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Der Impressionismus in der Plastik

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aus dem Kunstmuseum Hamburg

Vergleichende Betrachtung der bildenen Künste

Band I

Drittes BUCH

I. DIE FARBE

Der Impressionismus in der Plastik

Rien n’est materiel dans l’Espace.

Rosso.

Das Malerische beherrscht die Skulptur Frankreichs und ist in allen modernen Kunstländern eine — sehr oft die führende — Richtung. Ihm verdankt die Skulptur eine merkbare numerische Begünstigung. Es wird seitdem mehr Plastik gemacht und auch verkauft. Ein Porträt Bourdelles ist nicht nur leichter zu machen, sondern gefällt auch heutzutage leichter als eine Büste von David d’Angers. Der verräterische Rest, den das Können, das sich an einer gemeißelten Form versucht, zurückgelassen hätte, versteckt sich hier zuweilen in dem gefälligen Zufall unbeherrschter und um so natürlicherer Gestaltung. Das Publikum wiederum empfängt bereitwillig eine Kunst, die die gewohnte Richtung der Malerei widerspiegelt, und glaubt Manet und den anderen vielverkannten Helden des Impressionismus schuldig zu sein, die Unbill, die ihnen widerfuhr, diesen Nachkommen mit um so größerer Liebenswürdigkeit zu entgelten. Zudem geht es ihm hier leichter vom Herzen, da seiner verrotteten Kunstbetrachtung das rein optische Zusammenfügen genügt und die Lösung des Rebus allein schon die bedürfnislose Seele befriedigt. Es gab zu keinen Zeiten eine wohlfeilere Art, zur Kennerschaft zu gelangen.

Der Niedergang dieser Kunst, der nur die eigene Willkür Gesetz zu sein scheint, ist ein sehr viel weniger erquickliches Schauspiel als die Dekadence der Epigonen Michelangelos gewesen sein mag. Der Unterschied liegt im Material. Michelangelo hatte mit dem Marmor, dem edlen Baustoff der Alten, den die Päpste, so lange der Vorrat des alten Roms reichte, beibehielten, zu rechnen, und schon die Sprödigkeit des Steins setzte dem Eigenwillen ein Ziel. Es ist eine merkwürdige Ironie, daß heute ein Italiener die natürliche Konsequenz zieht und, nachdem ihm der Bauherr keine Beteiligung mehr gestattet, ganz auf den Stein verzichtet. Seiner Laune genügt das Wachs, er kann es sich mit seinen Mitteln kaufen. Und natürlicherweise sucht er diesem Material alle Reize abzugewinnen. Daß es nachher vielleicht in Bronze gegossen wird, ist von untergeordneter Bedeutung. Der Guß dient lediglich zur Konservierung.

Das Verlockende daran, ein reines Amateurmoment, entbehrt scheinbar nicht der Begründung. Wie der Maler sucht nun auch der Bildhauer nicht durch die Lösung eines Monumentalproblems — wo sollte er es hernehmen? —, sondern durch eine auf dem Manuellen im engsten Sinne beruhende Eigentümlichkeit des Werkes zu wirken. Auch hier tritt die Handschrift in den Vordergrund. Rodin weist die Angriffe auf den Balzac mit der knappen Entgegnung zurück, daß auch dieses Opus seine „essentiellen Modeles“ enthalte.

Vielleicht ist in der Tat das Whistlersche Postulat, das wir bei der Malerei besprachen, hier noch weniger berechtigt, und das Verlangen des modernen Bildhauers nichts anderes als ein Resultat der Erfahrung, daß jedes alte Handwerksstück die Spuren des Werkzeugs verrät, mit dem es gemacht ist. Aber dieser verlockende Schein trügt. Die materielle Teilung, aus der in der Malerei die Farbe entsteht, kommt hier nicht in Frage. Nur die Teilung in Licht und Schatten bleibt und sie ist von der kleinen Handwerkerfrage, zu der hier das Whistlersche Axiom wird, ganz unabhängig. Der Grund, der heute noch einen zünftigen Silberarbeiter treibt, seine Ziselierung mehr oder weniger markiert zu halten — oft lediglich ein Mittel, um den höheren Preis vor dem gestanzten Stück, nicht den höheren Wert zu rechtfertigen — fällt etwa in das Gebiet der Patinierung und hat seine berechtigte, aber nicht im entferntesten entscheidende Bedeutung. Den Ausschlag gibt, ob die Art der Behandlung, welche es auch sei, zum Zwecke führt, also so organisch verwandt wird, daß das Resultat sich von dem Mittel befreit. Das Spielen der Lichter an sich, sei es im Bilde durch die kleinen oder größeren Pinselstriche oder in der Büste durch die kleinen oder größeren Eindrücke des Daumens, bedeutet gar nichts. Das Licht dient uns nur, wenn es etwas beleuchtet.

Dieser Zweck tritt immer mehr zurück; die Harmonie, vernünftigerweise das einzige Endziel, um das Kunstwerk aus dem Meer der Willkür abzusondern, weicht auch in dem Stück der Malerei und in dem Stück der Plastik im selben Verhältnis wie einst die Harmonie unter den Künsten als Gruppen zurückging. Es bilden sich im Stück Einzelstücke, die Schönheit des Ganzen verschwindet in Details, man macht eine unförmliche ganze Figur in Überlebensgroße, um einen wirksamen Kopf zu zeigen. So war es im alten Handwerk aber durchaus nicht gemeint. Weit über der Frage, ob glatt oder nicht glatt, stand der Zweck des Ganzen, und der Bildhauer, dem es bei seiner hölzernen Madonna eingefallen wäre, nur an diese eine Frage zu denken und sie auf Kosten des Restes zu lösen, wäre, auch als Genie, dem üblen Tischler gleichgestellt worden, der die vier Beine des Stuhles macht und den Sitz vergißt.

Wir sahen den Impressionismus in der Malerei der Kunst immer nur große, bedeutende Fragmente beisteuern. In der Plastik wiederholt sich das Spiel; nur die Folgen, die in der Malerei von dem Reiz glänzender neuer Gaben überstrahlt werden, sind hier deutlicher verderblich und erschweren der Resignation, sich zu der relativen Begeisterung aufzuschwingen, die den Nachfolgern Rodins und Rossos gebührt. Die überragende Gestalt des Balzac-Schöpfers läßt alle anderen Bildhauer klein erscheinen; man mag über ihn denken wie man will, jedenfalls verdirbt er den Geschmack an den anderen, die sich an große Aufgaben heranwagen. Es ist kein Wunder, daß sich die neuesten Talente in der Umgebung Rodins mit der Kleinplastik begnügen. Desbois und Alexandre Charpentier begleiten das Epos, das Rodin dem Menschentum widmet, mit gefälliger Lyrik. Sie geben der Kleinplastik manche köstlichen Dinge. Hier gilt nur der Geschmack, der selbst in dieser, die Deutlichkeit fliehenden Technik, ein wenn nicht entscheidendes, zum mindesten anmutvolles Verhältnis unter den Formen zu bewahren sucht und aus einem Nichts die Grazie zaubert. Sie streichen mit dem Daumen über das Zinn und aus den Wellungen des weichen Metalls wachsen Mädchennacken hervor und schmeicheln das Auge wie die Hand. Es ist eine zarte Kunst wie das Pastell. Charpentier setzt mit ihr die ruhmreiche französische Tradition fort, die jedem Ding, auch dem Unscheinbaren einen Hauch ihres Glanzes zu geben wußte, und versucht mit einem nuancenreichen Takt selbst die Formenwelt dieser Tradition zu erhalten. Das leichtfüßige Gliederwerk seiner Gruppe auf der hübschen Holzuhr von T. Selmersheim scheint fast biegsamer als die Bronze auf den Kaminen von Versailles, und diese Zierlichkeit überrascht doppelt bei einem Künstler, dessen breites Relief in der Medaille jede Anlehnung an die Tradition der Roty, Chaplain, Dupuis u. s. w. zu fliehen scheint und auch in diesem Gebiet den Impressionismus zum Äußersten treibt. Aber ist nicht schließlich dieser ganze Impressionismus in der Plastik nur ein Extrem des Barocks? . . .

Eine ganze Reihe von Künstlern entwickelt diese Richtung. Bourdelle übersetzt den Beethovenkopf in die „musikalische“ Plastik, Fix-Masseau tat vor zehn Jahren mit der phantastischen „Emprise“ einen guten Wurf; Voulot, Milles, Dejean machen ihre hübschen Figurinen, von den Ausländern sind Troubetzkoi, Vallgren — der Verantwortliche der Wiener Schlangenweibchen-Plastik — und seit kurzem der Deutsche Hoetger in Paris bekannt geworden. Der junge Hamburger Barlach scheint aus dem Barock-Impressionismus eine neue Schmuckform zu gewinnen.

In größerem Stil hat nur der Norweger Gustav Vigeland, fast allein als Sohn Skandinaviens, die Kunstgattung Rodins in eigener Weise gefördert. Seine erste größere Arbeit, „die Hölle“, aus dem Anfang der neunziger Jahre, ein figurenreiches Relief von drei Metern Länge, erinnerte deutlich an den Schöpfer der Porte de l’Enfer. Vielleicht mehr im Vorwurf als im einzelnen. Wie der Penseur über dem Tor sitzt bei Vigeland der Satan, die Ellbogen auf den Knieen, den Kopf in den Händen, in der Mitte der Gruppen und verfolgt den wechselreichen Zug der Verdammten. Aber die Art der Darstellung ist gründlich von der Rodinschen verschieden; es fehlt ihr die schöne rundliche Arabeske, der Reichtum der Pläne, die reiche Modellierung. Vigeland ist nichts weniger als barock. Man ahnt die nordische Gotik des Doms von Drontheim, und von Rodin kommen nicht die Nixen, sondern allenfalls die ragenden Gestalten der Bourgeois de Calais ins Gedächtnis. Der Norweger ist schmächtiger, seine Figuren bestehen meistens nur aus schön geformten Knochen; er vermeidet gern die gewundene Linie, der „Tanz“, den er in Berlin machte, war eine Ausnahme. Seine Form hat nicht den einschmeichelnden Flug der französischen Plastik und seine Symbole gehören der mächtigeren, aber spröden Mystik des Nordens. Die Gruppe, Mann und Frau, die er wohl den „Pardon“ nannte, war ein in schöne Form gesetzter Munch. Anfang 1903 brachte die Wiener Sezessionsausstellung neben Rodins berühmter „Hand Gottes“ ein paar Sachen des Norwegers. Man konnte sich kaum einen größeren Gegensatz denken als die Form und Symbolik des Franzosen, dem es gelang, dem tiefen Schöpfungsgedanken einen koketten Reiz zu geben und auch hier noch mit dem gefälligen, geschmeidigen Rund zu wirken, und auf der anderen Seite Vigelands Gruppe des alten hochaufgerichteten Mannes, dessen Knie die Kinder umfangen, ein wahres Gebäude in die Höhe strebender Linien — ein gotischer Ugolino.

Der Rest der Rodinschen Anregungen verliert sich ganz ins Malerische. Wollte man boshaft sein, so könnte man sich zum Vergleich Wilhelm Büschs Abbildung der beiden bösen Buben bedienen, als sie zu Teig geworden waren. Ein guter Teil dieser Plastik scheint aus Versehen in etwas Dickflüssiges geraten und gefällt sich darin, in diesem Zustande zu wandeln. Das Material tut ein übriges dazu. Noch immer blüht in Paris die Mode nach dem Vorbild des Carries, der ein größerer Keramiker als Bildhauer war, die Kleinplastik in geflammtem Steingut auszuführen, in den Gres der Delaherche, Dalpayrat, Bigot etc., deren geflossene Emails die Form noch willkürlicher gestalten. Man verbietet dem Bronzegießer jede Retusche an dem von der Impression geheiligten Werk und ehrt die Gußnaht wie eine höhere Offenbarung.

Aus diesem Geiste bildet sich die Kritik. Ein französischer Schriftsteller veranstaltete vor ein paar Jahren eine Rundfrage, ob es gerecht sei, die Skulptur auf die Rolle einer ornamentalen Kunst, die nur einem Schönheitsideal dient und sich mit der Schöpfung harmonischer Formen begnügt, zu beschränken, oder ob es nicht vernünftig und wert sei, ihr zu erlauben sich der Wirklichkeit (?), der Wissenschaft der Tonwerte, der Perspektive zuzuwenden und in offenen Wettbewerb mit der Malerei zu treten. Diese Enquete konnte nur in unserer Zeit ersonnen werden. Aber es bleibt auch für unsere Zeit erstaunlich merkwürdig, daß sie von allen Angefragten ernsthaft beantwortet wurde, und zwar von den besten Künstlern, sowohl Bildhauern wie Malern, von den Leuchten der Kritik, von vornehmen Sammlern. Rodins Antwort steht wie billig obenan. Er geht nicht des näheren auf die Frage ein, sondern benutzt die Gelegenheit zu einer seiner begeisterten Hymnen auf die Natur.

„. . . . Ich habe die Antike studiert, die Bildhauer des Mittelalters und bin zu der gesunden Natur gegangen. Nach dem Tasten im Anfang bin ich mit jedem Schritt mutiger geworden, als ich sah, daß ich mich in der wahren Überlieferung der Freiheit und Wahrheit befand. „Ich bin in der Tradition, die Schule der schönen Künste hat mit ihr seit achtzig Jahren gebrochen. Ich bin in der Tradition der Primitiven, der Ägypter, Griechen, Römer. Ich habe mich bemüht, die Natur zu kopieren. Ich übertrage sie, wie ich sie sehe, gemäß meinem Temperament, meiner Empfindsamkeit, gemäß den Gefühlen, die sie in mir wachruft. Ich habe nicht versucht, sie umzuformen, habe ihr keine Kompositionsgesetze aufgedrängt, noch versucht ihre Bewegungen zu harmonisieren. Ich habe sie beobachtet und sie festgehalten in ihrer Selbstüberlassenheit, ihrem vollen Leben, ihrer vollen Harmonie.

„Die Natur komponiert sich selbst. Und mir scheint diese Komposition sehr viel schöner als die andere, die man durch Verwendung willkürlicher Gesetze erzielt. Dem Modell seine eigenen Bewegungen lassen, ist mein Gesetz. Hier allein ist Leben, Schönheit. Die überlieferten Posen, die man dem Modell in den Schulen aufnötigt, erklären die Steifheit und Härte des Akademischen. Sie brechen in Wirklichkeit das Gleichgewicht und zerstören die Harmonie und Komposition der Natur. …“

Er schließt mit dem Hinweis, daß es nur eine Kunst gebe, daß Malerei und Plastik in einer einzigen Kunst zusammenfließe, der Kunst der Zeichnung. Das Beobachtungsfeld der Natur sei so groß, daß alle wirklich starken Temperamente es bearbeiten könnten, mit den Mitteln, über die sie verfügen: Ton oder Palette.

Man kann ungefähr von alledem das Gegenteil sagen, ohne sich von der Wahrheit zu entfernen. Ja, man würde ihr etwas näher kommen. Die Liebe zur Natur, die auf dem Wege der Ägypter und Gotiker zu sich selbst gelangt, hat ein weites Herz. Es ist immer dieselbe Verwechslung von Natur und natürlich. Jeder Künstler, der mehr von der greifbaren Welt will, als das Natürliche von ihr lernen, .entfernt sich von der Kunst. Es war sicher nicht der Naturalismus, der Rodin zu den Ägyptern und Griechen zog, sondern just der Trieb nach einem Gesetzmäßigen, um der Natur gegenüber Rückgrat zu behalten; nach einer Regelung der Übertreibung des Natureindrucks, vor dessen Notwendigkeit er sich nicht zu verschließen vermochte; nach einer Formulierung des nicht in der Außenwelt Liegenden, sondern nur in den Zwecken der Kunst Begründeten, das Rodin diesmal Temperament und Empfindung und ein andermal, wie wir in dem Kapitel über ihn sahen, Mathematik und Geschmack nennt. Er entfernt sich, indem er wie Zola das Entscheidende in dem Temperament zu finden glaubt, weiter von der Wahrheit. Das Temperament deckt sich etwa mit seinem vagen Begriff Geschmack; es sagt nichts von dem Mathematischen, von dem unverrückbar konstruktiven Element, das die Organisation der Natur durch die Organisation der Kunst ersetzt, um zum Kunstwerk zu gelangen. Seine Auslegung gibt Rosso, nicht sein eigenes Werk, das sich gerade durch das, was seine Theorie verschweigt, von dem des Kameraden und nicht zum Nachteil unterscheidet. Er glaubt für seinen vermeintlichen Naturalismus zu sprechen, indem er, an einer anderen Stelle seiner Antwort, seine berechtigte Abneigung gegen die Präraphaeliten ausspricht. Er beweist damit nur, daß die Neigung nach der anderen Seite der Wage nicht weniger Verderben bringt, daß es mit der Formel allein nicht getan ist — wenn bei den Präraphaeliten überhaupt von einer ernsthaften Formel die Rede sein kann. Wenn er richtig erkennt, daß den englischen Stilisten die Natur fehlt, d. i. das Treibende der Kunst, so beweist er nicht damit, daß es mit diesem Ersatz allein getan wäre.

Wir können dieses Gesetzmäßige, das außerhalb der Sinnlichkeit liegt und das der Künstler mit dem Verstand erfassen muß, um es in das Werk seiner Hände zu bringen, noch nicht formulieren. Es ist, da es sich auf Mathematik bezieht, durch einen Vergleich mit dem Zahlensystem grob darzustellen. Man kann jede Zahl unseres Systems auf tausend verschiedene Art herausrechnen, durch Sub-strahieren, Addieren, Dividieren, durch kompliziertere Manipulationen u. s. w. Die Kunst scheint mir eine Schöpfung, die auf ebenso viele Arten als es Menschen gibt und geben wird, zur bildlichen Darstellung von Gleichungen gelangt, die sich auf einem noch nicht erkannten sphärischen Gebiet auf dieselbe Zahl, oder dasselbe Zahlenverhältnis reduzieren lassen. Das Gesetz, das die Verhältnisse eines ägyptischen Kolosses und die einer winzigen ägyptischen Statuette regelt, empfinden wir als dasselbe. Es müßte auch dasselbe sein, das die Verhältnisse einer Rodinschen Schöpfung regelt, ohne daß deshalb die Schöpfung auch nur im entferntesten an ägyptische Werke zu erinnern braucht. Daß dieses Urverhältnis immer weniger annähernd erreicht wurde und die Völker sich von dieser Gleichung immer mehr entfernten, ist der wesentlichste Grund des Verfalls der Künste, wohlverstanden, immer bildlich gedacht. Die Korrektur des jahrtausendlangen Irrtums kann nicht dadurch gelingen, daß man die Gleichung findet, sondern dadurch, daß wir alle die Momente zu vermeiden suchen, die uns von der Gleichung entfernt haben. Keineswegs kann uns die Natur als solche dienen. Sie bringt allenfalls eine Seite der Gleichung, die von dem Stofflichen handelt, und sie ist ohne die andere vollkommen sinnlos, d. h. unbestimmt. Die Vorschriften, denen die Erscheinungen der Natur gehorchen, spotten jeder Mathematik; sie stehen nicht wie die der Kunst von vornherein absolut fest, wie es absolut feststeht, daß die drei Winkel eines Dreiecks, wie es auch sei, immer zwei Rechte ausmachen, sondern ergeben sich für unsere beschränkten Überlegungen auf dem Wege der Erfahrung. Die Kunst läßt sich berechnen, mindestens wie sie nicht sein kann, wenn wir auch noch nicht das Exempel beherrschen und nie dahin gelangen werden, mit diesem Exempel Kunst zu machen. Die Natur ist unberechenbar, schon weil wir, wenn sie sich irrte, kein Mittel besitzen, um ihren Irrtum überzeugend zu beweisen und mit Sicherheit zu verbessern. Bis diese Gesetze der Kunst, die uns zahlenmäßig sagen werden, warum uns eine schlechte Büste nicht gefällt, vollkommen entdeckt sind, bleibt dem Künstler nichts als der Instinkt, um sein Genie zu kultivieren. Er muß es machen wie der Naturforscher, der aus einer großen Menge von Erscheinungen seine Erfahrung gewinnt; viel sehen und mit der Erfahrung aller Mittel, die den Vorgängern, den Wahlvorbildern des Instinktes dienten, vor die Natur treten.

Was wäre Rodin ohne diesen Instinkt, der die Vorbilder zu wählen wußte. Man empfindet deutlich bei ihm, daß die Natur ihm nur ein Mittel gibt, die Eindrücke, die sein Genie vor den Werken der Kunst empfand, zu verschmelzen; sie ist ein Bindemittel. Baudelaire sagt einmal in seiner „Art Romantique“, daß das Schöne immer aus einer Zweiheit bestehe, obwohl es als Einheit erscheine: aus einem Ewigen, Unveränderlichen, dessen Menge schwer zu bestimmen sei, und einem Relativen, das der Epoche, der Mode, der Moral, der Passion angehöre. Und es mag ihm dabei vielleicht etwas von Tradition und Freiheit vorgeschwebt haben. Wir glauben, daß es Vielheiten sind, nicht so mannigfache wie die Vielheiten in dem Leben der Naturwerke, aber auch von so beträchtlicher Menge, daß es uns noch nicht gelingt, sie zu überblicken. Sie sind alle veränderlich, nur das Gesetz, das sie zum Werke bildet, bleibt stets dasselbe.

Nietzsche sagt einmal:

„Oh Stumpfsinn! man glaubte die Klassizität sei eine Art Natürlichkeit.“

Rodins Naturanbetung ist eine Art edler, unbewußter Bescheidenheit.

„Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein,“ sagt derselbe Nietzsche. —

Rossos Antwort auf die Rundfrage ist die des Künstlers seiner Werke und gipfelt in dem Motto dieses Kapitels. Wenn wirklich wahr ist, daß im Raum nichts Materielles besteht, sollte man glauben, daß es in der Kunst nichts Immaterielles geben dürfe. Denn, wenn überhaupt eine greifbare Beziehung zwischen beiden gedacht werden kann, ist es die, daß die Kunst das Bewußtsein von der Natur verbildlicht, den höchsten Begriff der Realität der Erscheinung: Nichts ist realer als die Kunst. Rosso meint, daß er sich bei dem Anblick des Kopfes eines Menschen nicht den Kopf ohne Rumpf denken könne, daß er sich nicht entschließen könne, diesen Körper, losgelöst von seinem Milieu, zu betrachten, daß er nichts isoliert zu fassen vermöge etc.

Man begreift schwer, daß solche Dinge ausgesprochen und ohne Widerspruch gedmckt werden. Nachdem das Wesen der Kunst immer in einem Herauslösen irgend welcher Erscheinungen bestehen muß, da es füglich nicht einzusehen ist, wie man ein Ding ohne Ende, ohne Begrenzung machen kann, wird die räumliche Bestimmung des Werkes nach einer Konvenienz zu erfolgen haben, deren Ziel immer nur die denkbar günstigste Ausnutzung des Raumes im Auge hat, um in dem von vornherein beschränkten Wirkungsfeld so viel des Guten wie möglich zu geben. Rosso glaubt diese Konzentration, diese aufgespeicherte Macht mit einer bis zur Unkenntlichkeit getriebenen Verwischung der Umrisse, durch eine Verschmelzung seines Kunstwerks mit der Umgebung zu erreichen. …

Die literarische Veranlassung zu der Umfrage nahm Claris in der Behauptung Baudelaires, daß die Skulptur, weil sie nicht wie die Malerei den Beschauer auf einen einzigen Standpunkt banne, verdammt sei, eine stets abhängige Kunst zu bleiben, der im übrigen aller Ausdrucksreichtum der Maler abgehe; wie alle ästhetischen Behauptungen Baudelaires unklar und unkonsequent. Daran knüpft Bartholome an.

Die Vermutung lag nahe, daß er den Stier bei den Hörnern nehmen und mit seinem Totendenkmal argumentieren würde. Er findet nichts Besseres, als Baudelaire darauf aufmerksam zu machen, daß er ganz das Relief vergesse, das doch wie das Gemälde den Einheitsstandpunkt diktiere und daher mit der Malerei wetteifern könne. — Fremiet und Desbois benutzen die Gelegenheit, zu versichern, daß gegenwärtig sehr viel schlechte Skulptur gemacht werde. Die angefragten Maler, die Herren von der anderen Fakultät, sind von gnädiger Liebenswürdigkeit; namentlich Raffaellis Antwort, auch die Skulptur könne ganz nette Sachen fertig bringen, mangelt nicht des Humors. Nur der alte Meunier erlaubt sich schüchtern die Ansicht, daß doch eigentlich die Skulptur sozusagen eine monumentale Kunst sei und nicht viel mit der Malerei zu tun habe. Aber er habe darüber noch nicht viel nachgedacht. . . .

Es dient zur Hebung unseres durch die Erfolge unserer westlichen Nachbarn bedenklich gedrückten Selbstbewußtseins, die Folgen dieser Plastik zu erkennen, sobald sie die nur von der Individualität des einzelnen oder dem Gutdünken der Jury beschränkte Sphäre des Ausstellung- oder Ateliertums verläßt und bei den Werken mithilft, bei denen es der nüchternen Zeit noch immer nicht gelungen ist, die Kunst ganz zu entfernen. Denn schließlich ist der Pariser Salon und das Atelier noch nicht die Welt, so geräuschvoll auch die Kämpfe der Begeisterung darin toben. Das Wogen des Applauses dringt immer nur an die abgetönten Glasscheiben der festlichen Hallen; und das Leben, das außerhalb dieser gläsernen Schmuckkästen seine tieferen Kreise treibt, hat wenig mit solchem geheimnisvollen Gebaren zu tun. Gewiß: man hat die Gegenwart durch die Kunst betrachten gelernt; man wird nicht dümmer noch ärmer an Gemüt davon. Die Skulptur ist in den Händen großer Künstler zu einem fabelhaften Werkzeug geworden, das der Erkenntnis der modernen Seele dient wie die fein ziselierte Psychologie eines nordischen Prosaisten. Das hatten die Alten nicht. Der Schöpfer der Psyche in Neapel verfügte über eine ungemein wenig entwickelte Psychologik, wenn man das erstbeste Genie unserer Tage daneben hält. Nun gar die Kunst, die auf dieses Heidentum folgte, das ganz Ungedachte der in Stein gehauenen Bildnisse unserer Heiligen, diese geronnene Frömmigkeit inbrünstiger Beter, denen das Denken verboten war!

Der sinnenfreudige Marmor der Griechen war die Gottheit, um die sich die Säulen des Tempels erhoben; der nordischen Art der christlichen Skulptur gelang es, das Werk als Einzelheit unter vielen anderen einer alles beherrschenden, unteilbaren Idee einzuordnen. Auch in dem Dom von Chartres geht es einem wie vor der Psyche: man denkt nicht an die Analyse und sucht nicht die Spur des Menschen in dem göttlichen Werk. Den Menschen in der Kunst hat die Moderne

uns näher gebracht, und je näher uns das Werk rückt, desto weiter schwindet der göttliche Raum, der es einst beherbergte, zurück; und heute ragt es in unheimlicher Einsamkeit unvermittelt zum freien Himmel; und wir stehen mit kritischen Mienen davor, begeistern und ereifern uns und . . . gehen weiter.

Jedes neue Denkmal moderner Künstler, das in der schönen Stadt enthüllt wird, erregt in der Seele des Beschaulichen ein gewisses Gruseln. Vielleicht ist nicht mehr die Zeit für diese Sitte, der Verehrung marmorne Postamente zu errichten, vielleicht ist unsere Art nicht mehr für dieses Unsterblichkeitspathos geeignet; jedenfalls haben wir keinen rechten Platz mehr dafür. Ich habe mich oft darauf ertappt, selbst die mäßigen unter den Statuen in den Parks von Versailles und Fontainebleau, die man in keiner Ausstellung eines Blickes würdigen würde, hinreißend schön zu finden, ja sogar unentbehrlich, und ich habe dennoch das Gefühl, so gut wie irgend einer, zu meiner Zeit zu gehören. Meine Verehrung für Rodin ist grenzenlos, und ich würde ohne Besinnen durch seine Porte de l’Enfer der Verdammnis zuschreiten, wenn es gälte, damit die Aufrichtigkeit meiner Gesinnung zu beweisen. Aber ich vermag mir trotzdem den Balzac auf keinem öffentlichen Platze von Paris zu denken; ja, ich glaube, daß das Genie dieser Stadt von diesem größten Genie, das sie beherbergt, geschädigt werden würde.

Es hat sicher noch gute Wege damit, aber wie man die modernen Maler zum Schmuck der Staatsgebäude zugelassen hat, wird sich auch die Plastik desselben Geistes langsam die öffentliche Stelle erobern, denn sie — das ist die Ironie daran — liefert das einzig Wertvolle, das heute gemacht wird, also das Bleibende. Noch gibt es brave, banale Prix de Rome, die der Gevatterschaft den Auftrag verdanken, aber schon der Schmuck der Weltausstellungsbauten 1900 zeigte, und es sind davon schreckliche Andenken geblieben, den Geist der revolutionären Ära. Es gibt bald keine Banalitäten mehr, und dann wird nichts anderes übrig bleiben, als zur Kunst zu greifen, zur Kunst, die die Kunst zerstört.

Im Gewerbe ist man schon so weit. Hier heißt diese Begabung Verbrechen. Carabin, dem in der Behandlung der Bronze und des Holzes die seltensten Reize gelingen, macht die Monstren seiner aus Weiberleibern gewonnenen Sessel und Tische. Der feine Charpentier, der den zierlichsten Gliederaufbau beherrscht, verliert jedes Verhältnis, sobald er seine Möbel entwirft und so kostbar manches seiner Details erscheint — so die herrlichen Reliefeinlagen mit den Musikmotiven für den Geigenschrank —, es ist nicht denkbar, auf solchen Grundlagen ein vernünftiges Gewerbe zu gewinnen. Als er den Auftrag des Barons Vitta für das Billard erhielt, erlaubte sich ein Bekannter den Witz, daß wohl auch die Billardbälle mit Skulpturen geschmückt würden.

Und Rodin selbst, der den Geschmack über alles stellte, würde er es im Prinzip besser machen? Die Kleinigkeiten in seinem großen Werk, in denen man Handhaben finden könnte, und seine bittere Kritik aller rationellen, modernen Versuche im Gewerbe, denen er gerade das weigert, was er der abstrakten Kunst erlaubt glaubt, sprechen dagegen. Wie würde es dem Frechen ergehen, der sich zu sagen erlaubte, dag hier das Kriterium praktischer Art liegt, dag wir eine Kunst brauchen, die dem Handwerk väterlich gesinnt ist und gerade die von der Clarisschen Rundfrage in Grund und Boden verdammte Eigenschaft einer Kunst, die vor allen Dingen Form ist, wieder aufnimmt.

Wir haben bisher in der Geschichte der französischen Malerei und Plastik versucht, die von der Einzelheit befreiten Resultate zu erkennen und haben hier wie dort Fragmente gefunden. Beide Künste zeichnet ein deutlich gemeinsames Streben aus. Sie bringen neue Mittel, geeignet, die Kunst gewaltig auszudehnen, und verlieren entscheidende Besitztümer der Alten, die bei der Ausgestaltung früherer Kunstepochen für unentbehrlich galten. So siegen wir und sind Besiegte. Viel Mittel, wenig Zwecke war bisher das Schicksal in beider Lager. Es drängte nach Auflösung.

Es bleibt uns übrig, die Strömung zu erkennen, die aufzubauen trachtet, das Heute mit dem Gestern verbindet und aus den Fragmenten, die in überreicher Fülle herumliegen, ein neues Haus zu formen sucht.

Text aus dem Buch: Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst : vergleichende Betrachtung der bildenen Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik, Author: Meier-Graefe, Julius.

Siehe auch:
_____ Ersteses Buch _____
Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst – Vorwort
Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst – Einleitung
Die Träger der Kunst Früher und Heute
Traditionen
Die Entstehung des Malerischen
Die Blüte der Malerei
Das Empire
Ingres
Die deutsche Kunst
Delacroix und Daumier
Honoré Daumier
Jean-François Millet und sein Kreis
Der Einfluss Jean-François Millet
Giovanni Segantini
Vincent van Gogh
_____ Zweites Buch _____

Constantin Meunier
Die vier Säulen der modernen Malerei
Edouard Manet
Edouard Manet und Whistler
Paul Cezanne
Vuillard-Bonnard-Roussel
Edga Degas
Edga Degas und sein Kreis – Die Nachfolger
Pierre-Auguste Renoir und sein Kreis

_____ Drittes Buch _____

Farbe und Komposition in Frankreich
Claude Monet
Georges Seurat
Paul Signac
Der Neo-Impressionismus als Kunstform
Der Neo-Impressionismus in Brüssel
Die Farbe in der Skulptur
Auguste Rodin
Medardo Rosso


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