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Die Farbe in der Skulptur

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aus dem Kunstmuseum Hamburg

Vergleichende Betrachtung der bildenen Künste

Band I

Drittes BUCH

Farbe und Komposition in Frankreich

I. DIE FARBE

Die Farbe in der Skulptur

VON JEAN GOUJON ZU CARPEAUX

Notre sculpture, pour étre expressive,
n’a jamais ete bien tranquille.

Ph. de Chennevieres.

Dieselbe Entwicklung, die in der Malerei das Ganze einer Auflösung zuschiebt und einzelne Teile, die den Sinn der Richtung am getreusten fassen, aus der abstrakten Kunst hinauszudrängen scheint, wiederholt sich in der Plastik. Man sieht auch hier die Bewegung eines großen, vielgliedrigen Körpers, und die äußersten Teile der schwerfälligen Masse sind dem Rest um ein so großes Stück voraus und haben sich auf dem neuen Wege so geändert, daß sie kaum noch zu dem Körper gehören, von dem sie ausgehen. Hier wurde das neunzehnte Jahrhundert mehr noch als in der Malerei die entscheidende Epoche. Während die Auflösung in vierhundert Jahren immer nur millimeterweise vorrückte, hat unsere Zeit mit einem Sprunge die vielbedeutende Spanne eingeholt, die die Malerei auf ihrem Gebiete voraus hatte.

Die Entwicklung war schon deshalb langsamer, weil das Interesse an der Plastik im selben Maße abnahm, als das an der Malerei stieg. Als die Zusammengehörigkeit der Künste sich löste, konnte die Malerei zu etwas Selbständigem werden. Sie machte momentan das beste Geschäft, änderte vollkommen ihre ursprüngliche Rolle, ja wurde fast eine neue Kunst, die scheinbar nicht nur alle die früheren Eigenschaften besaß, sondern noch so viel neue dazu bekam, daß die Mannigfaltigkeit blendete. Die Skulptur dagegen konnte in diesem Sinne nur verlieren. Sie vermochte nicht der leichteren Verwendbarkeit teilhaftig zu werden, die der Malerei zugute kam, sondern blieb die weltfremde Sache, unpopulär, weil dem Hause des Bürgers unnahbar, der ganzen Art nach unpraktisch, untransportabel und kostspielig.

Das gerade erhielt sie; es schützte sie vor der gar zu eingehenden Verfeinerung, sowohl im Vorwurf wie in der Technik, aber es entführte ihr das Genie, das ihr früher, in der Glanzzeit der Kunst, den Vorrang gegeben hatte. Sie war weder den Wohltaten noch den Gefahren des stark Persönlichen ausgesetzt, das in den anderen Künsten stets alle Grenzen immer wieder von neuem verrückte. Es hat seit Michelangelo viele Talente in der Skulptur gegeben, sehr wenige Genies. Viel länger als die Malerei, die alles, was Holland, was Rembrandt brachte, voraus hat, folgte sie gehorsam der Architektur. Noch Carpeaux Amoretten fügen sich geschmeidig der Überlieferung in dem köstlichen, letzten Pavillon des Louvres, und die Zeitdifferenz zwischen ihm und dem mächtigsten von allen, die den Louvre zum Tempel machten, Jean Goujon, scheint geringer, als die zwischen den Zeitgenossen Fragonard und Delacroix.

Als die Architektur aufhörte, sich künstlerisch zu entwickeln, wurde die Plastik um die Zwecke verlegen und befand sich zuweilen in der peinlichen Lage, als nackte Dame unter modisch gekleideten Herren zu wandeln. So ist ihre Rolle bei uns, wo sie auf einsamem Sokel immer noch ihre erhabene Pose bewahrt, während um sie herum die Tramwagen klingeln und ganz andere Dinge geschehen, als die Ärmste zu verewigen trachtet. Hier musste sie sich schließlich, um nicht ganz aus dem Bereich der Menge zu verschwinden, dazu hergeben, die Uniform des Kriegerdenkmals anzuziehen. In Frankreich war sie besser daran. Man fühlt in Dalou noch den Stil der Stadt, die zu Louis XIV betete, und in dem kleinsten Relief, mit dem Desbois seine Zinnschalen belebt, flüstert die Sprache, die in Puget groß war. Die Künstler hatten den Stil im Blut, als sie ihn nicht mehr lebend vor Augen hatten.

Die Gefahr war hier gekommen, als der Klassizismus die geschmeidige Form der Pigalle, Falconet, Houdon und Clodion zu meistern drohte, die von dem Zeitalter Watteaus ein vielleicht noch köstlicheres Abbild — sicher ein edleres — gegeben hatten, als die großen Maler. Sie waren mit unendlichem Takt den Gefahren des Barocks aus dem Wege gegangen. Clodions Zeichnungen lassen alles für seine Plastik fürchten, und wie vorsichtig vermeidet er hier das Extreme. Houdon zumal, der Schöpfer der Kolossalstatue des heiligen Bruno in S. Maria degli Angeli in Rom und gleichzeitig der schlanken Diana, die man im Louvre leider nur in Bronze bewundert, hatte das Noblesse-oblige der Zeit merkwürdig tief und vornehm gefaßt. Seine Diana gibt fast den Stolz der Goujonschen Diana auf der Hirschkuh, vor deren nacktem Glanz alles, was man gegen die Renaissance sagen möchte, zu Boden sinkt, und gleichzeitig entlastet er die Anmut von dem allzu lauten Gepränge, das so viele Werke Goujons und der späteren beschwert, und gibt dem nackten Leib eine keusche, alle Sinnenlust überflügelnde Grazie.

Hier fand der Klassizismus — anders als in der Malerei — nichts zu regenerieren und konnte nur ein höchst kultiviertes Griechentum, das vom Barock bekränzt, nicht unterjocht wurde, zerstören. Es geschah um so sicherer, als der Vollstrecker dieses vermeintlich klassischen Willens nichts weniger als ein David war. Die endgültige Austreibung dieses Barocks kam einer Tötung der französischen Skulptur gleich, einer Verneinung der ruhmreichsten französischen Geschichte, ja der Vernichtung einer tiefbegründeten Eigenart, die einst die französische Renaissance von der in Italien trotz aller Abhängigkeit unterschieden hatte. Rüde sorgte dafür, daß das Attentat mißlang. Er reagierte mit Keulenschlägen, mit einer Energie, die in einem großen Griff die Zwischenglieder bis Germain

Pilon, bis Goujon, ja bis Michelangelo zur Seite schob und ein neues riesiges Fundament für die zukünftige Entwicklung errichtete. Es war dieselbe Stärke, die das Auftreten Delacroix auszeichnet. Auch dieser gab der Reaktion auf David nicht durch einen Rückgriff auf Fragonard, sondern auf Rubens den Höhepunkt. Rüde war um vieles brutaler. Das Stück am Are de triomphe tönt wie das Kriegsgeheul der alten Gallier. Man begreift einigermaßen, daß Thiers, der Gönner Rüdes, eine Gruppe, die der Künstler für die Krönung des Triumphbogens entworfen hatte, aus Besorgnis vor diplomatischen Verwicklungen zurückwies.

Barye glättete diese furiose Passion. Er brachte ein gelasseneres Tempo, das der Zeit entsprach; ein korrekter, zugeknöpfter Herr, der eher einem Anwalt als einem Künstler glich und sein Genie mehr für seine unnachahmlichen Zeichnungen verwandte, als für seine wohlgestaltete Tierplastik. Delacroix half ihm dabei, aber das Resultat war ein vollkommenes Novum; er verstand die Fuge zeichnerisch zu organisieren und viel geschlossener zu gestalten als sein großer Freund, und er verwandte dafür Farben, die man überall, nur nicht bei einem Bildhauer, vermutet. Wenn Bildhauer in ihren Entwürfen Koloristen werden, pflegen sie wie Offiziere in Zivil auszusehen. Baiyes Pastelle gehören zu den schönsten Märchen der modernen Farbenkunst und sagen keinen geringeren als Degas voraus. Er modelliert auf dem Papier seine Tiere in ihren prächtigsten Sammetfellen, immer ganz klein; seine Löwinnen stehen einer prachtvoll getigerten Angora näher als der Bestie, die Delacroix zeichnete; und es ist eine Lust, zuzusehen, wie sie einen Menschen verspeisen. Trotz alledem sind sie wunderbar echt getroffen.

Baryes Schüler Carpeaux endlich führte die Plastik auf das Barock zurück. Sie wurde dabei bewegter, als sie jemals im 18. Jahrhundert bei gleichen Verhältnissen gewesen war, bewegter nicht nur in der Gebärde, sondern der Masse. Schon das bedeutende Erstlingswerk des Meisters des Tanzes, der Ugolino in dem Garten der Tuilerien, das der junge Prix de Rome in der französischen Schule der Villa Medicis entwarf, geriet zum Entsetzen des Akademiedirektors aus allen Bahnen der wohlgedrillten Glätte. Es war das Gemetzel von Chios in der Plastik. Schon hier erklärt sich das Wort des großen Nachfolgers Carpeaux’: „La sculpture, c’est l’art du trou et de la bosse.“

Der Ugolino blieb nicht allein, er gab erst den Anfang der tiefen Höhlung, mit der Carpeaux seine Materie gestaltet. Die bereits erwähnte Frontongruppe des Pavillon de Flore am Louvre sieht von nahem wie eine Kombination von tiefen Spalten aus, die Engel könnte Rubens geknetet haben. Auch an einen anderen Großen denkt man. Die Zeichnung Daumiers im Museum von Calais, der Zug des Silen, ist dieselbe quellende Fleischfreude.

Man kann diese Tendenz mit einiger Einschränkung malerisch nennen, weil sie in unserer Zeit offenbar von Malern angeregt wurde, von Watteau, dem sein Landsmann Carpeaux in Valenciennes die Statue errichtete, und von allen andern, die sich das Spiel der Lichter im Bilde angelegen sein ließen. Aber dies Malerische ist vieldeutig, wie alle modernen Kunstwerte. In Wirklichkeit gehört diese Eigenschaft im tiefsten Sinne der Plastik, die sie der Schwesterkunst nur entlehnte, um etwas wiederzubekommen, was die andere ihr vor uralten Zeiten genommen hatte.

Als sich die Malerei nicht mehr mit der materiellen Farbe und der Kontur begnügte, mußte sie notgedrungen in das Gebiet der Plastik übergreifen. Sie ahmte die Rundung nach, statt wie die Mosaikisten in der Fläche zu bleiben. Giotto war sich, als er seinen Campanile mit den Reliefs schmückte, kaum bewußt, ein anderes Metier zu treiben, als da er seine Fresken schuf. Noch deutlicher scheint die Hand mit dem Meißel zu malen, die unter den herrlichen Sankt Georg des Or San Michele das kostbare Relief setzte, das sich wie ein Lächeln in die Fläche verliert.

Aber man müßte wohl noch weiter zurückgehen, um diesen Ausgangspunkt beider Künste zu finden. Die Ägypter nannten vielleicht Plastik die Schrift, die sie in die Pyramiden schnitten, und Malerei die Zeichen, die sie schrieben. Nichts natürlicher, als daß sich aus dem geschnittenen Schriftsatz das Relief entwickelte. Mit alledem gewinnt die Malerei kein Recht, das, was dem Flachrelief den Reiz gibt, für sich zu beanspruchen. Man könnte also mit demselben Recht das, was heute im übertragenen Sinne malerisch heißt, plastisch nennen.

Die Wahrheit, welcher von beiden Künsten dies Mittel gehört, liegt in der Mitte. Sie haben dasselbe Ziel, die Lichtwirkung. Der Architekt der Alten, der weder Maler noch Bildhauer, sondern alles war, setzte seinen Schmuck dahin, wo er die Fläche bewegt haben wollte, und der Dekorateur bestrebte sich, durch eine stärkere oder schwächere Arabeske das Licht zu verteilen und das Spiel, das der Architekt im großen trieb, im kleinen zu wiederholen. So weit der allgemeinste Zweck dieser Künste, der freilich nur von ihrem materiellen Wesen handelt.

Je mehr die Architektur, der Nerv dieses Gemeinwesens, zurücktrat und beide Künste Selbstzweck wurden, desto mehr verwischte sich die Grenze zwischen ihnen, desto energischer strebten beide dem gemeinschaftlichen Zwecke, dem Lichte zu. Die Skulptur war nicht mehr die Füllung einer für sie geschaffenen Leere, die sie kräftiger, als es die Malerei vermochte, mit Licht und Schatten schmückte. Der Ugolino schafft sich am eigenen Leibe Höhen und Tiefen, setzt seine Kinder um sich herum nach einer eigenen, phantastischen Architektur und behandelt jedes Teilchen an sich, wie er selbst früher als Ganzes von anderen Gestaltern behandelt worden war. Zur Richtschnur, die der Architekt in dem hohen Erfassen der Gesetze des Raumes erblickte, wird jetzt ein freieres, nicht weniger wertes Axiom, der Sinn für die Natur von Licht und Schatten an einem Dinge, das für sich allein besteht. Das Studium des nackten Leibes im hellen Lichte gibt ihm die beste Erziehung.

Die Lehre scheint so alt als die Plastik der Griechen, das Hohelied von der schönen Natur. Sie ist in der Tat dieselbe; was sich geändert hat, ist die Natur. Es fehlen die Modelle, die einem Phidias das Natürliche gewohnter Nacktheit zeigen. Die Welt ist häßlicher geworden, und zwar nicht nur in den Modellen. Es scheint, als ob die ganze Architektur nur dazu da war, um uns über diese stets weiter um sich greifende Häßlichkeit zu täuschen. Der Anblick ist schauerlich. Hätten wir nicht die Zeugen unserer früheren Schönheit vor Augen, so würde uns unsere Mißgestalt nicht abhalten, uns als Adonis zu erscheinen. Aber da ist Phidias, da ist Skopas, da ist Praxiteles. Schon als die Renaissance die Alten entdeckte, muß man sich über die Veränderung nicht wenig gewundert haben.

Es bleibt ein Trost. Nicht die Schönheit dieser Leiber war es allein, sondern die Kunst, die aus ihnen zaubert. Es handelt sich nicht darum, ob eine gerade Nase schöner ist als eine krumme, die eine wie die andere kann dieselbe Schönheit haben, wenn das Gesetz, das sich ihrer bedient, Stärke genug besitzt. Was die Griechen auszeichnet, ist nicht ihre schöne Nase, die ihren meisten Statuen im Laufe der Zeiten abhanden gekommen ist, sondern ihr Organismus. Nun beginnt ein eifriges Suchen nach Organismen, David d’Angers sucht, Pradier sucht, Rüde, Carpeaux, Falguiere u. s. w. Jeder sucht auf seine Weise den Organismus, der am stärksten ist, die Erfassung der Natur, die sich nach seiner Meinung am günstigsten für das Spiel der Lichter eignet.

Das ist der Unterschied mit den Griechen: Sie wußten, wo sie zu suchen hatten, ihre Anstrengungen waren gleichgerichtet durch das Leben, das sie führten und das sie zur Darstellung des Nackten trieb. Als die Leute anfingen, sich anzuziehen und die Architektur, die es ebenso machte, in den Vordergrund rückte, war sie es, die den Zielpunkt bestimmte. Jetzt haben wir weder das eine noch das andere, wir hängen von dem guten Willen des Einzelnen ab, und jeder Einzelne sucht uns etwas Neues zu bringen. Nur eins bleibt als allgemeines Ziel für die wenigen, die überhaupt künstlerische Ziele kennen: So viel Licht in der Fläche wie möglich. Es steht, um zu diesem Ende zu gelangen, nichts im Wege, die Menschen aus Löchern zu machen. Daumiers Ratapoil wird unsere Aphrodite.

Auch wenn man statt des Ratapoil eine andere ebenso konsequente, aber ernsthaftere Schönheit setzt, die Entwickelung bleibt im Grunde dieselbe. Die Skulptur ist im neunzehnten Jahrhundert häßlicher geworden als sie je war und hat im selben Umfang an Macht gewonnen. Das Geheul Rüdes würde in einem andern Zeitalter ausgezischt worden sein. Es ist eine höchst robuste Kunst, wie die Malerei der Cezanne und van Gogh; stärker als die beiden Riesen Pugets, die den Balkon des Rathauses in Toulon tragen, denn die Gruppe am Pariser Triumphbogen trägt nur ihren Schrei und wirkt doch wie eine Masse. Auch Carpeaux ist robuster als Gleichgeartete anderer Zeiten. Wie viel mächtiger spricht so manches seiner Porträts als der kleine Voltaire von Houdon! — Voltaire war voller Falten, eine wahre Fundgrube für Lichter, und Houdon brachte es fertig, ihn ganz glatt zu machen, sogar einmal ohne Perücke.

Aber diese Glätte hat etwas merkwürdig Ergreifendes, das sich von dem Dargestellten befreit, sie erinnert an einen andern Schädel aus Stein, der in Rom aus einer Nische leuchtet, als Krönung einer kolossalen Figur, die gar keine Löcher zeigt, nur ein paar riesige, ebenso glatte und doch leuchtende Gewandfalten, an den aus höchstem Geist geborenen heiligen Bruno! . . .

Es geht einem vor dieser Statue wie in der Galerie Doria vor der herrlichen Poussin-Kopie nach der Aldobrandinischen Hochzeit. Unwillkürlich werden diese Franzosen zu Zeitgenossen. Ein Heimatsgefühl, das die Welt durchbraust, dehnt die Brust; man fühlt sich fast greifbar mit dem Grössten menschlicher Schöpfung verbunden, der Odem einer göttlichen Zeit weht uns an. — Wie tonlos klingt die schreiende Gegenwart daneben! — Was kümmert uns, daß sie lebt! Leben wird auf einmal das geringste an der Schöpfung. Ist dies stillere Dasein, in dem die wiedergegebene Gottheit schlummert, nicht tausendmal mehr lebendig? Und langsam sinkt das üble Gespenst des Ratapoil in die Tiefe, und wir sprechen mit dem großen Sonnenkönig: „Otez-moi ces magots!“

Der Unterschied zwischen dem Barock Carpeaux und dem des Houdon ist das Attische in dem Meister der Diana, eine geheime Form in den Formen, die nur griechisch genannt werden kann. Sie blieb über dem gefälligen Flächengekräusel und war wohl darauf bedacht, die Bewegung des Einzelnen nicht dem ganz vollendeten, ruhigen Umriß voranzusetzen, der den Anblick des Werkes aus jeder Entfernung erlaubt und den Betrachter nie zu nahe kommen lässt. Wie sich hier das neunzehnte Jahrhundert zu dem achtzehnten verhält, so stand der große Bildner des siebzehnten Jahrhunderts, Puget, dem Meister des französischen Cinquecento gegenüber. Puget war auch Maler, und es lockte ihn gewaltig, die Form mehr zu malen als zu meißeln. Goujon dagegen war auch Architekt, wie die Gotiker, und als er seine Diana auf den Hirsch setzte, ließ er sich von demselben Gedanken an die gemeinsame Heimat aller Künste leiten, der seinen unsterblichen Frauenreliefs an der Fontaine des Innocents, in der Nähe der Markthallen in Paris, den fürstlichen Anstand gibt.

Dies Griechentum, das wir auch noch in der Malerei Frankreichs bis zum heutigen Tage finden werden, hat die französische Skulptur von der Wiege an geleitet, und man kann ihr nachsagen, daß sie immer nur da ganz glücklich war und das Generöse, das wir an der französischen Kunst lieben, im reichsten Maße besitzt, wo ihre Bildner die hohe Kunst Athens vor Augen oder im Sinne hatten. Ja, schon in der Gotik, als noch kein bewußter Gedanke den Marmor der Alten weckte, glaubt man diesen höchsten Klassizismus zu finden, und nichts widerstrebt uns mehr als das Bewußtsein, daß diese Bauten einer Religion dienen, die einst zur Verhöhnung des Göttlichen, der Verstümmelung der Antiken, beigetragen hat. Die Kathedrale von Reims ist voll von antiken Gestalten aus dem Ende des XIII. Jahrhunderts, in denen das Griechische zu schlummern scheint. Freilich zielt dieses Griechentum auf eine ganz andere, unendlich mächtigere Richtung als das Italienische, das sich aus dem Stil des Phidias entwickelte. Man glaubt in der ergreifenden Frauenfigur mit dem einfach zusammengezogenen Mantel und dem Kopftuch, die das Haupttor der Nordseite der Kathedrale von Reims schmückt, ein so starkes Gefüge zu finden, wie es die Plastik der Zeit vor Phidias besitzt und wird sich immer fragen, warum diese Macht nicht ebenso zur Quelle eigener Entwickelungen werden konnte. „Solche Figuren,“ sagt Gonse, „zeigen was Frankreich zwei Jahrhunderte vor Donatello machte. In der Plastik wie in der Baukunst war damals Frankreich die Herrscherin Europas 1.“

Nichts war gerechtfertigter als die Begeisterung, mit der Viollet-le-Duc und seine Nachfolger diesen Stil als die nationale Sprache Frankreichs in Anspruch nahmen und die Bezeichnung „gotisch“ zurückwiesen. Mit derselben Energie wandte man sich gegen das Römertum der Akademiker. Viollet-le-Duc stellte der Civilisation politique der römischen Kaiserzeit die Civilisation sympathique der Griechen gegenüber 2; er zeigte mit bezwingender Logik die unendliche Überlegenheit der griechischen Architektur über die römische und verband die Kunst des mittelalterlichen Frankreichs mit den Byzantinern, mit deren Geist er sich verwandter fühlte als mit den Idealen der Renaissance. Es war derselbe Geist, der in England den Morris-Kreis beseelte, nur sprach in den Franzosen noch das Griechische mit, von dem man neue Taten erwartete. In allen späteren Werken französischer Schriftsteller über die Kunst der Heimat spürt man an der wunden Stelle, wo die Renaissance beginnt, einen schlecht verhehlten Ingrimm, der sich nur mühsam zur Folge versteht. Corroyer, der in seinen ausgezeichneten Arbeiten über die romanische und gotische Architektur den innigen Zusammenhang zwischen beiden und mit der Antike verfolgt 3, weigert sich, auch die Renaissance Frankreichs mit in denselben Kreis zu ziehen und will lieber von den Vlaamen, die in der Gotik mithalfen, abhängen, als von den „Italienern“ des Zeitalters Michelangelos. Von manchem Architekten, der unter Viollet-le-Duc lernte, kann man noch heute erfahren, wie tief dieser Patriot das Herz seines Volkes verstand.

Niemand wird dieser Einseitigkeit die Achtung versagen, ja man ist leichter zur Überschätzung dieser Begeisterung bereit, als zur Würdigung der Kompromißler, die sich nur von der gesunden Lehre Viollet-le-Ducs entfernten, weil sie ihn nicht zu erreichen vermochten. Es handelte sich darum, ihn zu übertreffen. Wer möchte seine Bewunderung mit Opfern zahlen und die französische Renaissance entbehren! Vielleicht ist der Patriotismus der höhere, der in der Wandlung, die sich Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Frankreich vollzog, eine Notwendigkeit sieht, mit der wir heute ebenso zu rechnen haben, wie einst die Künstler, die, als sie die Renaissance mitmachten, nicht allein ihren, sondern anderer Mächte Willen vollzogen. Wesentlich bleibt allein, wie sie sich abfanden. Und da meint man zuweilen, die Gotik sei gar nicht gestorben, und als Michel Colomb das Grabmal des Herzogs der Bretagne und der Marguerite de Foix in der Kathedrale von Nantes ausführte, habe er nur eine neue Form gewonnen, um den Geist der Väter zu feiern. Und wenn sich dann in dem Monument der beiden Brezö im Dom von Rouen der ganze Reichtum des neuen Stils entfaltet, erscheint wiederum das Alte von dem Neuen bekränzt. Alle Pracht des Säulenbaues mit den echt Goujonschen Figuren dient nur dazu, den nackten Leichnam auf dem Sarkophag zu feiern, den allein ein Enkel der Gotiker so tiefergreifend zu gestalten vermochte.

1 Louis Gonse: La sculpture francaise (Librairies-Imprimeries Reunies, Paris 1895).

2 Im sechsten Kapitel der Entretiens sur l’architecture (A. Morel & Cie., Paris 1863).

3 L’Architecture romane, Paris, Maison Quantin 1888, und L’Architecture gotique, Ancienne Maison Quantin 1891. Vergl. auch: Anthyme Saint-Paul, Histoire monumentale de la France, Paris, Hachette 1884.

Diese Ausdrucksfähigkeit mußte sich in einer weniger ernsten Zeit gelinderer Formen bedienen, und auch da treibt die Geschmeidigkeit des Volksgenius, der allen Launen zu folgen versteht, zur Entdeckung seiner eigensten Art. Die Renaissance wäre schon der Nachsicht würdig, wenn sie nur dazu gedient hätte, die Franzosen die Urart ihrer Muse finden zu lassen, — was ich ihr Griechentum zu nennen wagte, ein Fund, der Viollet-le-Duc wohl versöhnlicher stimmen konnte. Mag man es nennen, wie man will, gotisch oder griechisch, dieses höhere Bewußtsein der Art, das in allen wandelbaren Formen des Tages die geheimnisvolle Urform des Rassengenius mitklingen läßt, starb nie ganz in Frankreich. Es wachte immer wieder darüber, daß sich die Üppigkeit der Farbenfreude im gemalten wie gemeißelten Bilde nicht ins Ungemessene verlor. Es wurde auch der schwankenden zeitgenössischen Plastik zur Stütze.

Text aus dem Buch: Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst : vergleichende Betrachtung der bildenen Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik, Author: Meier-Graefe, Julius.

Siehe auch:
_____ Ersteses Buch _____
Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst – Vorwort
Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst – Einleitung
Die Träger der Kunst Früher und Heute
Traditionen
Die Entstehung des Malerischen
Die Blüte der Malerei
Das Empire
Ingres
Die deutsche Kunst
Delacroix und Daumier
Honoré Daumier
Jean-François Millet und sein Kreis
Der Einfluss Jean-François Millet
Giovanni Segantini
Vincent van Gogh
_____ Zweites Buch _____

Constantin Meunier
Die vier Säulen der modernen Malerei
Edouard Manet
Edouard Manet und Whistler
Paul Cezanne
Vuillard-Bonnard-Roussel
Edga Degas
Edga Degas und sein Kreis – Die Nachfolger
Pierre-Auguste Renoir und sein Kreis

_____ Drittes Buch _____

Farbe und Komposition in Frankreich
Claude Monet
Georges Seurat
Paul Signac
Der Neo-Impressionismus als Kunstform
Der Neo-Impressionismus in Brüssel


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