle hießen, die Nalungias nicht zu vergessen, denn es gab wenigstens zehn Frauen dieses Namens. Die alte „Eule“ machte den Schluß unter wenigstens zwanzig Frauen, die sich alle still und ruhig auf den im Kreis aufgestellten Eisblöcken niederließen. Die Männer setzten sich außerhalb des Kreises der Frauen nieder, wie sie es gerade für gut fanden, und bald waren sie vollzählig. Im Gegensatz zu den Frauen waren die Männer sehr vergnügt und voller Lachen und Scherzen. Es hatte den Anschein, als ob sich nur die Männer ergötzen sollten. Endlich zeigt sich der Festordner des Abends. An diesem Abend ist es Kachkochnelli, der eine leichte gestickte Kleidung aus Renntierfell trägt, desgleichen Mütze und Handschuhe. Er bringt das kostbare Kelaudi mit, das Musikinstrument des Stammes, das aus einem runden, hölzernen Ring besteht — in der Art eines Faßreifens — der mit dünngegerbter Renntierhaut überzogen ist und einen Handgriff hat. Der Trommelschlegel ist eine kleine mit Seehundfell überzogne hölzerne Keule. Das Fest nimmt jetzt seinen Anfang. Zuerst tritt Kachkochnelli in den Kreis, dann erhebt Anana ihre Stimme und stimmt etwas an, was ich wohl einen Gesang nennen muß, obgleich ich diesen Ausdruck nur schwer in dieser Verbindung herausbringe — und die andern Frauen fallen ein. Etwas so Monotones wie diesen Gesang habe ich nie gehört; im Chor ist die Wirkung noch schlimmer. Aber eine Art feste Melodie mußte doch in diesen vier Tönen sein, da die Frauen alle einstimmig Zusammenhalten konnten. Zugleich mit dem Anstimmen des Gesanges beginnt Kachkochnelli zu tanzen und auf die Trommel zu schlagen. Auf ein und demselben Fleck stehend zieht er bald das eine, bald das andre Bein hinauf, während er den Oberkörper hin und her wiegt und laute Schreie ausstößt. Gleichzeitig bearbeitet er die Trommel kräftig mit dem Schlegel, aber nicht auf dem gespannten Fell, sondern auf dem Rahmen. Das Resultat aller dieser Anstrengungen ist ein ohrenbetäubender Lärm. Allmählich wird Kachkochnellis Tanzen schlaffer und schlaffer, und nach ungefähr zwanzig Minuten hört er auf. Der Gesang der Frauen, der den Bewegungen des Tanzenden gefolgt ist, erstirbt zugleich mit dem Tanz. Nun tritt der nächste Mann in den Kreis. Es sieht nicht aus, als gebe es irgend eine Rangordnung unter den Netschjillieskimos — wer am nächsten sitzt und Lust zum Auftreten hat, tritt ohne weitre Zeremonien in den Kreis hinein, und derselbe Tanz und dasselbe Geheul und derselbe Gesang wiederholten sich, ohne eine Spur von Veränderung. Doch fiel mir auf, daß die Frauen im Vorsingen abwechselten. Als Kirner, ein Itchjuachtorvikeskimo, tanzte, sang eine Frau von diesem Stamme vor, und als der Oglulieskimo Nulieiu auftrat, führte eine alte schielende Oglulifrau an. Ich glaubte auch bei den verschiednen Stämmen im Gesang eine ganz kleine Veränderung wahrzunehmen, wage es aber nicht fest zu behaupten. Mein musikalisches Gehör ist, wie gesagt, nicht sehr ausgebildet.
Ich habe diesen Tanz und diesen Gesang in ver-schiednen Reisebeschreibungen geschildert gesehen, und alle Berichterstatter sind darüber einig gewesen, daß der Auftretende sich allmählich in eine Ekstase hineinarbeite. Damit kann ich nicht übereinstimmen. Ich habe die Männer sehr scharf beobachtet, und meiner Ansicht nach waren sie während der ganzen Vorstellung, selbst als diese ihren Höhepunkt erreicht hatte, alle normal und bei vollem Verstand. Nach jenen Beschreibungen hatte ich etwas viel Wilderes erwartet, und fühlte mich daher einigermaßen enttäuscht. Worin das Vergnügen bei diesem Tanz besteht, ist mir durchaus unbegreiflich. Die ganze Gesellschaft sah aus, als langweilte sie sich bei diesen ins Unendliche wiederholten gleichmäßigen Tönen. Sie sahen auch ganz entzückt aus, als keiner der Männer mehr aufzutreten wünschte, und verschwanden so schnell wie möglich aus der Hütte. Die ganze Vorstellung dauerte drei Stunden, und wenn ich gewußt hätte, daß das ganze immer nur eine Wiederholung des ersten wäre, immer und immer dasselbe, dann hätte ich den Tanzsaal natürlich viel früher verlassen. Diese Tänze wurden den ganzen Winter hindurch aufgeführt; selbst nach einem anstrengenden Fangtag, nach zehnstündiger Mühe und Beschwerde in Kälte und Sturm auf dem Eise, begaben sie sich häufig geradeswegs in die Festhütte zu dieser wahnsinnigen Motion. Die Kinder, ganz besonders die kleinen Mädchen, hatten ebenfalls Vergnügungen dieser Art. Die Mädchen stellten sich einander gerade gegenüber. Hierauf zogen sie den Kopf zwischen die Schultern, bogen sich vor, schwenkten den Oberkörper hin und her und sagten sich eine ganze Menge unverständlicher Worte ins Gesicht, und zwar alles im tiefsten Ernst. Oder sie kauerten sich voreinander nieder und hüpften dann auf und ab, während sie unaufhörlich etwas vor sich hinmurmelten, aber alles fortgesetzt mit tiefernstem Gesicht. Wenn das Vergnügen dabei vielleicht nicht eigentlich groß war — was ihrem Ausdruck nach wirklich nicht der Fall sein mußte — so war es jedenfalls eine sehr gesunde Leibesübung. Sie hatten auch noch andre Spiele, aber daraus schienen sie sich nicht viel zu machen.
Wie ich schon gesagt habe, nimmt der Seehundfang erst im Februar seinen eigentlichen Anfang und gewinnt auch da erst seine rechte Bedeutung. Wenn es dicht schneit, und der Schnee in meterhohen Wehen auf dem Eise zusammengetürmt liegt, dann kann der Seehund die Schritte des Jägers nicht mehr hören. Dann ist die Zeit der Not für den Eskimo vorbei, und die leeren Speisekammern füllen sich aufs neue. Der Seehundfang ist neben der Renntierjagd die wichtigste Erwerbquelle der Netschjillieskimos; und da die Art und Weise dieser Jagd fast so gut wie unbekannt ist, will ich versuchen, sie nach den Beobachtungen, die ich während meiner Teilnahme an den Jagden gemacht habe, so gut wie möglich zu beschreiben. Es ist ein kalter, rauher Morgen im Monat Februar. Ein ordentlicher Nordweststurm jagt daher, und mit ihm ein dichtes Schneegestöber, daß man meinen könnte, man stecke mit dem Kopf in einem Mehlsack. Es ist erst acht Uhr morgens, aber in den Iglu ist es hell, und im Lager ist alles lebendig. Alle Vorbereitungen deuten auf Seehundfang. Einem Fremden ist es fast unverständlich, warum die Eskimos bei diesem häßlichen Wetter ausziehen wollen, besonders da sie sich gestern beim schönsten sonnigen, windstillen Wetter müßig daheim umhergetrieben haben. Aber aus den Berechnungen und Plänen des Eskimos wird man nie so recht klug; er handelt nach seinen eignen Gesetzen, die er allein kennt; einen Grund aber hat er immer. Es wird fast neun Uhr, bis sie alle versammelt sind. Der Eskimo kann nämlich trödeln, und zwar gründlich. Heute ziehen alle miteinander zugleich aus, sonst pflegen sie meist in kleinen Abteilungen für sich aufzubrechen. Kachkochnelli ist ein Mann der Ordnung, der seine Sachen immer in äußerst gutem Stand hat; wenn man ihn ansieht, kann man sich also einen richtigen Begriff davon machen, wie ein ordentlicher Seehundfänger ausgerüstet sein soll. Das erste, was einem auffällt, ist, daß er seine Fellkleider ganz zusammengebunden, also gegen jegliches Eindringen der Luft verwahrt hat. Die offnen Kleider, die er sonst trägt, kommen ihm für diesen Tag doch zu leicht vor. Auf dem Rücken hängt ihm an einem Knopf das unentbehrliche Schneemesser. Dieses ist teilweise von der Jagdtasche — Tuttirea — bedeckt, die über dem Messer an einem über Schultern und kreuzweise über die Brust laufenden Riemen aus Seehundleder hängt. Die Jagdtasche enthält folgende Gegenstände (Siehe die Abbildung der Eskimogerätschaften auf Seite 231): eine Harpune — Helmiakkei (Figur 13 und 14) — mit der Harpunenleine — Togakchjea (Figur 13 und 14), zwei Geräte zum Beobachten des Seehunds: lila (Figur 15 und 16) und Kiviutchjervi (Figur 17 und 18), einen Lochbeschützer — Anokchjlevirilkun (Figur 20 und 21), zwei kleine Holzstäbe, auf denen die Seehundlanze ruht — Na-a-makta (Figur 11), eine Strippe zum Herausziehen des Seehunds — Okchjeun, außerdem einige kleine Stäbe aus Renntierhorn, um die Wunde in dem Seehund wieder zuzunähen — Topola (Figur 7 und 8). Dies ist der Inhalt der Tasche; diese selbst ist viereckig und meist aus Renntierfell gemacht, aber wenn solches nicht zu haben ist, aus dem Fell des weißen Fuchses. Die übrigen Geräte und Waffen trägt der Eskimo in der Hand: den Seehundspieß — Onaki (Figur 10), den Lochsucher — Hervon (Figur 3); den Lochuntersucher — Hervatavra (Figur 6) und einen Löffel — Ilaun (Figur 9). In früheren Zeiten, ja vor wenigen Jahren noch, waren alle diese Waffen ausschließlich aus Renntierhorn verfertigt, jetzt sind die einzelne Teile daran häufig aus Eisen. An der andern Hand führt Kachkochnelli seinen Hund an einem Riemen aus Seehundfell. Übrigens haben nicht alle einen Hund. An diesem Tag sind ungefähr vierzig Mann versammelt, im Alter von fünfzehn bis fünfzig Jahren. Sie haben eine Menge zu besprechen. Man sollte meinen, sie lebten in einer Welt voller wichtiger Ereignisse und schnell wechselnden Gesprächstoffs, und nicht hier in der eisigen Einöde von Jahrtausenden, wo das Leben von einem Tag zum andern, ja von einem Jahrhundert zum andern in ewigem Einerlei dahinfließt. Sie gehen alle miteinander über den Landrücken, aber als sie das Eis erreicht haben, verteilen sie sich in geordnete Schützenlinien. Der Abstand zwischen den einzelnen nimmt zu; je weiter sie Vordringen, und in ganz kurzer Zeit haben sie sich über eine ansehnliche Fläche ausgedehnt. Kachkochnelli eilt rasch voran, während er vor sich hinsingt und mit seinem Hund plaudert. Es ist nichts Besondres an dem Hund, weder ein besonders hoch er-hobner Kopf, noch kluge Augen. Ein „Köter“ wäre wohl die beste Benennung, die man ihm geben könnte. Aber man soll den Hund nicht nach den Haaren beurteilen; so erbärmlich er auch dem Aussehen nach ist, so glaube ich doch kaum, daß ihn sein Herr um einen der feinsten Pointer, Oordonsetter, oder wie diese feinen Rassehunde alle heißen, eintauschen würde. Dieser Hund hat nämlich eine Eigenschaft, die ihn in diesen Gegenden unentbehrlich macht; er versteht es, den Aufenthaltsort des Seehunds aufzuspüren. Plötzlich rennt er auf die Seite, bleibt wieder stehen, untersucht dann den Schnee sehr sorgfältig und legt sich platt nieder. Das Nachgraben überläßt er Kachkochnelli, der mit seinem Lochsucher sogleich durch den Schnee hindurch auf das Eis stößt — mit demselben Schneesucher, den er gebraucht, wenn er den Schnee zum Bau einer Hütte untersucht. Schon die erste Untersuchung ergibt offenbar ein gutes Resultat, denn er wirft rasch die Jagdtasche über den Kopf weg auf den Boden, nimmt das Messer vom Knopf und schafft mit diesem den Schnee fort, der das aufgefundne Loch deckt. Dies geschieht jedoch nicht ohne vorausgehende gründliche Untersuchung. Der Seehund hat nämlich noch sehr viele andre Löcher, wo die Luft hindurchziehen kann. Um nun gewiß zu sein, daß das aufgespürte Loch auch wirklich ein in täglichem Gebrauch stehendes Atemloch eines Seehunds ist, und nicht nur ein andres, altes, verlassenes, legt sich Kachkochnelli ganz platt auf den Bauch in den Schnee und riecht in das Loch hinein; sein scharfer Geruchsinn betrügt ihn nie. Heute ist ihm das Schicksal hold, denn er hat sogleich ein richtiges Atemloch gefunden, das offenbar häufig von dem Seehund aufgesucht wird. Mit einigen lauten Schreien tut Kachkochnelli seinen Kameraden kund, daß er etwas gefunden habe. Solche Laute verscheuchen den Seehund nicht; dagegen bewegt sich Kachkochnelli mit der größten Vorsicht auf dem Schnee; er weiß wohl, wie ungeheuer rasch der Seehund auch den leisesten Tritt auf dem Eis auffängt. Die von dem Seehund im Winter offen gehaltnen Löcher sind an der Oberfläche des Schnees nicht groß, sondern gerade so weit, daß der Seehund seine Schnauze hindurchstecken kann, um zu atmen. Sie erweitern sich aber stetig nach unten und haben also die größte Ausdehnung dicht an der Oberfläche des Eises. Das erste, was Kachkochnelli tut, nachdem er seiner Sache sicher ist, ist, daß er das Loch sorgfältig mit Schnee zudeckt, damit der Seehund keinen Verdacht schöpfe, falls er während der Vorbereitungen dieses Loch aufsuchen sollte. Einen Teil der Schneelage über dem Loch schneidet der Jäger weg und gräbt dann mit dem Löffel durch den andern Schnee bis zum Loch hinunter durch, wobei er den herausgegrabnen Schnee auf die Seite wirft. Wenn er sich nun einen Weg zu dem Loche gebahnt hat, steckt er den Lochuntersucher hinein, um es innen etwas näher zu untersuchen. Wenn er das genügend getan hat, steckt er den Lochsucher mit der einen Hand fest in das Loch, schiebt mit der andern Hand den Schnee dicht heran, und füllt so das aufgegrabne Loch bis zur Oberfläche wieder mit Schnee auf. Wenn er dann den Lochsucher vorsichtig herauszieht, hinterläßt dieser bis hinunter zu dem Atemloch des Seehunds ein Loch, das nicht größer ist als ein Nickel, aber für seine Beobachtungen doch groß genug. Ist es noch früh im Winter, und ist die Schneelage dünn, dann kann er ohne andre Hilfsmittel als seine natürlichen Sinne augenblicklich das Nahen des Seehunds erkennen. Aber jetzt in dieser Jahreszeit, wo der Schnee sehr hoch liegt, muß er seine sinnreichen Geräte zu Hilfe nehmen.
Die zu diesem Zweck verwendeten Geräte sind die beiden obengenannten: lila und Kiviutchjervi, und der Seehundjäger gebraucht entweder das eine oder das andre. Kachkochnelli nimmt meistens die lila, aber er zeigte mir auch, wie man sich des Kiviutchjervi bedient. Dieser ist aus einer dicken Renntiersehne gemacht, und seine Form ist einem kleinen Bootsanker mit zwei Spitzen nicht ganz unähnlich. An diesem ist mit einer Schnur immer ein Büschelchen Schwanenflaum festgemacht, das zusammengebunden ist, damit nichts davon verloren gehen kann. Mit großer Vorsicht zieht der Seehundfänger zuerst ein einzelnes Flöckchen aus dem Schwanenflaum heraus und klebt es mit beiden Enden vermittelst Speichel an die beiden Spitzen des Ankers an, so daß der Flaum wie ein kleiner Bogen zwischen den beiden Klammern steht. Nun wird dieser Anker so tief in das Loch hineingeführt, bis der kleine Querstock auf der Oberfläche des Schnees festliegt, und da dieses Geräte nicht mehr als fünf Zentimeter lang ist, kann man mit Leichtigkeit den ausgespannten Schwanenflaum im Loch drunten sehen. Wenn das Wetter übermäßig schlecht ist und die aufgestellte Schneemauer das Loch nicht ganz vor dem wirbelnden Schnee beschützt, wird der Lochbeschützer darübergelegt, der ungefähr wie ein ganz kleiner Lichtschirm aussieht und aus durchsichtigem Seehundfell gemacht ist. Durch diesen Lochbeschützer beobachtet der Seehundfänger dann den ausgespannten Flaum. Diese Lochbeschützer habe ich • indes nie im Gebrauch gesehen. Schon während der Seehund noch mehrere Meter entfernt ist, pflanzt sich die Bewegung im Wasser bis zu dem Loch fort und setzt den feinen Flaum in Schwingung. Wann aber der günstige Augenblick da ist, wo der Spieß in das Loch hineingestoßen werden muß, das kann nur das feine Gehör und das sichre Verständnis des Seehundfängers entscheiden.
Dielllagibtein deutlicheres und sicheres Zeichen von der Ankunft des Seehunds im Loch, und deshalb ziehen sie auch die meisten Eskimos Ula und Kiviutchjervi dem Kiviutchjervi vor. Der zweite Apparat besteht aus zwei ganz dünnen Renntierspitzen, die durch eine sehr dünne Schnur miteinander verbunden sind. Die eine dieser Spitzen ist zwanzig Zentimeter, die andre längere fünfzig Zentimeter lang, und diese hat an ihrem unteren Ende eine dünne, runde, beinerne Platte, etwas kleiner als ein Nickel. Die beide Spitzen verbindende Schnur ist durch ein Loch an dem oberen Ende von jeder Spitze gezogen und ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang. Die lila ist auch leichter im Loch anzubringen als der Kiviutchjervi; denn Schwanenflaum bei Sturm und fünfzig Grad Kälte ist kein so ganz leicht zu behandelnder Stoff. Das Anbringen der lila an dem bestimmten Platz ist eine ganz einfache Sache: die kleinere Spitze wird neben dem Loch in den Schnee hineingesteckt, die große aber in das Loch hinabgelassen. Sobald nun die kleine, runde, beinerne Scheibe unten an der Spitze dem losen Eise über dem Loch im Wasser aufliegt, verstopft sie dieses, und die lila wird dadurch über dem Wasser gehalten; der Faden aber, der die beiden Spitzen verbindet, bleibt ganz schlaff auf dem Schnee liegen. Während dieser ganzen vorbereitenden Arbeit hat Kach-kochnelli die Jagdtasche als Unterlage unter den Füßen, teils wegen der Wärme, teils auch, um des Seehunds wegen jeden Laut auf dem Schnee zu dämpfen. Wenn nun der Kiviutchjervi oder die lila im Loch angebracht ist, wird der Seehundspieß zum Gebrauch bereit gelegt. Der Spieß besteht aus drei Teilen, von denen der mittlere oder der Schaft ungefähr einen Meter lang ist, zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser hat und aus Bein oder Holz besteht. An dem einen Ende des Schaftes ist eine ungefähr sechzig Zentimeter lange, runde Stange, die jetzt meistens aus Eisen ist, doch gibt es auch jetzt noch Spieße, wo sie aus Renntierhorn besteht. Eisen wird jedoch dem Horn weit vorgezogen, weil der Spieß dadurch steifer wird und man besser zustoßen kann. Eisen ist überhaupt die beste Tauschware bei den Netschjillieskimos. Diese Horn- oder Eisenstange endet in einer Spitze, die in eine Vertiefung in der Harpune hineinpaßt. An dem einen Ende des Schaftes sitzt der dritte Teil des Spießes, der zur Vergrößerung des Loches verwendet wird, nachdem der Seehund gefangen ist. Dieser Teil ist auch entweder aus Horn oder aus Eisen, doch sehr häufig aus Horn, obgleich Eisen vorgezogen wird. Er ist an den Schaft angebunden und an dem untersten Ende stark umgebogen und geschärft.
Jetzt wird die Harpune an der Lanze festgemacht und die Harpunenleine aufgeschossen, die dann unter eine ganz dünne, weiche Schnur aus Renntiersehnen geschoben wird. Diese Schnur läuft den ganzen Spießschaft entlang und ist an beiden Enden befestigt. Die Harpune hat eine Länge von ungefähr acht Zentimeter und ist heutigentags immer aus Eisen oder Kupfer. Nur die äußerste Spitze der Harpune ist geschärft, damit das Loch in dem Seehundfell so klein wie möglich wird. Ganz unten an der Spitze sitzen die beiden etwas zurückgebogenen Flügel, die die Harpune, wenn sie einmal gefaßt hat, am Zurückgleiten verhindern. In dem Augenblick, wo die Harpune in den Seehund hineingedrungen ist, wird sie vom Schaft losgerissen, und alle Kraft wird auf die Harpunenleine übertragen, die in ein Loch mitten in der Harpune eingezwängt ist, so daß die Harpune sich in dem Augenblick, wo sie gefaßt hat, quer vorlegt. Die Harpunenleine wird aus Renntiersehnen flach oder rund geflochten, doch wird ein ordnungsliebender Mann immer eine flache haben. Sie ist dann anderthalb Zentimeter breit und vier Meter lang, auch stets nur aus ausgesucht guten Renntiersehnen geflochten und sehr haltbar. Wenn nun die ganze Lanze vollständig bereit ist, legt sie der Seehundfänger auf die beiden Holzstäbe — Na-a-makta —, die in den Schnee gesteckt worden sind. Dann nimmt der Eskimo die Handschuhe ab, zieht den linken Arm aus dem Ärmel heraus und steckt ihn auf die Brust hinein, während die rechte Hand in den linken leeren Ärmel hineinschlüpft. Die Erfahrung hat den Eskimo gelehrt, daß er auf diese Weise seine Hände am besten warm erhält und sich am raschesten zum Angriff bereit machen kann. Die Handschuhe hält er zwischen den Knieen fest, dann drückt er die Kniee ein wenig ein, neigt den Körper vor und beugt den Kopf gespannt über das Loch.
Es ist, als ob ihm heute alles nach Wunsch gehen soll. Die Bewegung der lila kündet an, daß der Seehund sich nähert. Durch die schwankende Bewegung des losen Eises, auf dem die lila liegt, hebt und senkt sie sich. Der Eskimo richtet sich auf, und in einem Nu sind beide Hände an ihrem Platz. Die Rechte ergreift den Spieß, in der Linken hält er die Leine, und alle Muskeln aufs höchste gespannt, steht er zum Stoß bereit da. In dem Augenblick, wo der Seehund die Schnauze durch das Atemloch herausstreckt und das lose Eis auf die Seite schiebt, gleitet die lila weg, sie sinkt hinunter und die Verbindungsschnur wird angezogen. Dies ist das Zeichen! Der Eskimo nimmt alle seine Kraft zusammen und stößt zu. Mit unumstößlicher Sicherheit gleitet die Lanze durch das kleine Loch hinein und trifft die Öffnung im Eise. Er hat getroffen! Mit Blitzesschnelle ergreift er die Lanze und steckt sie in den Schnee neben sich, während er die Leine hinunterläßt, die er in einer Schlinge an der andern Hand hält Der Seehund läuft mit der Leine davon, so lang diese ist. Aber wenn der Seehund eine Weile unter dem Wasser gewesen ist und ihm die Luft zum Atmen fehlt, verlassen ihn sehr bald die Kräfte, und wenn der Eskimo das fühlt, legt er die Schlinge auf den Boden und tritt darauf, um beide Hände frei zu haben. Das Loch wird nun aufgehackt, bis es so groß ist, daß man den Seehund herausziehen kann, und dann wird die Leine eingeholt. Wenn der Seehund von dieser Behandlung noch nicht tot ist, wird ihm die eiserne Stange der Lanze durch das Auge ins Gehirn hineingestoßen, und dann ist es aus mit allem Widerstand.
Die Aufregung der Jagd und die hurtigen Bewegungen haben die entblößten Hände des Eskimos bis jetzt warm gehalten. Nun aber zieht er die Handschuhe an. Mit der umgebognen Spitze der Lanze macht er ein Loch durch die Oberlippe und Wange des Seehunds, zieht einen Riemen hindurch und daran den Seehund heraus. Die Harpune wird herausgezogen, und der Fang ist zu Ende. Indessen sind seine nächsten Kameraden herbeigekommen, und sie helfen, den Seehund herauszuziehen, wenn der glückliche Fänger nicht allein fertig werden kann. Mit seinem Messer macht der Fänger nun einen kleinen Schnitt in den Bauch des Seehunds und zieht die Leber und die Nieren heraus. An diesen Delikatessen nebst einem kleinen Stück Speck erlustieren sich die Anwesenden. An einem Tag wie diesem, wo die Temperatur sehr niedrig ist, wird das Blut am Herauslaufen verhindert, wenn man nur eine Mischung von Eis und Schnee in die Wunde legt, die augenblicklich gefriert und einen guten Verband bildet. Im Frühling, wenn die Temperatur höher ist, wird die Wunde mit zwei Stäben aus Renntierhorn (Tapota) zusammengeheftet. Nach beendigter Mahlzeit werden die vorhandnen Hunde an Riemen vorgespannt, und nun geht es mit der Beute heimwärts. Auf dem Heimweg taucht oben auf einer Eispackung ein Eisbär auf. Der Wind ist entgegen, deshalb haben die Hunde keine Witterung, ehe sie den Kerl sehen. Da aber sind sie nicht mehr zu halten; alle fünf jagen in rasender Eile auf den Bären los, und es entsteht eine ordentliche Schlägerei. Meister Petz ist bald auf zwei Beinen, bald auf vieren; er schlägt und haut um sich und schnappt zu. Aber die Hunde sind ihm zu hurtig, er trifft sie nur selten. Sie tun indes ihre Pflicht und halten das Tier auf, bis die fünf Eskimos mit gefällten Seehundspießen herbeigekommen sind. Jetzt nimmt der Kampf einen ernsteren Charakter an. Es gehört Mannesmut dazu, dem Tier nah auf den Leib zu rücken, und wenn man alle die Narben und Schrammen sieht, mit denen die Eskimos gezeichnet sind, versteht man wohl, daß die Bärenjagd nicht immer ohne Wunden abläuft. Umiktuallu gibt endlich dem Bären den Todesstoß, und da liegt er nun! Das Fleisch wird unter den Jägern verteilt, aber Umiktuallu behält die Bärenhaut. Bei der Heimkehr wird die Beute den Frauen übergeben. Der Seehund ist nicht sehr groß, er kann in die Hütte hineingezogen und da abgezogen werden. Nujakke ist eine tüchtige Frau, und bald ist der Seehund abgezogen und zerlegt. Speck und Fleisch werden gleichmäßig unter alle verteilt. Nichts wird weggeworfen. Die Haut und die Gedärme fallen dem zu, der das Tier erlegt hat. Die Gedärme sind die größten Leckerbissen für diese Leute; sie werden geleert und in den Kochtopf gelegt, um sie zu wärmen. Von einem eigentlichen Kochen ist keine Rede. Dies ist eine behagliche Stunde im Hause — obgleich das Haus selbst eigentlich nur für eine Schneewehe gerechnet werden kann. Kachkochnelli liegt auf der Britsche, streckt sich behaglich aus und plaudert und singt dabei. Die Ruhe schmeckt ihm recht gut nach der anstrengenden Jagd in Sturm und Kälte draußen. Nujakke ist am Kochtopf beschäftigt, und Kallo und klein Nulieiu schmiegen sich mit flehenden Blicken an sie an. Speck ist genug da, es wird also nicht am Feuer gespart. Der Lichtschein fällt auch auf ein paar Gesichter drüben an der Tür………aber Nujakke ist eine verständige Hausmutter; sie weiß, wenn alle, die betteln, etwas bekommen sollen, bleibt ihr selbst nichts übrig, und sie tut deshalb, als sehe sie die dort’drüben gar nicht. Für Kallo und Nulieiu aber muß sie ein paar Zoll Darm abschneiden . . .!
Die Seehunde, die an den Fangorten der Netschjilli Vorkommen, sind ausschließlich „Snadd“ oder kleine Seehunde. Sie sind sehr fett und haben ein delikates Fleisch. Wenn nie Klappmützen hierher kommen, so hat das seinen Grund in dem zu seichten Wasserstand dieser Gegend. Die Strecke quer hinüber von der Insel Matty nach Boothia Felix und die Etasunde sind selbst für einen großen Seehund zu seicht; es gibt auf beiden Seiten Klappmützen genug. In Ogluli fangen die Eskimos eine ganze Menge davon. Merkwürdig genug, werden diese großen riesenstarken Tiere auf dieselbe Weise und mit denselben Geräten gefangen wie die Snadden. Es kommt einem unfaßlich vor, daß ein Mann eine solche Robbe an einem Riemen festhalten kann. Aber manchmal läuft es auch schlimm ab. Tolimao, ein starker und großer Mann von hundertsiebenundsiebzig Zentimetern, der erste unter diesen Fängern, spürte im letzten Winter eine ungewöhnlich starke Klappmütze auf. Es war ein schweres Stück Arbeit; aber Talimao ließ die Leine nicht los und wollte sie auch nicht loslassen. Er stemmte die Füße vor und hielt sie mit beiden Fäusten fest. Aber die Robbe war stärker als er, sie riß ihn um und zog ihn ins Loch hinein — das Loch der Robbe ist natürlich bedeutend größer als das der Snadden — mit Kopf, Armen und Schultern. Tolimao ließ aber doch nicht los, er blieb so quer über dem Loch liegen, bis seine Kameraden herbeikamen und ihm heraushalfen. Und Talimao bekam die Robbe! Wenn der Frühling vor der Tür steht, so gegen Ende März, kommt die Zeit, wo das Weibchen seine Jungen zur Welt bringt. Um nun nicht unter vier Meter dickem Eis von dem Ereignis überrascht zu werden, weitet es zu guter Zeit eines seiner vielen Atemlöcher aus. Zugleich gräbt es sich allmählich in den Schnee über dem Eis hinein und hat nun die schönste Schneehütte mit dem Eis als Fußboden und der mächtigen Schneedecke darüber. Hier gebiert sie das Junge; oft wird sie hier von den Hunden aufgespürt. Wenn das Junge schon groß genug ist, plumpst es mit der Mutter ins Wasser hinein, ist es aber noch neugeboren und zu klein, dann wird es die Beute der Eskimos. So vergeht die Zeit; der Juni kommt heran, und der Schnee schmilzt auf dem Eise. Da kommt der Seehund heraus und sonnt sich und erfreut sich an dem klaren Himmel und dem hellen Tag nach dem neunmonatlichen Aufenthalt in der dunkeln Tiefe. Um diese Zeit fangen die Eskimos eine Menge Seehunde. Sie entdecken sie als schwarze Punkte weit draußen auf dem Eise und schleichen sich zu ihnen hin, was aber oft ein ungeheuer schweres Kunststück ist. Der Jäger bewaffnet sich mit Lanze, Messer, Löffel und Verbandsachen (Topota). Ein kleines Seehundfell wirft er überdies noch über die Schulter, und dann geht es auf den schwarzen Punkt zu, so weit er sich herangetraut. Dann legt er sich nieder und kriecht nur noch auf dem Bauche weiter. Der Seehund ist über dem Eise ebenso wachsam wie darunter; und wenn kein Packeis da ist, hinter dem sich der Eskimo verstecken kann, hat dieser eine schwere Aufgabe zu lösen. Den Blick unverwandt auf seine Beute gerichtet, schlängelt er sich vorwärts; sobald der Seehund den Kopf hebt, muß er anhalten und sich platt niederlegen, bis das Tier sich wieder beruhigt hat. Wenn er ganz nahe herangekommen ist, legt er das Seehundfell unter den Ellbogen und gleitet, um den Laut zu dämpfen, auf diesem vorwärts. Zeigt der Seehund Zeichen von Unruhe, dann versucht der Eskimo einen von dessen Genossen nachzuahmen: er grunzt und klopft mit dem Messer aufs Eis, ganz in derselben Weise wie der Seehund mit den Flossen. Auf diese Weise schleicht er sich zu dem Tier hin. Glückt es ihm, es nicht zu erschrecken, ehe er auf Wurfweite herangekommen ist, dann richtet er sich plötzlich auf und schleudert seine Lanze stark und sicher nach dem Seehund. Dies ist natürlich der kritische Augenblick, wo viele Seehunde entkommen, aber viele werden doch auch die Beute des Jägers. Unsre norwegischen Seehundfänger wissen von der Beschwerlichkeit dieser Seehundjagd auf dem Eise zu erzählen! Oft dauert eine solche Jagd mehrere Tage; der Jäger nimmt deshalb Eßvorrat mit, und er ißt und schläft auf dem Eise. Welche unermüdlichen Menschen das sind!
Dann ist es Juli geworden; der Elimmel ist blau, die Sonne sendet warme Strahlen herab, die Vögel fliegen umher, und eine Fülle von Blumen blüht an allen Hügeln. In Netschjilli wird Zelt neben Zelt errichtet, und die Kajake warten darauf, bezogen zu werden.
Ich konnte nie so recht ins reine darüber kommen, wie die verschiednen Stämme die Jagdgebiete unter sich verteilt hatten. Aber ich glaube, es ist annähernd richtig, wenn ich mitteile, daß die Itchjuochtorvikeskimos ihr Seehundfanggebiet von der Insel Matty nordwärts hatten, die Netschjilli von dieser Insel südlich bis Point Ogle auf dem Festland; die Ogluli von Ogle westwärts durch die Simpsonstraße und nach Ogluli hinein. Die Killnermiuneskimos hatten auf diese Weise ein sehr großes Feld bekommen: von dem Kobberminefluß bis in die Mitte von Ogluli. Vielleicht ist dieser Stamm zahlreicher als die andern, oder es sind diese Gegenden ärmer an Seehunden, was mir aber doch nicht wahrscheinlich ist. Im Lauf des Winters treffen sehr häufig zwei Stämme auf der Jagd zusammen; aber weit entfernt davon, daß durch solche Zusammenstöße Schlägereien und Blutvergießen entstünde, geben sie im Gegenteil das Signal zu einer Reihe von Festlichkeiten. Deshalb sind auch die Grenzen zwischen den einzelnen Jagdgebieten nicht scharf gezogen. Die Zeitrechnung halten die Eskimos mit der größten Genauigkeit ein; das heißt, im Rahmen eines Jahres. Wenn der Eskimo nach Jahren rechnen soll — oder wie er sagt, nach Sommern und Wintern —, täuscht er sich böse und kommt zu den merkwürdigsten Resultaten. Der alte Kach-kochnelli sollte uns einmal sagen, wie alt seine Tochter Alerpa oder Kodleo sei. Er mühte sich lange ab; auf die gewöhnliche Weise der Eskimos zählte er an den Fingern ab und zog bald am Zeigefinger, bald an der Daumenspitze mit äußerst tiefsinniger Miene. Endlich war er fertig mit seiner Rechenaufgabe; Alerpa — eine erwachsne, vollentwickelte Frau — war sieben Jahre alt! Aber die verschied-nen Monate im Jahr wissen sie ganz genau auswendig. Wenn wir mit ihnen verabredeten, daß wir uns in so und so viel Monaten wieder treffen wollten, waren sie immer zur Stelle.
Nach Angabe des Uhus teilen die Eskimos das Jahr in dreizehn Monate mit folgenden Namen ein:
1. Kapidra, Januar, bedeutet: Es ist kalt — der Eskimo friert.
2. Hikkernaun, Februar: Die Sonne kehrt zurück.
3. Ikiakparni, März: Die Sonne steigt.
4. Avonivi, April: Der Seehund wirft.
5. Netschialervi, Mai: Die Seehundjungen gehen
ins Wasser.
6. Kavaruvi, Juni: Die Seehundjungen wechseln
die Haare.
7. No er ui, Juli (1): Das Renntier wirft.
8. Itchjavi 1, Juli (2): Die Vögel brüten.
9. Itchjavi 2, August: Die Jungen sind ausgebrütet.
10. Amerairui 1, September: Das Renntier zieht
südwärts.
11. Amerairui 2, Oktober: Das Renntier zieht
südwärts.
12. Akaaiarvi, November: Die Eskimos legen
Depots an.
13. Hikkernillun, Dezember: Die Sonne ver
schwindet.
Der Unterschied zwischen dieser Monateinteilung und der unsrigen ist nicht groß. Die Jahreszeiten werden nach der Beschaffenheit des Eises und des Schnees berechnet:
Opingan, Frühling (Juni und Juli): Wenn der Schnee auf dem Eise verschwindet und dieses aufgeht.
Avra; Sommer: Wenn kein Eis da ist — August und September.
Okeo; Winter: — die übrigen acht Monate.
Die Eskimos haben also nur drei Jahreszeiten. Den Herbst haben sie ausgeschlossen.
Ein ganzer Tag wird eingeteilt in:
Obla — Morgen,
Onon — Abend,
Onoa — Nacht.
Als einen Beweis, wie gut diese Leute ihre Zeit innerhalb des Rahmens eines Jahres einhalten, kann ich anführen, daß Talurnakto am fünfundzwanzigsten März 1905 zu uns sagte, jetzt sei es ein Jahr her, seit wir uns zum erstenmal gesehen hätten. Unser erstes Zusammentreffen mit den Netschjilli hatte am achtzehnten März 1904 stattgefunden. Das ist nicht schlecht gerechnet, notabene — ohne Kalender. Auf die religiösen Vorstellungen der Eskimos will ich mich nicht einlassen. Die Mitteilungen, die ich auf diesem Gebiet erhielt, waren sehr lückenhaft und unzusammenhängend, und in der Hauptsache der Phantasie des einzelnen überlassen. Wenn diese Leute überhaupt einen Glauben an ein höheres Wesen haben, dann verstehen sie jedenfalls sehr gut, das zu verbergen. Ein Leben nach dem Tode denken sie sich allerdings. Die guten Menschen kommen auf den Mond, die bösen in die Erde hinab. Die Sterne sind für die bestimmt, die nicht ganz gut und nicht ganz böse sind. Naturerscheinungen, wie Nordlicht, Sternschnuppen, Donner, Blitz, Regenbogen und so weiter, betrachteten sie mit vollkommner Gleichgültigkeit. Das Leben war ihnen unverkennbar eine Freude. Aber andrerseits flößte ihnen der Tod nicht die geringste Furcht ein. Waren sie krank oder ging es ihnen schlecht, dann nahmen sie mit aller Seelenruhe Abschied vom Leben und erstickten sich. Während unsres Verkehrs mit ihnen kamen zwei solche Fälle vor. Auf unsrer Reise mit der Gjöa kamen wir im ganzen mit zehn verschiednen Eskimostämmen zusammen und hatten da gute Gelegenheit, zu beobachten, welchen Einfluß die Zivilisation auf sie ausübte, indem wir Vergleiche anstellten zwischen den Eskimos, die mit ihr in Berührung gekommen, und solchen, die vollständig unberührt von ihr geblieben waren. Und ich möchte es als meine feste Überzeugung aussprechen, daß die Eskimos, die vollständig abgesondert von jeder Zivilisation leben, unbedingt die glücklicheren, die gesünderen, die rechtschaffeneren und die zufriedeneren sind. Es müßte auch den zivilisierten Völkern unabweisbare Pflicht sein, die Eskimos, wenn sie in Berührung mit ihnen kommen, zu beschützen und sie durch Gesetze und strenge Vorschriften vor den schlechten und gefährlichen Seiten der sogenannten Zivilisation zu bewahren. Ohne das gehen sie unweigerlich zugrunde, was ich später noch näher nachweisen werde. Dem königlich dänischen Grönland-Handel gebührt alle Ehre für die Art und Weise, wie er seine grönländische Kolonie behandelt. Man sollte hoffen, daß sich die andern Nationen ein Beispiel an den Dänen nähmen und sich ihrer Verantwortung für diese prächtigen, mutigen Naturkinder dort droben unter dem Pol bewußt wären.
Meine besten Wünsche für meine Freunde, die Netschjillieskimos, fasse ich zusammen in dem einen, daß ihnen die Zivilisation niemals nahen möge!
Text aus dem Buch: Die Nordwest-Passage, meine Polarfahrt auf der Gjöa 1903 bis 1907 (1908), Author: Amundsen, Roald; Klaiber, Pauline.
Siehe auch:
Die Nordwest-Passage- Einleitung
Die Nordwest-Passage – Dem Eismeer entgegen
Die Nordwest-Passage – In jungfräulichem Fahrwasser
Die Nordwest-Passage – Der erste Winter
Die Nordwest-Passage – Zum Pol
Die Nordwest-Passage – Sommer
Die Nordwest-Passage – Der zweite Winter
Die Nordwest-Passage – Die Menschen um den magnetischen Nordpol
Die Nordwest-Passage – Abschied vom Gjöahafen
Die Nordwest-Passage – Die Nordwest-Passage
Die Nordwest-Passage – Der dritte Winter
Die Nordwest-Passage – Unter Eskimos und Indianern
Die Nordwest-Passage – Schlittenreise nach Kong Haakon Vll.-Land
Die Nordwest-Passage – Schluß