Textübersetzung aus dem Kunstmuseum Hamburg
Eng verknüpft mit der Landwirtschaft als dem Grundstock des mecklenburgischen Wirtschaftslebens sind Entwicklung, Blüte und Rückgang eines anderen Wirtschaftszweiges, der im 19. Jahrhundert zu den Glanzpunkten der heimischen Wirtschaft gehörte, der Segelschiffahrt. Mit dem Niedergang der Hanse, dem Schwedenzoll während des 30jährigen Krieges und dem Übergang der Seestadt Wismar in schwedischen Besitz hatte die mecklenburgische Schiffahrt eine fast hundert Jahre währende schwere Krise durchgemacht, die sie fast dem Erlöschen nahegebracht hatte. Allein die Lage der mecklenburgischen Seestädte im wirtschaftlichen Raum war so natürlich, daß selbst die schwierigsten Verhältnisse die von der Natur vorgezeichneten Entwicklungsrichtungen ihres Wirtschaftslebens nicht umzustoßen vermochten. Wismar freilich blieb infolge seiner Zugehörigkeit zu Schweden von dieser Entwicklung ausgeschlossen, um so stärker aber zeigte sich am Beispiel Rostocks und des benachbarten Fischlandes, wie der mecklenburgische Raum seine eigenen unabänderlichen wirtschaftlichen Gesetze besaß, zumal sich die Seestadt Rostock auch innerpolitisch eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Junkerregiment mit seinen törichten gewerblichen Beschränkungen zu wahren wußte.
Der neuerliche Aufschwung der Segelschiffahrt setzte ein, als infolge der Einführung der holsteinischen Koppelwirtschaft sich die Erträge der Landwirtschaft beständig steigerten, so daß sich ein regelmäßiger jährlicher Überschuß ergab, da das Wachstum der Bevölkerung als des natürlichen Verbrauchers keineswegs prozentual mit der Getreideerzeugung Schritt hielt. Die ersten, welche seit 1760 darangingen, aus dem notwendig werdenden Getreideexport ihren Nutzen zu ziehen, waren die Fischländer Schiffer, die alsbald den Getreidehandel mit Preußen, Holland, den skandinavischen Ländern und Rußland im Großen betrieben. Auch die Überschüsse der heimischen Obsternte vor allem an Äpfeln wurden jetzt regelmäßig nach Rußland exportiert, so daß beispielsweise eine Stadt wie Petersburg jahrzehntelang ihren Bedarf an Äpfeln aus Mecklenburg bezog. 1832 zählte die Fischländer Flotte 96 Schiffe, 1857 erreichte sie ihren Höchststand mit 220 Schiffen.
Die Form der Reederei war dabei wie auch in Rostock infolge der herkömmlichen Kapitalarmut des Landes die Partenreederei, d. h. die genossenschaftliche Vereinigung mehrerer Personen zum Bau und zur Infahrtsetzung eines Handelsschiffes. Nächst dem Kapitän war die wichtigste Person dabei der sogenannte Korrespondentreeder, zumeist ein Getreidegroßhändler, dem die geschäftliche Leitung des Unternehmens oblag. Rostock erlebte während der landwirtschaftlichen Hochkonjunktur am Ausgange des 18. Jahrhunderts den ersten Wiederaufstieg seiner Schiffahrt. Deren eigentliche Blütezeit aber begann erst nach den napoleoni-schen Kriegen und der Agrarkrise der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, und zwar merkwürdigerweise zü einem Zeitpunkt, als sich infolge des Aufkommens der Eisenbahnen die Absatzwege für den Getreideexport bereits zu verlagern begannen und das heimische Exportgeschäft zurückging. Die Folge war nicht etwa eine Verminderung der Schiffszahl, sondern die Loslösung der Schiffahrt vom Rostocker Hafen mit seiner letzten Endes doch stets engen Begrenzung. Es war, wie wenn ein lästiger Damm plötzlich gebrochen war. Das Weltmeer wurde jetzt für Jahrzehnte zum Tummelplatz der Schiffe mit der Greifenflagge, das Mittelmeer so gut wie die Gewässer Südamerikas, Chinas und Ostsibiriens. Es kam vor,, daß Rostocker Schiffe jahrelang nicht in ihren Heimathafen zurückkehrten. Die Hochzeit der Rostocker Segelschiffahrt begann.
Hatte die Rostocker Flotte als stärkste Ostseeflotte bereits im Jahre 1849 275 Schiffe gezählt, meist Briggs, Schoner und Barken mit einer Durchschnittsgröße von 250 tons, so stieg ihre Schiffszahl bis zum Jahre 1867 auf 394 Schiffe. Damit wurde sie die zweitstärkste Flotte Deutschlands überhaupt. In diesen Jahren erleben die großen Rostocker Segelschiffsreedereien, Firmen wie Ernst Brockelmann, Johann Neuendorff und Wilhelm Maack mit oft mehr als 30 Schiffen ihre schönste Entfaltung. Ihre schönen reichen Patrizierhäuser in der Koßfelder- und Mönchenstraße werden Axisdruck eines Zeitalters bürgerlicher Macht und Tüchtigkeit. Auch das Werftwesen nimmt einen gewaltigen Aufschwung. Zwischen 1849 und 1853 entstanden allein 9 neue Werften in Rostock. Rostocker Briggs und Barken galten lange Zeit bei den Seeleuten der ganzen Welt für vorbildlich. Der Krimkrieg, bei dem Rostocker Schiffe unbekümmert für beide kriegführenden Parteien fuhren, erbrachte hohe Gewinne, noch höhere Erträge erzielte die chinesische Küstenschiffahrt.
Freilich trug diese Entwicklung längst ihren Todeskeim in sich, da das Segelschiff keineswegs den technischen Fortschritten der Zeit entsprach und gegenüber dem aufkommenden Dampfschiff auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben konnte. Gewiß fehlte es nicht an Versuchen, sich dem Fortschritt anzupassen. Ein Rostocker Unter nehmen, die ehemals Tischbein’sche und heutige Neptunwerft, erbaute 1851 den ersten Schraubendampfer in Deutschland, und die Jahre zwischen 1847 und 1874 sahen mannigfache Ansätze zur Gründung von Dampfschiffahrtsgesellschaften. Doch nun erwies sich wieder die Armut des heimischen Kapitalmarktes als das stärkste Hindernis. Ein Dampfschiff hätte ein Kapital von 10 und mehr Segelschiffen erfordert, und zur Aufbringung derartiger Summen waren die einzelnen Partenreedereien nicht leistungsfällig genug, zumal auch die beschränkten Rostocker Hafenverhältnisse die Indienststellung großer Dampfer als höchst gewagt erscheinen ließen. Und der Versuch zur Zusammenfassung aller großen Segelschiffsreedereien zur gemeinsamen Gründung einer Dampfschiffahrtsgesellschaft erfolgte zu spät in einem Augenblick, in dem die meisten Reeder praktisch bereits bankrott waren und sich daher scheuten, ihre traurige und verzweifelte Lage offen darzulegen.
So erfolgte in den Jahren nach 1880 ein furchtbarer Zusammenbruch. Bereits Ende der 70er Jahre war die Reederei und Getreidegroßhandlung N. H. Witte mit 22 Schiffen zusammengebrochen. In den Jahren 1883 und 1884 verschwanden 14 kleinere Reedereien, bis 1888 kamen 9 weitere mit 52 Schiffen unter den Hammer. 1895 zählte die Rostocker Flotte noch 141 Schiffe, 1900 nur mehr noch 54! Die Folge war eine ungeheure Arbeitslosigkeit, so daß man seitens der Stadt Volksküchen zur Speisung der Erwerbslosen einrichten mußte. Erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich langsam der Wiederaufbau der Flotte nach modernen Grundsätzen. Die Reedereien F. W. Fischer, die 1900 bereits über 6 Schraubendampfer verfügt, August Cords und Otto Zelck werden die Schöpfer der neuen Rostocker Dampfer flotte. Bei Ausbruch des Weltkrieges fahren für Konsul Fischer wieder 22 Dampfer, für Konsul Zelck 15 Dampfer. Insgesamt zählte die Rostocker Flotte damals wieder 71 Dampfer, ein Zeichen für die zähe Bodenständigkeit dieses Wirtschaftszweiges. Der Weltkrieg und das Versailler Diktat schlugen ihr freilich neue schwere Wunden. 17 Dampfer fielen in Feindeshand, 3 wurden versenkt und 28 bei Kriegsende ausgeliefert oder verkauft. 1921 besaß Rostock noch 18 Schiffe. Doch die Pioniere der Rostocker Dampfschiffahrt, August Cords und Konsul Zelck gingen auch jetzt unverdrossen wieder an den Neuaufbau der Flotte. 1927 zählte diese wieder 46 Schiffe. Infolge der schweren Wirtschaftskrise, der auch eine Reederei wie die Zelck’sche zum Opfer fiel, erfolgte ein abermaliges Absinken auf 40 Schiffe, von denen viele auflagen, aber der Stern der ruhmreichen jahrhundertealten Rostocker Schifffahrt erlosch doch auch in diesen trüben Zeiten nicht vollständig, sondern bewahrte sich seine Lebenskraft für die nahe bessere Zukunft.
Hatte die Schiffahrt bei ihrer Entwicklung stets mit der Kapitalarmut des damals noch rein agrarischen Wirtschaftsraumes zu kämpfen gehabt, so galt dies in noch weit stärkerem Maße für die mecklenburgische Industrie. Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hhiaus fehlten in Mecklenburg für einen regen gewerblichen Aufschwung selbst die elementarsten Vorbedingungen. Das Verkehrswesen, Chausseen sowohl wie Eisenbahnen, stak dank dem Eigensinn der Ritterschaft, die das Land absichtlich in einem Dornröschenschlaf erhalten wollte und dem Anschluß des heimischen Verkehrsnetzes an die großen hamburgischen und preußischen Linien bewußt ablehnend gegenüberstand, noch in den Kinderschuhen. Zoll- wie Steuerverhältnisse waren völlig veraltet. Bis zum Beitritt Mecklenburg zum Zollverein im Jahre 1867 bestand das System der Binnenzölle noch fort, und das unvernünftige Verbot der Gewerbeausübung auf dem platten Lande stand jeglichem regem wirtschaftlichem Lehen hemmend im Wege. Auch das Kreditwesen war kaum entwickelt. Erst 1850 erfolgte auf Betreiben der Rostocker Kaufmannskompanie die Gründung der Rostocker Bank als erster regelrechter Notenbank, an die sich dann 1852, 1868 und 1871 Bankinstitute in Schwerin und Wismar anschlossen.
Um so mehr ist es zu bewundern, daß auf der Eigenständigkeit dieses Wirtschaftsraumes fußend, das gewerbliche Leben auch in den trübsten und dunkelsten Jahrhunderten mecklenburgischer Geschichte niemals völlig verkümmerte. Im Mittelalter hatten die auch heute noch blühende Ziegelindustrie, die Gerbereien, die aus dem Waldreichtum erwachsenden Glasbrennereien und Papiermühlen, die auf der Getreideerzeugung ruhende Brauindustrie, die berühmte, heute völlig verschwundene Rostocker Seilerindu-strie, sowie die auf den Wollreichtum der heimischen Schafherden sich gründende Tuchindustrie vorwiegend das gewerbliche Leben des Landes bestimmt. Das Kniesenacker Bier aus Güstrow erwarb sich in ganz Norddeutschland Berühmtheit, und Wismar, das im 15. Jahrhundert mein Brauhäuser als Lübeck zählte, führte sein Bier schließlich bis nach Frankreich, Holland, England und Ostindien aus.
Im Zeitalter des Feudalismus freilich verringerte sich, die gewerbliche Unternehmungslust beträchtlich. Was sich erhielt, war nur die Industrie, die unmittelbar mit der Landwirtschaft verknüpft war, und auf dieser Grundlage vollzog sich auch zunächst das Wiederaufleben gewerblicher Regsamkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts. In diesen Bereich gehören vor allem die Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen und Feldbahnen, Zucker-, Stärke-, Kartoffelflockenfabriken, Dampfmolkereien, Kornhrennereien, Flachsund Leinrösten. Besondere Bedeutung erhielt die seit 1890 in Waren emporblühende Dauermilchindustrie, deren Grundlage das gesunde, selten tuberkulöse mecklenburgische Rind bildete und deren Erzeugnisse bis nach Afrika, Ostasien und Indien gingen. Einen für ein Agrarland besonders wichtigen Gewerbezweig stellte auch die Wagenfett- und Maschinenölindustrie dar, welche der Rostocker Kommerzienrat Scheel in Mecklenburg einführte, sowie die Herstellung von Dachpappe, mit der sich seit 1842 die Riedel’sche Dachpappenfabrik in Rostock befaßte, das älteste Unternehmen dieser Art in Mecklenburg. Eine andere Industrie, die Parchimer Cichorienfabrik, verdankte der Kontinentalsperre ihre Entstehung.
Daneben entwickelten sich allmählich allen Hindernissen zum Trotz auf Grund der natürlichen Lage dieses Wirtschaftsraumes auch wieder selbständige Gewerbezweige. Schwerin wurde in den Jahren zwischen 1870 und 1914 bekannt für seine Korken- und Klavierfabrikation mit teilweise weltweitem Export bis nach Australien. Malchow erwarb sich durch seine Tuchindustrie den Ruf eines „mecklenburgischen Manchester“. Dömitz wurde für seine Plattenfabriken bekannt. In Rostock blühte nicht nur dem hohen Stand der Schiffahrt gemäß die Werftindustrie, sondern siedelte sich auch in der 1856 begründeten Firma Friedrich Witte eine bedeutende chemische und pharmazeutische Industrie an, gewissermaßen auf gewerblichem Gebiet die Trägerin der hohen naturwissenschaftlichen Tradition der alten Rostocker medizinischen Fakultät. Infolge der Tatsache, daß der große Bakteriologe Robert Koch das von der Firma hergestellte Witte-Pepton bei seinen Forschungen als Grundlage für die Schaffung von Nährböden für Bakterienkulturen benutzte, erlangten die Erzeugnisse des Unternehmens alsbald Weltruf.
Bedeutsamer noch aber wurde ein anderer Industriezweig, dem es zunächst für sein Aufblühen an allen naturgegebenen Bedingungen zu fehlen schien, da er hinsichtlich der zur Verarbeitung gelangenden Rohstoffe auf weit entlegene Gebiete des Reiches angewiesen war: die Eisen- und Stahlgießerei, deren Ursprung in Mecklenburg in dem Bedürfnis nach landwirtschaftlichen Maschinen zu suchen war. Ihr Begründer ist in Mecklenburg der Neubrandenburger Pastorensohn Dr. Ernst Alban (1791—1856), von Haus anfangs Theologe, dann Privatdozent für Augenheilkunde an der Universität Rostock, unstreitig der größte Pionier der mecklenburgischen Industrie überhaupt. 1830 legt er in Kl. Wehnendorf die erste Maschinenfabrik in Mecklenburg an, nachdem er vergeblich sich bemüht hatte, seine Erfindung einer Hochdruckdampfmaschine in England durchzusetzen. Vorwiegend befaßte er sich zunächst mit der Herstellung landwirtschaftlicher Maschinen, wobei er die Breit-säemaschine erfand. Später verlegte er den Sitz seines Werkes nach Plau, wo ihn von neuem der Bau von Dampfmaschinen, die Einführung einer direkt wirkenden Dampfpumpe und die Konstruktion von Wasserrohrkesseln mit Wasserkammern und Dampfsammlern beschäftigten, die das Vorbild vieler neuzeitlicher Röhrenkessel wurden. Eine von ihm für die Plauer städtische Tuchfabrik gelieferte 30pfer-dige Dampfmaschine galt für eine der leistungsfälligsten Maschinen der Zeit und hat heute im Deutschen Museum in München Aufstellung gefunden. Sein Werk über die Hochdruckdampfmaschine erregte selbst in Amerika Aufsehen, seine landwirtschaftlichen Maschinen fanden vor allem in Rußland so großen Absatz, daß sich schließlich Zar Nikolaus I. bemühte, ihn zur Übersiedlung nach Petersburg zu veranlassen.
Auf seinen Leistungen ruht im Grunde das Wirken aller anderen Vorkämpfer der jungen mecklenburgischen Stahlindustrie. Mit Alban zusammen arbeitete zeitweilig der Rostocker Bildhauer Anderssen, der 1836 in Güstrow eine Eisengießerei gründete, die Keimzelle der heutigen Güst-rower Stahlwerke. Und auf der Pionierarbeit eines Alban fußt in übertragenem Sinne schließlich auch die 1850 in Wismar von Schulze und Kalderack begründete Eisengießerei, welche 1879 in den Besitz des Kommerzienrates Heinrich Podeus überging, nächst Alban imzweifelhaft der bedeutendste mecklenburgische Industrieführer des 19. Jahrhunderts. Die Podeus’schen Unternehmungen, zu denen sich neben einer Holzbearbeitungsfabrik bald eine Reederei gesellte, welche als erste mittels großer Dampfer die Kohleneinfuhr aus England im großen Stile betrieb und seit 1894 ferner eine Waggonfabrik, die zeitweilig den Großteil des Waggonbedarfs der dänischen Staatseisenbahnen deckte, bezeichneten eine erste Blüteperiode des heimischen Großgewerbes. Kommerzienrat Podeus’ Söhne, die Vizekonsuln Heinrich und Paul Podeus, bauten die väterlichen Unternehmungen noch weiter aus. 1907 gliederten sie ihnen eine Automobilfabrik an, welche die ersten Raupenschlepper für landwirtschaftliche Zwecke in Deutschland und die ersten Motorpflüge anstelle der bisherigen Dampfpflüge baute und während des Weltkrieges unter die wichtigsten Erzeugungsstätten der deutschen Kraftfahrzeugindustrie rechnete. Auch in sozialer Hinsicht suchten die Brüder Podeus vorbildlich zu wirken, indem sie es bereits unternahmen, den Thünen’schen Gedanken der Gewinnbeteiligung in die Tat umzusetzen — ein Experiment, das freilich in krassem Widerspruch zu dem liberalistischen Wirtschaftsdenken der Zeit stand und deshalb schließlich im Verein mit der Inflation zum Zusammenbruch der gesamten Unternehmungen führte. Einzig die Waggonfabrik überdauerte unter anderer Firmenbezeichnung die Katastrophe und an ihrer Stelle siedelte sich später die Luftfahrtindustrie Wismars an.
Zäher als Podeus noch erwies sich trotz all der zahlreichen Fehlschläge ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte die Güstrower Stahlindustrie. Ausgangs des 19. Jahrhunderts richteten belgische Ingenieure hier nach dem neuen französischen Bessemerverfahren die erste Bessemerstahlgießerei auf deutschem Boden ein. Eigentlichen Aufschwung aber nahm das Unternehmen erst, als 1910 Richard van Tongel die Firma übernahm, der er 1918 auch die ehemals Kähler’sche Maschinenfabrik angliederte. Dieser Aufstieg ist um so mehr zu bewundern, als man vor dem Weltkrieg auf amtlicher Seite durchaus einer Industrialisierung Güstrows ablehnend gegenüberstand und in satter böotischer Selbstzufriedenheit dem alten van Tongel erklärte, man sähe es lieber, wenn an Stelle eines Industriellen von Unternehmungsgeist und neuen Plänen ein Rentier mit großem Vermögen sich in Güstrow niederlassen würde.
Wenn sich die van Tongelschen Stahlwerke trotzdem in schwieriger Zeit zu behaupten verstanden, so hatten sie das einmal ihren qualitativ hochstehenden Erzeugnissen zu verdanken, deren Absatzgebiet bis nach Nordamerika und Ostasien reichte, und zum anderen der Tatsache, daß der Weltkrieg endlich auch in Mecklenburg die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer nach neuzeitlichen Methoden arbeitenden Industrie weckte. Nach dem Weltkriege baute die Firma eine Zeitlang den Tongel-Rohölmotor, der Absatz in Deutschland, den Balkanländern und der Türkei fand, bis er gegenüber dem Dieselmotor zurücktrat. Später stellte sie sich auf Hohlguß um, und für das Jahr 1941 ist die Aufstellung einer Hochfrequenz-Ofenanlage geplant, die es ermöglichen soll, in noch größerem Maßstabe als bisher hochwertigen Guß für Sonderaufgaben zu liefern, vor allem für den Flugzeug- und Schiffbau, so daß sich auf diesem Gebiet die älteste und die jüngste Industrie Mecklenburgs vortrefflich ergänzen.
Dieser Ausblick leitet über zu Mecklenburgs jüngster und bedeutsamster Industrie: dem Flugzeugbau. Auch hier reichen die Wurzeln weiter zurück, als die meisten Menschen in unserer schnellebigen Zeit sich noch bewußt sind. Das Jahr 1913 ist nicht nur das Gründungsjahr der ersten mecklenburgischen Luftfahrtvereinigung, des Rostocker Aeroklubs, sondern in diesem Jahre begründete auch bereits der in Niederländiseh-Indien geborene, damals dreiundzwanzig-jährige Flugzeugkonstrukteur Antoni H. G. Fokker die erste Flugzeugfabrik auf mecklenburgischem Boden in Schwerin. Der Weltkrieg brachte für das Werk einen enormen Aufschwung, Schwerin wurde eine der Pflanzstätten der deutschen Luftfahrtindustrie, die besten Flieger Deutschlands, Boelcke und Immelmann, flogen Fokker-Jagd- und Kampfeinsitzer; der berühmte, durch glänzende Steigleistungen sich auszeichnende Fokker D VII konnte für einen der besten Apparate der damaligen deutschen Luftwaffe gelten. Gleichzeitig wurde noch während des Weltkrieges im Jahre 1916 in Warnemünde der Grund zu einer weiteren Flugzeugfabrik, den heutigen Aradowerken, gelegt, die damals von der Dornier-Flugbootwerft in Friedrichshafen als Montagewerk für Flugzeuge eingerichtet wurden, da sich in Warnemünde der Sitz des Seeflugzeug-Versuchskommandos befand. Der Zusammenbruch des Jahres 1918 unterbrach zunächst die Entwicklung. Fokker flüchtete unter abenteuerlichen Umständen aus Schwerin und siedelte nach Amsterdam über; aus dem Montagewerk der Domierwerft entstand eine Fabrik für Fischkutter und Motorboote, und nur die kleine Flugzeuggesellschaft Sa-blatnig und die für den Luftverkehr nach Skandinavien tätige Lloyd-Luftreederei führten in Warnemünde kümmerlich die Überlieferung fort. Diese Verhältnisse änderten sich erst, als der schon aus dem Weltkrieg rühmlich bekannte Flugzeugkonstrukteur Ernst Heinkel 1922 die beiden letzteren Betriebe übernahm und zu einer neuen Flugzeugfabrik ausbaute. Schon vier Jahre später, 1926, stellte seine He 5 als erstes deutsches Flugzeug nach dem Weltkrieg wieder Weltrekorde auf. Mit der Konstruktion der He 70 im Jahre 1932, dem ersten europäischen Verkehrsflugzeug, das die 300-Kilometer-Grenze überschritt, übernahmen die Heinkel-Werke die Führung in der Entwicklung des Schnellflugzeugbaues in Europa. Abnehmer der neuen Heinkel-maschinen war zunächst vorwiegend das Ausland, bis mit dem Jahre 1933 der Wiederaufstieg Deutschlands die Schaffung einer eigenen machtvollen Luftwaffe nach sich zog und damit die Basis für das Aufblühen der Heinkel-werke wie der mecklenburgischen Luftfahrtindustrie in Wismar und Ribnitz lieferte, so daß Mecklenburg neben seiner Bedeutung für die deutsche Ernährungswirtschaft nun auch eine zunehmende Bedeutung für die Erringung der deutschen Wirtschafts- und Wehrfreiheit erlangte.
Damit stehen wir an der Schwelle des großen Geschehens der Gegenwart, das dank der nationalsozialistischen Erhebung nach der furchtbaren Krise der Jahre bis 1932, in denen dank dem Unverstand der damaligen Machthaber die mecklenburgische Wirtschaft, vor allem die Landwirtschaft als Rückgrat des Landes, am Rande ihrer Kräfte angelangt war, auch für Mecklenburg neues Leben auf allen Gebieten entstehen ließ. Jene Probleme, die aus der geschichtlichen Entwicklung des Landes sich ergeben hatten, wurden jetzt endlich entschlossen angepackt, wenn auch der uns von England aufgezwungene Krieg ihre endgültige Lösung teilweise noch hinausgeschoben hat. Die Grundfrage blieb die Korrektur des ungesunden landwirtschaftlichen Besitzverhältnisses der Vergangenheit, das durch das schrankenlose Übergewicht einer bevorrechteten Schicht entstanden war. In engem Zusammenhang damit stehen zwei andere Fragen, die Bekämpfung der Landflucht, für die das enorme Anwachsen gerade des heimischen Großgewerbes nach der Machtübernahme zunächst eine neue Verlockung bildete sowie der Bau gesunder Arbeiterwohnungen sowohl für die land- wie für die stadtarbeitende Bevölkerung, d. h. also die Auswertung aller materiellen wie kulturellen Errungenschaften der Nation für die arbeitenden Schichten des Volkes. Durch die Verlagerung lebenswichtiger Industrien nach Mecklenburg infolge der neuen strategisch bedeutungsvollen Lage dieses Raumes und dem dadurch bedingten Menschenzuwachs erhält diese Frage ein doppeltes Gewicht. Gleichzeitig aber bedingt diese Verlagerung die Fortführung einer gesunden Industrialisierung, vor allem hinsichtlich der Schaffung einer Verbraucher- und Zubringerindustrie, so daß endlich der volkswirtschaftlich gebotene harmonische Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Gewerbe auch in diesem Raum hergestellt wird. Die vielleicht wichtigste Etappe auf diesem Wege wirtschaftlicher Neugestaltung aber bildet die Verwirklichung der alten bereits von Johann Albrecht I. und Wallenstein gehegten Pläne eines Ostsee und Elbe miteinander verbindenden Kanalbaues, der Mecklenburg die Möglichkeit geben würde, seine Rolle als Mittlerin zwischen dem mitteldeutschen Industrieraum und dem Norden voll zu erfüllen, eine Rolle, die ihre eigentliche Bedeutung zweifelsohne erst mit der Neuordnung der Verhältnisse im Ostseeraum nach dem Kriege erhalten dürfte. Es gibt heute innerhalb Deutschlands keine unabhängigen Teilräume mehr, sondern jeder Gau, jede einstige Landschaft ist zu einem unlösbaren Bestandteil des großen Ganzen geworden und alles Streben und Planen hat nur dieser großen Gemeinschaft zu dienen, aber gerade eine Betrachtung wie diese mag zeigen, wie auch der mecklenburgische Gau bestrebt ist, sein Bestes innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft zu leisten.
Text aus dem Buch: Des Reiches unbekanntes Land Mecklenburg, Author: Goerlitz, Walter.
Siehe auch:
Mecklenburg – Mittelalter und Renaissance
Mecklenburg – Feudalismus und Leibeigenschaft
Mecklenburg – Das 19. Jahrhundert und die neuere Zeit
Mecklenburg – Universität und geistiges Leben
Textübersetzung aus dem Kunstmuseum Hamburg