Goethes Wort, daß „alles Lebendige eine Atmosphäre um sich her bilde“, gilt in ganz besonderem Maße auch von den großen philosophischen Gedankenbildungen. Sie alle stehen nicht lediglich abgelöst im leeren Raume des Begriffs und der Abstraktion, sondern sie bewähren sich nach den verschiedensten Seiten hin als lebendige geistige Triebkräfte. Ihr wahrhafter Bestand tritt erst in dieser Mannigfaltigkeit der Wirkungen, die sie auf ihre Zeit und auf die großen Individuen üben, ganz hervor. Aber in dieser Breite der Wirkung liegt freilich zugleich für die Schärfe und Bestimmtheit ihres Begriffs eine unmittelbare Gefahr. Je mächtiger der Strom anschwillt, um so schwerer wird es, in ihm und seinem Laufe die Reinheit der ursprünglichen Quelle wieder zu erkennen. So sieht sich hier der Historiker der Philosophie und der allgemeinen Geistesgeschichte häufig vor ein eigentümliches methodisches Dilemma gestellt. Er kann nicht darauf verzichten, einen philosophischen Grundgedanken von systematischer Kraft und Bedeutung in seine geschichtlichen Verzweigungen und Weiterbildungen zu verfolgen: denn erst in dieser Form des Wirkens erfüllt sich sein konkret geschichtliches Sein. Aber auf der anderen Seite scheint damit die charakteristische Bestimmtheit, die Einheit und Geschlossenheit, die der Gedanke im Geiste seines ersten Urhebers besaß, mehr und mehr verloren zu gehen. Indem der Gedanke fortzuschreiten scheint, rückt er damit leise von Ort zu Ort. Die Fülle der geschichtlichen Wirksamkeit scheint er nur auf Kosten seiner logischen Klarheit gewinnen zu können; der anfänglich feste Umriß des Begriffs verwischt sich mehr und mehr, je weiter wir seinen mittelbaren und abgeleiteten historischen Folgen nachgehen.
Nirgends tritt dieser Sachverhalt und dieses Schicksal der großen philosophischen Systeme deutlicher als in der Entwicklung der Kantischen Philosophie zutage. Die Kantische Lehre hat von ihrem ersten Auftreten an ihre innere Lebendigkeit dadurch erwiesen, daß sie die verschiedenartigsten geistigen Elemente und Kräfte an sich zog und mit ihnen und aus ihnen eine neue eigentümliche Atmosphäre um sich herum schuf. Aber immer unkenntlicher scheint durch diesen Dunstkreis, der sich um ihn lagert, der eigentliche gedankliche Kern des Kantischen Systems zu werden. Die Philosophiegeschichte wie die allgemeine Geistesgeschichte zeigen hier die gleiche typische Entwicklung. Ebenso heterogen und widerstreitend wie die theoretisch-spekulative Auslegung der Kantischen Gnmdlehren bei Fichte und Schelling, bei Schopenhauer, Fries und Herbart gewesen ist, ist auch der Eindruck gewesen, den Geister wie Herder und Goethe, Schiller -und Kleist von ihr empfangen haben. Sie alle suchten in ihr nicht in erster Linie eine abstraktbegriffliche Doktrin, sondern sie empfanden sie als unmittelbare Lebensmacht. Aber indem sie sie in dieser Weise aufnahmen, teilten sie ihr zugleich das eigene charakteristische Lebensgefühl mit. Im positiven und im negativen Sinne, in dem Widerstand, den sic der Kantischen Lehre leisten und in der Gewalt, mit der sie sich durch sic ergreifen und bestimmen lassen, sprechen alle diese Männer zugleich die eigene Gesamtanschauung vom Inhalt und Sinn des Daseins aus und bringen sich die Grundrichtung ihres Strebens zu subjektiver Bewußtheit und Klarheit.
Keiner hat diese Bedeutung der Kantischen Lehre tiefer und innerlicher erfahren, als Heinrich von Kleist — und sie tritt gerade deshalb bei ihm um so eindringlicher hervor, als er sich ihr mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, mit der ganzen persönlichen Energie seines Wesens widersetzt hat. Wenn Goethe der Kantischen Philosophie von Anfang an mit einer gewissen heiteren Gelassenheit und Sicherheit gegenübersteht, um dann doch durch Motive, die in seiner eigenen Entwicklung lagen, mehr und mehr in ihren Bannkreis zu geraten, wenn Schiller sich ihr, nach der ersten genaueren Kenntnis, mit unbedingtem Eifer hingibt und nicht eher ruht, als bis er sie in eindringendem methodischen Studium ganz durchdrungen und bewältigt hat; — so scheint Kleist weder zu dem einen noch zum andern die Kraft zu besitzen. Er sträubt sich gegen den Gedanken, daß auch er eines von den „Opfern der Torheit“ werden solle, deren die Kantische Philosophie schon so viele auf dem Gewissen habe, aber er fühlt sich andererseits ohnmächtig, das dialektische Netz, das sich dichter und dichter um ihn legt, mit einem raschen Entschluß zu zerreißen. Er unterliegt einer geistigen Gewalt, die er sich nicht zu deuten weiß, — die er seinem eigenen Wesen und seiner Natur als fremd empfindet. Und damit ist für ihn das Ganze seines geistigen Seins vernichtet.
„Mein einziges und höchstes Ziel — so klagt er — ist gesunken; ich habe keines mehr.“
Denn es ist nicht dieses oder jenes Resultat der Weltbetrachtuug, das ihm durch Kant geraubt ist, sondern das Ganze dessen, was er bisher an rein inneren Forderungen, an logischen und ethischen Postulatenin sich trug. Der Wahrheitsbegriff selbst hat seinen Sinn und Gehalt verloren. „Ich hatte schon als Knabe“ — so schreibt Kleist in jenem bekannten Brief an Wilhelmine — „mir den Gedanken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. Ich glaubte, daß wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter fortschreiten würden, und daß wir den Schatz von Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen könnten. Aus diesem Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigene Religion und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hie-nieden still zu stehen, und immer unaufhörlich einem hohem Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist.“ Nun aber zeigt ihm die Kantische Philosophie, wie er sie begreift, wie in diesem Ziele sich eine bloße Illusion des Verstandes verbirgt.
„Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr — und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich . . . Seit diese Ueber-zeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt.-Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offene Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen—und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken.“
Mit der Gegenständlichkeit und Bestimmtheit, die schon den großen Dichter kennzeichnet, ist hier der innere Kampf dargestellt, den die Kantische Lehre in Kleist erregt hat. Und doch: wenn man die Briefe Kleists an die Braut und an die Schwester aus dieser Zeit wieder und wieder liest, wenn man sie früheren brieflichen Aeußerungen gegenübcrstellt und sie mit der Gesamtheit dessen vergleicht, was uns über seine Jugend und Bildungsgeschichte bekannt ist, so knüpfen sich hier immer neue Rätsel und Probleme. Zunächst nämlich besteht kein Zweifel daran, daß es nicht der überhaupt erste Eindruck der Kantischen Philosophie ist, der in diesen Kleistischen Briefen zum Ausdruck kommt. Die Briefe an Wilhelmine und Ulrike sind am 22. und 23. März 1801 geschrieben: aber schon im August 1800 hatte ein Brief an die Schwester eine eigene Schrift Kleists über die Kantische Philosophie, die noch in Frankfurt abgefaßt sein muß, erwähnt und um ihre Zusendung gebeten. Und er hatte um diese Zeit Kants Lehre nicht nur flüchtig kennen gelernt, sondern er hatte ihr bereits in seinem eigenen „Lebensplan“ — man weiß, welches Gewicht dieses Wort für den jungen Kleist besitzt, — eine bestimmte Stelle zugewiesen. Im November 1800 spricht er zu Wilhelmine von dem Plan, nach Paris zu gehen, um die neueste Philosophie nach Frankreich, wo man bisher von ihr noch gar keine Kenntnis habe, zu verpflanzen. Konnte Kleist einen solchen Plan fassen, noch ehe er selbst mit den GrunjJzügen der Kantischen Lehre vertraut war? Und in der Tat hatte er sich, wie eine genauere Betrachtung des Briefwechsels zeigt, damals mit der Kantischen Lehre wenigstens insoweit vertraut gemacht, daß ihm die Kantische Begriffssprache und Terminologie in den Hauptzügen geläufig geworden war. Eine Stelle in einem Schreiben an Wilhelmine vom Mai 1800 ordnet eine Frage, die er ihr vorlegt und die er in der bekannten pedantischen Umständlichkeit dieser Jugendbriefe entwickelt, den drei Gesichtspunkten unter, was der Verstand, was die Urteilskraft und was die Vernunft an ihr zu erfassen vermöge; wobei diese drei Funktionen genau nach der Weisung, die eine Stelle der Kantischen Anthropologie gibt, gegen einander abgegreuzt und einander gegenübergestellt werden. Noch bedeutsamer und charakteristischer aber ist es, daß Kleist um diese Zeit in seinen religionsphilosophischen Ueberzeugungen völlig auf Kantischem Boden steht. Mit Recht hat man auf die vielfachen wörtlichen Anklänge verwiesen, die seine Briefe an einzelne Stellen der Kantischen „Religion innerhalb der Grenze der bloßen Vernunft“ enthalten. Der Gedanke des reinen moralischen Vernunftglau-bens, wie Kant ihn entwickelt und wie er ihn allem religiösen Afterdienst entgegengesetzt hatte, war in Kleist völlig lebendig geworden. Auf Grund dieses Gedankens schiebt er auch die Frage nach der individuellen Fortdauer des Individuums als bloße spekulative Grübelei beiseite. Weder in transzendenten Glaubensvorstellungen über einen Gott und ein Jenseits, noch in der Erfüllung äußerlicher religiöser Gebräuche — so erklärt er — kann der eigentliche Kern der Religion bestehen; denn sonst würde die Religion selbst zu einem zweideutigen und wandelbaren Dinge, das in jedem Augenblick und an allen Orten der Erde verschieden wäre.
„Aber in uns flammt eine Vorschriftund die muß göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist, sie heißt; erfülle Deine Pflicht; und dieser Satz enthält die Lehren aller Religionen. Alle anderen Sätze folgen aus diesem und sind in ihm gegründet, oder sie sind nicht darin begriffen, und dann sind sie unfruchtbar und unnütz. Daß ein Gott sei, daß es ein ewiges Leben, einen Lohn für die Tugend, eine Strafe für das Laster gebe, das alles sind Sätze, die in jenem nicht gegründet sind, und die wir also entbehren können. Denn gewiß sollen wir sie nach dem Willen der Gottheit selbst entbehren können, weil sie es uns selbst unmöglich gemacht hat, es einzusehen und zu begreifen. Würdest Du nicht mehr tun. was recht ist, wenn der Gedanke an Gott und Unsterblichkeit nur ein Traum wäre? Ich nicht. Daher bedarf ich zwar zu meiner Rechtschaffenheit dieser Sätze nicht; aber zuweilen, wenn ich meine Pflicht erfüllt habe, erlaube ich mir, mit stiller Hoffnung an einen Gott zu denken, der mich sieht und an eine frohe Ewigkeit, die meiner wartet . . . Aber dieser Glaube sei irrig oder nicht — gleichviel! Es warte auf mich eine Zukunft oder nicht — gleichviel! Ich erfülle für dieses Leben meine Pflicht, und wenn Du mich fragst, warnm ? so ist die Antwort leicht: eben weil es meine Pflicht ist. Ich schränke mich daher mit meiner Tätigkeit ganz für dies Erdcnleben ein. Ich will mich nicht um meine Bestimmung nach dem Tode kümmern, aus Furcht darüber meine Bestimmung für dieses Leben zu vernachlässigen . . . Dabei bin ich überzeugt, gewiß in den großen ewigen Plan der Natur einzugreifen, wenn ich nur den Platz ganz erfülle, auf den sie mich in dieser Erde setzte. Nicht umsonst hat sic mir diesen gegenwärtigen Wirkungskreis angewiesen und gesetzt, ich verträumte diesen und forschte dem zukünftigen nach — ist denn nicht die Zukunft eine kommende Gegenwart und will ich denn auch diese Gegenwart wieder verträumen?“
Wir mußten diese beiden Briefstellcn — die eine aus einem Brief vom 19. September 1800, die andere aus einem Brief vom 22. März 1801 — bestimmt und ausführlich einander gegenüberstellen: denn in dieser Entgegensetzung tritt mit voller Schärfe das Problem hervor, das Kleists inneres Verhältnis zur Kan-tischen Lehre in sich schließt. Was vermochte den Schüler Kants, der Kleist schon im September 1800 gewesen ist, an der Kantischen Lehre so zu ergreifen, daß er jetzt seine gesamte Vergangenheit und all sein bisheriges Streben plötzlich vor sich versinken sah? Welches neue Moment ist es gewesen, das in ihm diese Erschütterung aller seiner früheren Grundüberzeugungen bewirkte? War es der Fortgang von Kants ethischen und religionsphilosophischen Schriften zu seinen theoretischen Hauptwerken, war es das intensive Studium der „Kritik der reinen Vernunft“, wodurch dieser plötzliche Umschwung sich in Kleist vollzog? Man hat cs allgemein behauptet, ohne daß doch hierfür, soviel ich sehe, ein wirklich bündiger Beweis erbracht worden wäre. Denn das tradionelle Schlagwort von dem „Alles-zermalmer“ Kant, dessen Gewalt nun auch Kleist an sich erfahren hätte — ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang regelmäßig wiederzukehren pflegt — besagt und erklärt im Grunde nicht das mindeste. Als der „Alleszermalmer“ mochte Kant der älteren Generation, der Generation Mendelssohns erscheinen, die sich nach und nach daran gewöhnt hatte, in den Lehrsätzen des herrschenden Wolffischen Schulsystems und in den Dogmen der rationalistischen Metaphysik, nicht nur Wahrheit, sondern die Wahrheit schlechthin zu sehen. Seither aber waren zwei Jahrzehnte vergangen, in denen die positive Kraft und der positive Gehalt der Kantischen Lehre nach allen Seiten hin unverkennbar hervorgetreten war. „Was Kleist im besonderen an der Kantischen Lehre abstieß“ — so schreibt Wilhelm Herzog, der das Verhältnis Kleists zu Kant von allen Biographen Kleists am eingehendsten behandelt hat — war die fragwürdige Relativität aller Dinge, war die eisige Skepsis, die ihm aus jener nüchternen Beschränkung angrinste. Er ersehnte das Absolute und Kant lehrte ihn, daß nichts feststeht.“ Aber wo und wann hätte Kant, hätte die „Kritik der reinen Vernunft“ etwas derartiges gelehrt? Man mag allerfalls, obwohl äußerst ungenau und irreführend, die kritische Philosophie als die Lehre von der Relativität aller Dinge bezeichnen: aber eine Relativierung des Wahrheitsbegriffs ist offenbar das genaue Gegenteil von dem, was sie geschichtlich und systematisch erstrebt hat. Hatte nicht Kant selbst mit wachsendem Nachdruck, mit leidenschaftlicher Heftigkeit seinen ..transzendentalen“ Idealismus dem psychologischen Idealismus Berkeleys gegenübergestellt und hatte er den Unterschied beider Lehrbegriffe nicht darein gesetzt, daß Berkeleys Idealismus die Sinnenwelt und die Erfahrung in lauter Schein verwandle, während seine Absicht umgekehrt darauf gehe, die Wahrheit der Erfahrung zu begreifen und zu begründen? Oder war es eine Wahrheit von anderer Form und Herkunft, als die empirische Wahrheit, die Kleist durch Kants Lehre vernichtet fand? Was die sogenannte „metaphysische“ Wahrheit, was den Versuch betrifft, aus reiner , theoretischer Vernunft über transzendente Probleme und Gegenstände zu urteilen, so war ihm freilich durch Kants Kritik der Hoden entzogen. Aber auf sie hatte auch Kleist selbst, wie seine Beurteilung der religiösen Fragen im Brief vom September 1800 beweist, innerlich bereits Verzicht geleistet. Und wie immer er über sie urteilen mochte: das eine stand für ihn jedenfalls fest, daß unser Urteil über den Sinn und Wert des Lebens selbst von der Entscheidung dieser Frage in keiner Weise abhängig sein könne und dürfe. Denn dieser Wert — das hatte Kleist noch eben in echt Kantischen Wendungen betont — kann nicht auf die Annahme dieses oder jenes Lehrsatzes, nicht auf ein Wissen gegründet sein, das zu erreichen nicht in unserer Macht steht, sondern er muß sich auf den Wert gründen, den die Persönlichkeit sich selbst gib.t und den nur sie allein, unabhängig von allen fremden Stützen und Hilfen, sich zu geben vermag. Und was diesen ethischen Selbstwert als solchen und seine Gewißheit betrifft, so war nicht der geringste Zweifel daran möglich, daß Kant ihn immer und überall, in seinen theoretischen wie in seinen ethischen und religionsphilosophischen Schriften, mit der gleichen unerschütterlichen Sicherheit behaupet hatte, daß er ihn als allgemeingültig und notwendig, daß er ihn in jedem Sinne als schlechthin „unbedingt“, ja als den eigentlichen Ausdruck des Unbedingten überhaupt, ansah. So blieb hier nur die Wahrheit der Wissenschaft: die Wahrheit der Mathematik und Physik übrig, die Kleist durch die kritische Lehre als bedroht und als vernichtet hätte ansehen können. Aber konnte er übersehen, daß die Mathematik in der „Kritik der reinen Vernunft“ überall als der „Stolz der Vernunft“ bezeichnet und gerühmt war, und daß gerade der Anteil an ihr es ist, der im kritischen System auch den Wahrheits- und Wissenschaftswert aller anderen theoretischen Disziplinen begründet? Mußte Kleist, der sich selber damals um die Physik und ihr wissenschaftliches Verständnis bemühte, nicht die gewaltige theoretische Arbeit begreifen und würdigen, die Kant daran gesetzt hatte, die ersten „apriorischen“ Gründe dieser Wissenschaft zu finden und ihr erst dadurch die Festigkeit eines geschlossenen. Systems zu geben? Wies nicht eben die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft: die Frage, wie synthetische Urteile apriori möglich seien, immer wieder auf dieses Ziel, aui das Ziel der objektiven Begründung des physikalischen Wissens in allgemeinen und notwendigen Vernunftsätzen hin? Aber auch wenn man annimmt, daß Kleist, der Kant nicht mit kühler sachlicher Kritik, sondern mit der höchsten subjektiven Leidenschaft und mit subjektiver Befangenheit las, über alle diese feinen methodischen Unterschiede hinwegging und daß er sich lediglich dem Gesamteindruck des Lehrbegriffs des transzendentalen Idealismus überließ, so sind damit keineswegs alle Schwierigkeiten beseitigt. Denn eben dieser Lehrbegriff mußte Kleist seinen allgemeinen Grundzügen nach schon vor dem entscheidenden Brief an Wilhelmine bekannt sein. Er wird in Kants ethischen und religionsphilosophischen Schriften überall vorausgesetzt und er bildet den latenten. Mittelpunkt, auf den alles andere immer wieder zurückführt. Man kann in Kants Schriften, welches Thema sie immer behandeln mögen, keinen Schritt vorwärts tun, ohne dieser, die gesamte Gedankenwelt Kants beherrschenden Voraussetzung allenthalben zu begegnen. Die Lehre Kants vom Intelligiblen, vom „Noumenon“ der Freiheit bleibt unverständlich, ohne ihr notwendiges, methodisches Korrelat — ohne die Lehre von der Phänomenalität der sinnlich-empirischen Wirklichkeit. Wenn also Kleist jetzt durch diese Lehre in einem ganz neuen Sinne ergriffen und wenn er durch sie überwältigt wurde, so muß es ein neues gedankliches Motiv gewesen sein, das ihm aus ihr entgegentrat; — so muß es eine völlig neue Beleuchtung gewesen sein, in der er nunmehr das Ganze der kritisch-idealistischen Lehren erblickte.
Wir sehen somit: je weniger wir uns mit bloßen allgemeinen Schlagworten begnügen, je tiefer wir in den geistigen Prozeß einzudringen suchen, der sich in Kleist vollzogen hat, und je konkreter wir die Anschauung dieses Prozesses in uns zu gestalten suchen, um so mehr häufen sich die Rätsel und Schwierigkeiten. Wie aber, wenn sich ein anderes Werk, als die Kritik der reinen Vernunft namhaft machen ließe, aus welchem Kleist seine neue Ansicht vom Wesen des transzendentalen Idealismus geschöpft haben könnte, und aus dem auch die neue Stellungnahme, die er jetzt zu ihm einnimmt unmittelbar verständlich würde? Kleist spricht in seinem Bericht an Wilhelmine von ,.der neueren sogenannten Kantischen Philosophie“, mit der er seit kurzem bekannt geworden sei. Ein Ausdruck, der gewiß auffallen muß, denn von Kant und seiner Lehre wußte damals in Deutschland — wie ein oft zitierter Vers besagt — .jedes Kind“ oder glaubte davon etwas zu wissen. Was bedeutete also diese merkwürdige Umschreibung? Man würde sie sofort verstehen, wenn das Werk, auf das Kleist sich hier bezieht, sich selbst zwar als getreuen Ausdruck der Kantischen Lehre bezeichnete und ausgab — wenn aber die Frage, ob dieser Anspruch zu Recht bestand, noch unentschieden und strittig war. Nun war im Jahre 1800 — kaum i ein Jahr vor dem Briefe Kleists an Wilhelmine — eine Schrift erschienen, die schon in ihrer Vorrede aussprach, daß sie all das, was außerhalb der Schule von der ..neueren Philosophie“ brauchbar sei. vollständig darstellen wolle: — „vorgetragen in derjenigen Ordnung, in der es sich dem kunstlosen Nachdenken entwickeln müßte“.
„Die tieferen Zurüstungen, welche gegen Einwürfe und Ausschweifungen des verkünstelten Verstandes gemacht werden, das, was nur Grundlage für andere positive Wissenschaften ist. endlich, was bloß für die Pädagogik in weitestem Sinne, d. h. für die bedachte und willkürliche Erziehung des Menschengeschlechtes gehört, sollte von dem Umfange derselben ausgeschlossen bleiben. Das Buch ist sonach nicht für Philosophen von Profession bestimmt . . Es sollte verständlich sein für alle Leser, die überhaupt ein Buch zu verstehen vermöchten . . Es sollte anzichen und erwärmen und den Leser kräftig von der Sinnlichkeit zum Uebersinnlichen fortreißen .. .“
Wer mit der Denkweise, mit den Bildungsidealen und der inneren Bildungsgeschichte des jungen Kleist vertraut ist, der wird sich sagen müssen, wie sehr ihn schon die Ankündigung eines derartigen Zieles ergreifen mußte. Und daß sein Interesse auf das Buch, dem sie angehörte, gelenkt wurde, dafür mußte, wenn nichts anderes, so schon der bloße Titel sorgen, der über dem Buch stand. Die „Bestimmung des Menschen“ sollte in ihm gelehrt werden. Das aber war das große Thema, das in Kleists Jugendbriefen fort und fort wiederkehrte, das ihn selbst unablässig beschäftigte und das er mit ermüdender Hartnäckigkeit immer von neuem mit den Freunden, mit der Schwester, mit der Braut erörterte.
„Laß uns beide, liebe Wilhelmine, — so schrieb er z. B. im Jahre 1800 aus Würzburg — unsere Bestimmung ganz ins Auge fassen, um sie künftig einst ganz zu erfüllen. Dahin allein wollen wir unsere ganze Tätigkeit richten. Wir wollen alle unsere Fähigkeiten ausbilden, eben nur um diese Bestimmung zu erfüllen . . Urteile selbst, wie können wir beschränkte Wesen, die wir von der Ewigkeit nur ein so unendlich kleines Stück, unser spannenlanges Erdenleben übersehen, wie können wir uns getrauen, den Plan, den die Natur für die Ewigkeit entwarf, zu ergründen. Und wenn dies nicht möglich ist, wie kann irgend eine gerechte Gottheit von uns verlangen, in diesen ihren ewigen Plan einzugreffen, von uns, die wir nicht einmal imstande sind, ihn zu denken. Aber die Bestimmung unseres irdischen Daseins, die können wir allerdings unzweifelhaft hcrausfinden, und diese zu erfüllen, das kann daher die Gottheit auch wohl mit Recht von uns fordern.“
Nehmen wir an, daß Kleist in der intellektuellen Stimmung, die aus diesem Brief spricht, einen Monat später in Berlin wieder eintraf: mußte er in ihr nicht fast notwendig und mit lebendigstem Anteil nach einem Buche greifen, das damals soeben erschienen war und das die Bestimmung des Menschen zum Thema und Fichte zum Verfasser hatte? Fichte stand damals — von allem andern abgesehen — im Mittelpunkt des allgemeinen, des öffentlich-politischen und des öffentlich-literarischen Interesses. Der Atheismusstreit, der ihn gezwungen hatte, sein Lehramt in Jena autzugeben, war überall noch in frischer Erinnerung. Berlin war das erste Asyl gewesen, das er gegenüber der fortdauernden Verfolgung der kursächsischen Regierung gefunden hatte und das Haus Friedrich Schlegels und Dorothea Veits bot ihm die erste gastliche Aufnahme. Erwägt man weiterhin, daß Kleist, als er von seiner Würzburger Reise nach Berlin zurückkehrte, bereits die erste Fühlung mit den dortigen literarischen Zirkeln gewann — ein Brief an Ulrike aus dieser Zeit berichtet, daß er wenig in Gesellschaften komme, daß aber von allen Kreisen die jüdischen ihm die liebsten sein würden, wenn sie nicht so pretiös mit ihrer Bildung täten — so muß man es von vornherein für sehr unwahrscheinlich halten, daß er an einer Erscheinung wie Fichte und an einem Werk, auf das er sich so vielfältig hingewiesen sah und das sich ihm zudem durch die versprochene populäre Form der Darstellung empfahl, achtlos vorübergegangen sein sollte.
Aber freilich besitzen alle diese äußeren Momente für sich allein keine Beweiskraft. Zu einer Entscheidung können wir nur aus dem sachlichen Inhalt des Fichteschen Werks heraus und aus dem Vergleich dieses Inhalts mit den Kleistischen Briefen gelangen. Die „Bestimmung des Menschen“ ist für Fichtes eigene literarische und philosophische Entwicklung von entscheidender Bedeutung; sie bezeichnet genau und scharf den Wendepunkt, an welchem die „Wissenschaftslehre“ jene neue Richtung nimmt, durch welche sie schließlich in die spätere religionsphilosophische Fassung des Systems übergeht. Fichte steht in dieser Wendung unter dem bestimmenden Einfluß von Fr. Heinr. Jacobis Glaubenslehre. Der gesamte dritte positiv-aufbauende Teil des Fichteschen Werkes ist der Entwicklung des Glaubensbegriffs und dem. Nachweis gewidmet, daß alle wahrhafte Realität, die uns zugänglich sei, uns nur im Glauben gegeben und durch ihn allein vermittelt werde. Jacobis Wort, daß wir alle im Glauben geboren werden, wird hierbei ausdrücklich zitiert und verstärkt. Welche Gestalt aber nimmt nun. von diesem Punkte aus gesehen, der theoretische Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus an? Er bildet von jetzt ab nicht mehr das endgültige, schlechthin abschließende Resultat, sondern nur einen Durchgangspunkt der Betrachtung, der freilich als solcher unentbehrlich ist. Aus dem Standpunkt des Zweifels, wie ihn der erste Teil der Schrift, und aus dem Standpunkt des Wissens, wie ihn der zweite Teil der Schrift entwickelt, leuchtet erst die Notwendigkeit jenes Glaubens hervor, zu dein sie uns als letztes Ergebnis der philosophischen Reflexion hinfiihren will. Der Zweifel entsteht und er verschärft sich mehr und mehr, indem wir unsern Begriff der „Natur“, mit welchem unsere unbefangene Betrachtung notwendig beginnt, mit den sittlichen Postulaten, mit dein Gedanken der Freiheit und Selbstverantwortung vergleichen, die wir gleichfalls als unabweisliche Forderung in uns tragen. Die Natur kann, sofern sie überhaupt gedacht wird, nur als schlechthin lückenloser Zusammenhang von Dingen und Kräften, nur als eine in sich geschlossene Abfolge von Ereignissen gedacht werden, in der jeder spätere Zustand durch den vorangehenden vollständig und eindeutig bedingt ist. Auch alle Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins, auch all das, was wir Willensentscheidung und Willensäußerung nennen, müssen wir diesem Zusammenhang eingeordnet und untergeordnet denken. Der Wille ist selbst nur eine spezielle Form der wirkenden Naturkräfte, die mit der Gesamtheit ihrer übrigen Formen in genauester Verknüpfung steht und von ihnen im strengsten Sinne abhängig bleibt. Nichtäch wirke, sondern jene allgemeine Potenz, jenes System von Kräften, das wir mit dem Namen „Natur“ bezeichnen, wirkt in mir: und dem Ich bleibt nur das Zusehen, nur das abbildliche Bewußtsein dieser Wirksamkeit. Alles was da ist ist durchgängig bestimmt: es ist, was es ist, und schlechthin nichts anderes.
„In jedem Teil des Seins lebt und wirkt das Ganze, weil jeder Teil nur durch das Ganze ist, was er ist; durch dieses aber notwendig das ist.“
„Gib der Natur den Lauf eines Muskels, die Biegung eines Haares an einem bestimmten Individuum, und sie wird dir, wenn sie im Ganzen denken und dir antworten könnte, daraus alle guten Taten und alle Untaten seines Lebens von Anbeginn bis an sein Ende angeben. Der Tugendhafte ist eine edle, der Lasterhafte eine unedle und verwerfliche, jedoch aus dem Zusammenhänge des Universums notwendig erfolgende Natur.“
Umsonst erhebt gegen dieses festgefügte System des Determinismus das sittliche Gefühl und der sittliche Wunsch in uns Einspruch: der Determinismus, der nichts anderes als der Ausdruck des Denkens selbst und seines obersten Prinzips: des „Satzes vom Grunde“ ist, „erklärt“ zuletzt auch diese ihm scheinbar widerstreitenden Wünsche und vermag auch ihre Notwendigkeit einzusehen und zu deduzieren. Aul dem Boden des Naturbegrifts ist somit schlechterdings keine andere Lösung möglich; hier gibt es kein Ausweichen vor der letzten entscheidenden Konsequenz. Wie aber, wenn wir uns gerade über dieses Fundament in unserer Reflexion zu erheben vermöchten, wenn wir einsehen, daß es keine absolute, sondern nur eine relative Geltung besitzt? Ist denn das, was wir Natur, was wir das Sein und die Wirklichkeit der Dinge nennen, ein feststehendes, für uns nicht weiter auflösbares undurchdringliches Faktum — oder ist es nicht vielmehr ein Begriff, den wir selbst, den unser Intellekt und unser Wissen an die Betrachtung der Phänomene heranbringt? Und wenn dem so wäre: — so wären wir freilich mit einem Schlage von dem unentrinnbaren Zwange, mit dem die Dinge uns bisher bedrohten, befreit. Man setze an die Stelle der Dinge an sich die Vorstellung von den Dingen, man entwickle die Regeln, nach denen diese Welt der Vorstellung aus ursprünglichen Elementen, aus den ersten Anfangsdaten der Empfindung sich entwickelt und aufbant: und die ganze Frage nimmt sofort eine andere Gestalt an. Der Zwang des Seins zerrinnt und löst sich auf, in dem Maße, als wir das Sein selbst als ein bloßes Bild begreifen, das der Gedanke vor sich hinstellt. Und eben in der Vermittlung dieser Einsicht besteht die charakteristische Aufgabe des Wissens. Das Wissen ist keine Wiedergabe und Repräsentation eines für sich bestehenden absoluten Seins: sondern es zeigt umgekehrt, daß dieses angeblich absolute Sein ein Trugbild ist, das unsere Reflexion und unsere Einbildungskraft vor uns hinstellen. Der Trug ist bewältigt, sobald er einmal durchschaut ist; — sobald wir eingesehen haben, wie er entsteht und nach den Gesetzen des denkenden Bewußtseins entstehen muß. Jetzt fühlen wir uns der fatalistischen Notwendigkeit der Welt und des Weltzusammenhangs entrückt: denn wir begreifen, daß es nur die selbständigen und dennoch unwillkürlichen und insofern notwendigen Akte der Intelligenz, daß es ihre ursprünglichen Setzungen und Tathandlungen sind, auf denen die Möglichkeit jeder Vorstellung von einem Dasein der Dinge beruht. Die Freiheit wird uns zurückgegeben, indem gleichzeitig die absolute, die dogmatische Substantialität der Welt versinkt. —
Kehren wir nunmehr, ehe wir der weiteren Ausführung dieses Grundgedankens bei Fichte nachgehen, wieder zu Kleist und zu seinem Brief zurück. Es ist bekannt, daß Kleist, um Wilhelmine die Grundlehren des transzendentalen Idealismus zu verdeutlichen, von einem populären Vergleich und Beispiel ausgeht.
„Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün — und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstände.“
Wenn dieser Vergleich die Summe der Lehren der „Kritik der reinen Vernunft“ ziehen wollte, so wäre er seltsam genug; denn gerade Kant hatte immer von neuem davor gewarnt, das, was er die „Subjektivität“ der Anschauungsformen und der Kategorien nannte, durch „ganz unzulängliche Beispiele“, die dem Gebiet der Subjektivität der Sinnesqualitäten entnommen sind, belegen und verdeutlichen zu wollen. Für ihn, als Kritiker der Erkenntnis, besteht hier eine schlechthin nicht zu verwischende methodische Grunddifferenz; denn von Farben und Tönen lassen sich, wie er prägnant und nachdrücklich betont, keine synthetischen Urteile apriori, keine wahrhaft allgemeingültigen und notwendigen Erkenntnisse und Wahrheiten gewinnen. So steht insbesondere die Raumanschauung für Kant mit der Farben-empfindung niemals auf der gleichen Linie, sondern bleibt ihrem Wahrheitscharakter nach von ihr durchaus verschieden. Anders aber war das Verhältnis, wie es sich nunmehr bei Fichte darstellte. Zwar den Vergleich mit dem Sehen durch grüne Gläser werden wir bei ihm nicht anzutreffen glauben; denn hier handelt es sich, wie Kleist selbst in einem späteren Briefe an Wilhelmine erklärt, um eine eigene Zutat Kleists, die er nur vorübergehend zur populären Verdeutlichung des Gedankens benutzte. „Ich habe mich“ — so schreibt er — „nur des Auges in meinem Briefe als eines erklärenden Beispiels bedient, weil ich Dir selbst die trockene Sprache der Philosophie nicht vortragen konnte.“ Aber was nun in dieser Sprache bei Fichte wirklich vorgetragen wurde: das war nicht nur die Lehre von der Subjektivität der Farben und Töne, sondern von der ebenso unbedingten und ausschließlichen Subjektivität unserer gesamten Wahrnehmungs- und Anschauungswelt. „In aller Wahrnehmung“ — so belehrt in der „Bestimmung des Menschen“ der Fichtesche „Geist“ das „Ich“, mit dem er seine Zwiesprache hält — nimmst du zunächst nur dich selbst und deinen eigenen Zustand wahr: und was nicht in dieser Wahrnehmung liegt, wird überhaupt nicht wahrgenommen. Ich würde nicht müde werden, es in allen Wendungen zu wiederholen, wenn ich befürchten müßte, daß du es noch nicht begriffen, dir noch nicht unvertilgbar eingeprägt hättest. — Kannst du sagen: ich bin mir äußerer Gegenstände bewußt? — Keineswegs — erwidert das Ich — wenn ich es genau nehme; denn das Sehen und Fühlen usw„ womit ich die Dinge umfasse, ist nicht das Bewußtsein selbst, sondern nur dasjenige, dessen ich mir am ersten und unmittelbarsten bewußt bin. Der Strenge nach könnte ich nur sagen: ich bin mir meines Sehens oder Fühlens der Dinge bewußt . . . . Nun so vergiß denn nie wieder, was du jetzt klar eingesehen hast. In aller Wahrnehmung nimmst du lediglich deinen eigenen Zustand wahr.“
Und an dieser prinzipiellen Entscheidung wird nicht das mindeste geändert, wenn wir nun von den sinnlichen Qualitäten zu den Gegenständen des mathematisch-physikalischen Wissens, wenn wir von der Welt der Tastempfindungen, des Geruchs und des Geschmacks, der Gesichts- und Gehörsempfindungen zu der Welt des Raumes und der Körper im Raume übergehen. Der Raum ist freilich kein Empfindungsinhalt; denn jeder Empfindungsinhalt ist als solcher ein schlechthin Unausgedehntes, auf einen bloßen unteilbaren Punkt Bezügliches. Aber daß wir nun über diesen bloßen Punkt hinausgehen — daß wir ihn zur Linie und Fläche und daß wir schließlich die Fläche zum Körper erweitern, das ist ebenfalls eine Notwendigkeit, die lediglich in den Gesetzen s des Bewußtseins, in den Gesetzen unserer anschauenden Intelligenz und in nichts anderem gegründet ist. Nicht die absolute Existenz einer „äußeren*‘ Sache ergreifen wir hierin, sondern nur die Notwendigkeit unserer eigenen Anschauung, der aber kraft ihrer Natur diese Kraft des „Hinausgehens“ über den bloßen punktuellen Empfindungsinhalt innewohnt. Was wir die Gewißheit der „Außenwelt“ zu nennen pflegen, das ist also auch hier nichts anderes als die Gewißheit jener objektivierenden Bedeutung, die der Anschauung selber eigen ist. Wir erfassen den Raum und die Körperwelt nicht dadurch, daß wir sie passiv in unser Bewußtsein aufnehmen und sie als ein für sich Vorhandenes in ihm nur abspiegeln; sondern wir schauen in beiden nur unsere eigene Funktion der Verknüpfung von Punkten. Linien und Flächen an. Es handelt sich nicht um eine Abbildung des „Aeußern“ durch das „Innere“, sondern um eine Projektion des Innern zum Aeußern. So gilt es auch hier ohne jede Einschränkung: „das Bewußtsein des Gegenstandes ist nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner Erzeugung einer Vorstellung vorn Gegenstände“.
„Du siehst sonach ein, daß alles Wissen lediglich ein Wissen von dir selbst ist, daß dein Bewußtsein nie über dich selbst hinausgeht, und daß dasjenige, was du für ein Bewußtsein des Gegenstandes hältst, nichts ist als ein Bewußtsein deines Setzens eines Gegenstandes, welches du nach einem inneren Gesetze deines Denkens mit der Empfindung zugleich notwendig vollziehst.“
„Und nun“ — so fährt wiederum der „Geist“ in seiner Belehrung des „Ich“ fort — nun wird dir vollkommen klar sein, wie etwas, das doch aus dir selbst hervorgeht, dir als ein Sein außer dir erscheinen könne, ja notwendig erscheinen müsse. Du bist zur wahren Quelle der Vorstellungen von Dingen außer dir hindurchgedrungen … Du selbst bist das Ding: du selbst bist durch den innersten Grund deines Wesens, deine Endlichkeit vor dich selbst hingestellt, und aus dir selbst hinausgeworfen; und alles, was du außer dir erblickst, bist immer du selbst. Man hat dieses Bewußtsein sehr passend An- ! schau ung genannt… (Er ist) ein tätiges Hinschauen dessen, was ich anschaue, ein Herausschauen meiner selbst aus mir selbst—. Darum ist auch dieses Ding dem Auge deines Geistes durchaus durchsichtig, weil es dein Geist selbst ist.
Du teilst, du begrenzest, du bestimmst die möglichen Formen der Dinge und die Verhältnisse dieser Formen vor aller Wahrnehmung vorher …. Es gibt keinen äußeren Sinn, denn es gibt keine äußere Wahrnehmung. Wohl aber gibt es eine äußere Anschauung — nicht desDinges — sondern diese äußere Anschauung — dieses, außerhalb des subjektiven und ihm als vorschwebend erscheinende Wissen — ist selbst das Ding, und es gibt kein anderes.“
Das also ist der Kreis, in welchen nach Fichte das Ich und sein Wissen gebannt ist; — und in welchem freilich beide zugleich als unumschränkte Herrscher walten. Denn der Gedanke von einem blinden Zwange der Natur, der das Ich gefangen hielte, ist jetzt zugleich mit dem Gedanken von dem absoluten Dasein einer solchen Natur beseitigt. Das Ich ist frei geworden; denn wenn es in der realistischen Grundansicht als ein bloßer Teil und als ein Produkt der Natur erschien, so erscheint jetzt vielmehr die Natur als sein Werk, als das Werk seines Wissens und seines Verstandes. Die Bedingung freilich, an welche diese Selbstbefreiung geknüpft bleibt, ist, daß der neu errungene Welt- und Wissensbegriff nicht verändert: daß also das Wissen nicht als ein Wissen von der Realität selbst, sondern als ein Wissen von Vorstellungen, ein Wissen von Bildern erkannt wird. Abermals wird dieses Resultat in Fichtes „Bestimmung des Menschen“ in unerbittlicher Schroffheit hingestellt. Vergebens lehnt sich das Ich noch einmal gegen alle Konsequenzen, die in diesem Gedanken liegen, auf: es muß sie hinnehmen und anerkennen.
„Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein . . . Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder: — Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben, die durch Bilder von den Bildern Zusammenhängen, Bilder ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck …. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum.“
Verzweifelnd sucht das Ich bei dem Geiste, von dem es diese Lehre empfangen, irgend eine Hilfe und Rettung gegen dieses völlige Versinken ins Nichts: es wird nur um so tiefer und erbarmungsloser in dieses Nichts zurückgestoßen.
„Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, daß du auf deinem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als — wovon du wissen wolltest, von deinem Wissen selbst; und möchtest du, daß es anders sei? . . Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Deine Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden, und ein System des Wissens ist notwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck . . . . Und das ist denn das einzige Verdienst, das ich an dem Systeme, das wir soeben mit einander gefunden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrtum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer. Nun suchst du denn doch etwas außer dem bloßen Bilde liegendes Reelles — mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiß — und eine andere Realität, als die soeben vernichtete …. Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie durch dein Wissen und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntnis zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.“
Denken wir uns Kleist als Leser dieser Sätze — welchen Eindruck mußte er von ihnen empfangen! Sein Schmerz, seine Verzweiflung und Vernichtung wären jetzt völlig erklärt. In der Vorrede zur „Bestimmung des Menschen“ hatte sich Fichte einen Leser gewünscht, der alles, was in der Schrift gesagt werde, nicht nur historisch fasse, sondern der wirklich und in der Tat während des Lesens mit sich selbst rede, hin und her überlege, Resultate ziehe. Entschließungen fasse und durch eigene Arbeit und Nachdenken, wie aus sich selbst, diejenige Denkart entwickle und sie in sich aufbaue, deren bloßes Bild ihm im Buche vorgelegt werde. Wenn es irgend einen Leser gab, der dazu bestimmt war, diese Forderungen bedingungslos zu erfüllen, so war es Heinrich von Kleist. Er hat niemals einen Gedanken, der ihm nahe trat, bloß historisch aufgenommen; er lebte in den großen gedanklichen Entscheidungen, in die er die ganze Glut und die ganze Kraft seiner Seele hineinlegte. Und er drang überall auf unbedingte Wahrhaftigkeit: auf ein rücksichtsloses Entweder — Oder. Wenn wirklich das Wissen als solches absolut leer, wenn es ein „System bloßer Bilder ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck“ war, so hatte es für ihn jeglichen, auch nur relativen und mittelbaren Wert, mit dem sich ein weniger aufs Unbedingte gestellter Geist hätte begnügen und trösten können, verloren. „Ich habe mich zwingen wollen zurArbeit“ — so schreibt er an die Schwester–aber mich ekelt vor allem, was Wissen heißt. Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will?“ — Zwar war die Vernichtung des Wissens bei Fichte selbst nicht das letzte Ergebnis, mit dem er seine Schrift beschloß; zwar war hier, wie wir gesehen haben, auf ein anderes geistiges „Organ“ hingedeutet, kraft dessen die Welt des Seins, die soeben durch die philosophische Reflexion zerstört worden war. auf einer neuen Grundlage und mit neuen Mitteln wieder aufgebaut werden sollte. Aber selbst wenn wir annehmen, daß Kleist diesen weiteren Entwicklungen noch mit der gleichen gedanklichen Intensität und Energie gefolgt ist, so begreifen wir doch, daß sie ihm keine wahrhafte Beruhigung und Befriedigung zu geben imstande waren. Die besondere Form und Eigenart von Fichtes Glaubensbegriff, der hier als die letzte Lösung erschien, vermochte er zweifellos nicht völlig zu durchschauen. Dieser Begriff ist in den Darlegungen des Schlußteils der „Bestimmung des Menschen“ noch nicht zu wahrhafter Schärfe und Klarheit entwickelt: — auch der moderne Leser würde Mühe haben, ihn nach seiner Eigentümlichkeit zu würdigen, wenn er nicht Fichtes spätere religionsphilosophischcn Werke zum Vergleich und zur Erläuterung heranziehen könnte. So mochte Kleist in Fichtes Entscheidung, die die Frage dem Wissen entzog, um sie dem „Glauben“ zuzuweisen, nur eine Flucht in das religiöse Gefühl sehen, die er als bloßes Kompromiß verschmähte und von sich wies. Gewiß: sein Wunsch und seine Sehnsucht weisen auch ihn, nachdem er einmal den Zusammenbruch des Wissens in sich erfahren hatte, oft genug auf einen solchen Ausweg hin. „Ach. Wilhelmine.“ so schreibt er kurz darauf aus Dresden, indem er von seiner Teilnahme an einem katholischen Gottesdienst erzählt — „unser Gottesdienst ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstände, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seiner untersten Stufe, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Inbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt. — Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihm niederzuwerfen und zu weinen. — Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust wollte ich katholisch werden.“ Aber der unbedingte Wahrheitssinn und der unbedingte Wahrheitsmut, den Kleist bis zur inneren Selbstvernichtung festhält, siegt immer wieder über jede derartige Stimmung und Anwandlung. Auch als Wilhelmine ihn auf seinen ersten Brief hin mit Gefühlsgründen zu trösten versuchte, weist er dies ruhig und bestimmt von sich. Er weiß, daß der Konflikt, der auf dem Boden des Denkens entstanden ist, auch auf eben diesem Boden gelöst und zum Austrag gebracht werden muß. „Ich ehre dein Herz und deine Bemühung mich zu beruhigen“ — so erwidert er —. „aber der Irrtum liegt nicht im Herzen, er liegt im Verstände und nur der Verstand kann ihn heben. — — Liebe Wilhelmine, ich bin durch mich selbst in einen Irrtum verfallen, ich kann mich auch nur durch mich selbst wieder heben.“ Und in der Tat: welche innere Beruhigung hätte es Kleist gewähren können, wenn die Lösung des Problems einfach vom Gebiet des Wissens ins Gebiet des Glaubens verschoben wurde? Das Verdikt über die Nichtigkeit des Wissens selbst blieb dem ungeachtet in aller Schärfe bestehen. Auf das Wissen aber, auf die rein theoretische Erkenntnis war der „Lebensplan“ Kleists, wie er ihn damals begriff, ausschließlich gestellt. Wenn dieses Wissen für das höchste Ziel der menschlichen Bestimmung als unzulänglich erkannt war, so hatte, so bedurfte er kein anderes Ziel mehr. Er warf es von sich, da ihm sein wesentlicher Gehalt verloren war. Wir stehen hier vor einem Prozeß, der nicht nur als ein äußerliches Schicksal Kleists zu begreifen und zu beurteilen ist, sondern der tief in seinem Charakter und seiner ganzen seelischen Grundrichtung wurzelt. Wir finden hier die gleiche typische Form wieder, die allen großen innerlichen Krisen im Leben Kleists eigentümlich ist. Wie hier vor dem Wissen, so stand er später, als er nach jahrelangem Ringen den „Guiscard“ endgültig verworfen hatte, vor seinem dichterischen Beruf. Und wie später, so kannte er hier keine Schranke, kein Begnügen mit einem Mehr oder Weniger. „Ich habe in Paris — so schreibt er — mein Werk, so weit es fertig war, durchlesen. verworfen und verbrannt; und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm. wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin.“ Für eine Natur wie diese gab es im Denken so wenig wie im Leben ein bloßes Kompromiß, gab es, wenn er über eine bestimmte Grenze des Begreifens vorgedrungen war. kein Zurück mehr, wie zerstörend auch die Folgen sein mochten, die er für sich selbst voraussah. —
Noch auf ein äußeres Moment kann hier zuletzt hingewiesen werden, das immerhin im Ganzen unserer Betrachtung nicht ohne Bedeutung ist. In dem ersten Brief an Wilhelmine berichtet Kleist, daß er sich in seiner Verzweiflung über das Ergebnis, zu welchem er sich durch die „Kantische Philosophie“ hingeführt sah, zuerst seinem Freunde Rühle mitgeteilt und anvertraut und daß dieser ihn auf einen vor kurzem erschienenen Roman „Der Kettenträger“ verwiesen habe. „Es herrscht in diesem Buche — so sagte er ihm — eine sanfte freundliche Philosophie, die Dich gewiß aussöhnen wird mit allem, worüber Du zürnst“. „Es ist wahr — so fährt Kleist in seiner Erzählung fort — er selbst hatte aus diesem Buche einige Gedanken geschöpft, die ihn sichtbar ruhiger und weiser gemacht hatten. Ich faßte den Mut, diesen Roman zu lesen. Die Rede war von Dingen, die meine Seele schon längst selber bearbeitet hatte. Was darin gesagt ward, war von mir schon längst im voraus widerlegt . . . Und das soll die Nahrung sein für meinen brennenden Durst?“ Der sehr seltene „Kettenträger“ ist mir bisher leider nicht zugänglich gewesen: aber nach einem Referat, das M i n d e – P o u e t in seiner Ausgabe von Kleists Briefen von ihm gegeben hat, handelt es sich in ihm um einen „krausen, mit unmöglichen Geister-, Zauber- und Liebesgeschichten durchsetzten Roman, der dartun will, daß jedes Menschen Bestreben, sein Schicksal zu lenken, fruchtlos sei, da wir unfrei und gebunden sind.“ Und eine solche Schrift konnte Rühle Kleist als Heilung gegen die Wirkung der Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ empfehlen? Was in aller Welt hatte die „freundliche Philosophie“ dieses „Kettenträgers“ mit der Kantischen Erkenntniskritik, mit der transzendentalen Aesthetik und der transzendentalen Analytik zu tun? Nimmt man dagegen an, daß Kleist von Fichtes „Bestimmung des Menschen“ herkam und daß er den Inhalt und Gedankengang dieses Buches in großen Zügen vor Rühle entwickelte — so würde auch dieser Umstand sich klären. Denn wir erinnern uns, daß alle Deduktionen Fichtes über Wert und Unwert der Erkenntnis vom Problem der Willensfreiheit ihren Ausgang genommen hatten. Um die Möglichkeit der menschlichen Freiheit zu retten, mußte die Welt der Dinge in eine Welt der Bilder aufgelöst werden, die der Verstand nach eigenen Gesetzen selbsttätig entwirft. Wie aber, wenn man auf dieses Ziel verzichtete; — wenn es einen Weg gab, sich mit den Gedanken der Willensunfreiheit zu versöhnen und ihn in einem milderen und freundlicheren Lichte erscheinen zu lassen? Dann fiel — so schien es — mit dem Ziel auch das Mittel fort: dann konnte die realistische Ansicht behauptet und mit ihr auch dem Wissen die Rolle, ein Ausdruck der absoluten Wirklichkeit zu sein, erhalten werden. Kleist freilich war bereits zu tief in den Kern des Problems eingedrungen, als daß er sich mit einer derartigen Scheinlösung hätte begnügen können. Immer tiefer grübelte er gerade in dieser Zeit nicht nur der Möglichkeit des Wissens, sondern auch der Möglichkeit des Wollens, der freien sittlichen Entscheidung nach. Und auch hier sah er sich alsbald vor eine Grenze des Begreifens geführt. Wir glauben frei zu sein — aber ist nicht auch dieser Glaube eine leere Illusion? Werden wir nicht hin- und hergetrieben von dem unberechenbarsten Zufall, der täglich und stündlich in unser Geschick ein-greifen und ihm eine völlig neue Wendung geben kann? Als Kleist, weil Ulrike ihm halb wider seinen Willen ihre Begleitung nach Paris angeboten hat, gezwungen ist, Pässe für sich und die Schwester zu fordern: als er, um diese Pässe zu erhalten.
Wissenschaftliche Studien als Zweck der Reise angeben und sie zum Teil wirklich auf sich nehmen muß, während er entschlossen war, der Wissenschaft auf dieser Reise für immer zu entfliehen, da wird in ihm wieder die Empfindung mächtig, wie das blinde Verhängnis mit dem Menschen spielt. „Ach Wilhelmine — so schreibt er — wir dünken uns frei und der Zufall führt uns allgewaltig an tausend feingesponnenen Fäden fort. —“ Auch in den Briefen von der Reise kehrt fort und fort diese Reflexion und die Stimmung, die sie in ihm weckt, wieder. Mit Recht hat man hier einen der frühesten wesentlichen Keime zu der ersten tragischen Dichtung Kleists, zu der Konzeption der „Familie Schroffenstein“ gesehen.1) Und auch weiterhin wurzelt die Tragik bei Kleist in diesem seinen Grundgefühl. Was Goethe in seiner Straßburger Rede von Shakespeare gesagt hat, daß alle seine Dichtungen sich um den „geheimen Punkt“ drehen, an dem die Eigentümlichkeit unseres Ich, die prätendierte Freiheit unseres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusamrnenstößt: das gilt auch für die Dichtung Kleists. Von diesem „geheimen Punkt“ aus lassen sich die Kleistschen Gestalten, lassen sich Alkmenc und Robert Guiscard, Penthesilea und Käthchen, Kohlhaas und die Marquise von O . . . erst wahrhaft deuten. Wenn wirklich Fichtes Schrift es gewesen ist, die das Problem der Willensfreiheit zuerst in seiner ganzen Schärfe und Klarheit von Kleist hingestellt hat, so ließe sich begreifen, daß sie für Kleist von Anfang an mehr als eine abstrakte theoretische Spekulation bedeuten mußte: denn die abstrakte begriffliche Erörterung berührte hier in ihm selbst ein seelisches Motiv, das für seine gesamte dichterische Gefühlsauffassung des Welt- und Lebenszusammenhangs entscheidend war. —
Wichtiger jedoch als die Frage, aus welcher Quelle Kleist seine Kenntnis vom Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus geschöpft hat, ist die andere Frage, welche innere Wendung sich, unter dem Einfluß dieses Lehrbegriffs, nunmehr in Kleist vollzieht und welche Bedeutung die intellektuelle Krise, die er hier durchlebt hat, für das Ganze seiner Künstlerschaft gewinnt. Und hier läßt sich — so paradox es zunächst erscheinen mag — in der Tat behaupten, daß Kleist in dieser Krise nicht nur zu einer neuen theoretischen Weltansicht gelangt ist, sondern daß er erst in ihr und durch sie seine künstlerische Giundrichtung wahrhaft begriffen hat. Das ist das Eigentümliche in Kleists Entwicklung, was in dieser Form vielleicht in der Lebensgeschichte keines anderen großen Dichters wiederkehrt, daß es ein gedankliches Erlebnis ist, das gleichzeitig die produktiven dichterischen Kräfte in ihm gelöst und befreit und das ihm selbst erst zum vollen Bewußtsein dieser Kräfte verholten hat.
Die theoretische und ethische Lebensansicht des jungen ; Kleist ist vor der entscheidenden Einwirkung des transzendentalen Idealismus durch die Grundanschauungen des achtzehnten Jahrhunderts, durch die Philosophie der deutschen Aufklärung bestimmt. Mit altkluger Weisheit entwickelt der erste philosophische Aufsatz, den wir von Kleist besitzen, seine Anweisung „den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört, auch I unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen,“ diese / Auffassung. Man hat schon in dieser Abhandlung und in den Spekulationen über das Verhältnis von Glück und Tugend, die sie enthält, Auklänge an Kant und Spuren einer ersten Lektüre Kantischer Schriften zu finden geglaubt: — aber im Ganzen ist die unbedingte und unmittelbare Identität von Glück und Tugend, von Glückseligkeit und Glückwürdigkeit, die hier gelehrt wird, den ethischen Grundlehren Kants weit eher entgegengesetzt als verwandt. Will man lüer nach irgend einer literarischen Quelle und Anregung suchen, so könnte sie nur in der durch Kant bekämpften und verdrängten Popularphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts oder aber in antiken, insbesondere in stoischen Lehren gefunden werden. Reminiszenzen an solche Lehren, an Ciceros oder Senecas moralphilosophische Schriften sind in dem Aufsatz unverkennbar — und auch sein Gesamtergebnis fällt mit dem klassischen Resultat der stoischen Ethik, mit dem Gemeinspruch, daß das wahre Glück keine Folge der Tugend, sondern daß es vielmehr die Tugend selbst sei, zusammen, ln jedem Fall bedeutet dieser Aufsatz des Zweiundzwanzigjährigen kaum mehr als eine verspätete Schulübung, die aber noch keinerlei Hinweis auf die spätere originale Grund-anschauiing enthält. Auch die pädagogischen Bildungsideale, die Kleist in den Briefen dieser Zeit entwickelt, greifen über diesen Kreis nicht hinaus. Daß auch alle sittliche, alle Persön-lichkeits- und Charakterbildung im wesentlichen durch die Aufklärung des Verstandes bedingt sei, gilt hier überall als feststehend. Nur von einer derartigen Ansicht aus erklärt sich die Pedanterie, der trockene Ernst und die abstrakte Gründlichkeit, mit denen Kleist in seinen Briefen die „Fragen zu Denkübungen“ für die Schwester und für die Braut formuliert und sie unerbittlich bis zur vollständigen befriedigenden Lösung durch-ninnnt. Ueberall herrscht die Ueberzeugung, daß nur durch solche bewußte Arbeit des abstrakten Denkens der Mensch zu seinem eigentümlichen, ihm wahrhaft zukommenden Wert emporgehoben werden kann. „Welcher andern Herrschaft“ — so apostrophiert Kleist die Schwester — bist du unterworfen, als allein der Herrschaft der Vernunft? Aber dieser sollst du dich auch vollkommen unterwerfen. Etwas muß dem Menschen heilig sein. Uns beiden, denen es die Zeremonien der Religion und die Vorschriften des konventionellen Wohlstandes nicht sind, müssen um so mehr die Gesetze der Vernunft heilig sein . . . Wer sichert uns . . unser inneres Glück zu, wenn die Vernunft es nicht tut?“ Nur kraft der fortschreitenden Aufklärung des Verstandes und der immer weitergehenden „Verdeutlichung“ der Begriffe vermag das Ich die Stelle, die ihm im großen Plan der Welt zugewiesen ist, zu erkennen und zu erfüllen. — vermag es weiterhin, sich über sich selber zu einer höheren Stufe der Geistigkeit zu erheben. „Dich, mein geliebtes Mädchen ausbilden“ — so schreibt Kleist an Wilhelmine, indem er ihr seinen Entschluß mitteilt, frei von jeder äußeren amtlichen oder gesellschaftlichen Bindung zu leben, — ist das nicht etwas Vortreffliches? Und dann, mich selbst auf eine Stufe näher der Gottheit zu stellen — — o laß mich, laß mich! Das Ziel ist gewiß hoch genug und erhaben, da gibt es gewiß Stoff genug zum handeln — und wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht aui einem anderen Sterne einen um so besseren.“
In alledem ist nichts enthalten, was nicht Gemeingut der deutschen Geistesbildung des achtzehnten Jahrhunderts gewesen wäre. Ueberall klingt jene metaphysische Ansicht von der Stellung des Ich zur Welt und zur Gottheit hindurch, die ihren vollendeten systematischen Ausdruck in der Leibnizischen Monadologie gefunden hatte. Weit über den Kreis der philosophischen Schulen hinaus hatte diese Ansicht sich als wirksam erwiesen. Sie bildet für Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ das eigentliche gedankliche Fundament, wie sie andererseits in der dithyrambischen Jugendphilosophie Schillers, in den Gedichten der „Anthologie“ und in der „Theosophie des Julius“ fortwirkt. Alles, was wir das Sein, was war die Wirklichkeit der Dinge nennen, löst sich für die Betrachtung der Vernunft in ein einziges Geisterreich aut, das nach Stuten intellektueller Klarheit und Vollkommenheit geordnet ist. Aus dem Kelch dieses Geisterreiches schäumt auch dem höchsten göttlichen Wesen eist seine wahrhafte Unendlichkeit: es erkennt und weiß sich selbst, indem es sich in der Fülle und Mannigfaltigkeit der „geschaffenen Geister“ als ebensoviel lebendigen Spiegeln seiner selbst beschaut. Das Universum bildet einen einzigen großen Zweckzusammenhang, der sich der menschlichen, sinnlich-eingeschränkten und sinnlich-„verworrenen“ Ansicht zwar nur fragmentarisch und unvollkomemn darstellt, der sich aber der fortschreitenden Einsicht des Verstandes immer reiner und bestimmter offenbart. . Was wir von unserem beschränkten Standpunkt aus Mängel der Welt zu nennen pflegen, das sind daher m Wahrheit nur Mängel unserer Einsicht in die Welt und ihre teleologische Gesamteinheit. Sie würden verschwinden, wenn wir es vermöchten, unser Auge — ebenso wie es Coper-nicus für seine Umbildung der gewöhnlichen kosmologischen Ansicht gefordert hatte — ganz in die Sonne, in das Licht der reinen Vemunfterkenntnis zu stellen. Leibniz stellt es einmal als Grundsatz dieses intellektualistischen Optimismus auf: daß die Dinge, je mehr sie in ihre wahrhaften Grundelemente zerlegt werden, dem Verstand um so mehr Genüge bieten. Die gleiche Grundüberzeugung gibt auch der frühesten Philosophie des jungen Kleist ihr Gepräge. Die wahre Fälligkeit des ..Weisen“ — so führt der Aufsatz den sicheren Weg des Glücks zu finden aus — besteht darin, „Honig aus jeder Blume zu saugen“; „er kennt den großen Kreislauf der Dinge, und freut sich daher der Vernichtung, wie des Segens, weil er weiß, daß in ihr wieder der Keim zu neueren und schöneren Bildungen liegt.“
Auch durch den Einfluß Rousseaus den Kleist offenbar früh erfahren hat, ist in seiner Gesamtansicht zunächst keine entscheidende Aenderung eingetreten. Mit Berufung auf Rousseau kämpft er jetzt gegenüber den einseitigen und konventionellen Forderungen des Verstandes für die unveräußerlichen Rechte des Gefühls und des Herzens — aber die geistige Struktur seines Weltbildes und sein intellektualistischer Unterbau werden dadurch nicht berührt Dies ist geschichtlich durchaus verständlich: denn Rousseaus Kritik des Verstandes ist politisch und sozial, nicht aber erkenntnistheoretisch und metaphysisch gerichtet. Sie wendet sich gegen willkürliche gesellschaftliche Satzungen; — aber es ist das Recht der „Natur“, es ist das ursprüngliche Recht der „Vernunft“ selbst, das sie gegen diese Satzungen ins Feld führt. Auf der Grundlage der Vernunft soll eine neue soziale Ordnung errichtet werden, wie andererseits die innere Welt des Einzelnen von der Gebundenheit durch das religiöse Dogma befreit werden und sich aus sich selbst heraus nach eigenem Gesetz gestalten soll. Wenn Kleist, in seinem Würzburger Religionsbrief an Wilhelmine ausführt, daß die Gottheit zwar das Tun des Menschen in Anspruch nehmen, nicht aber gerechter Weise von ihm einen Glauben an Dinge fordern könne, deren Erkenntnis sie selbst ihm ein für allemal versagt habe —: so spricht aus der Gesamtheit dieser Betrachtungen nicht nur die Kantische Religionsansicht, sondern es ist zugleich das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“, das hier ersichtlich nachwirkt. Dieses Glaubensbekenntnis ordnet sich der Gesamtheit seiner Weltbetrachtung lückenlos ein.
Denn der Satz „Le tout est bien“ gilt für Rousseau, wie er für Leibniz gegolten hatte. Auch er glaubt an einen durchgängigen teleologischen Grundplan der „Vorsehung“, den die Vernunft seinem Bestand und seinen inhaltlichen Hauptzügen nach zu erfassen vermag; auch er glaubt an die ursprüngliche, durch keine „Erbsünde“ befleckte Güte der menschlichen Natur -und dieser doppelte Glaube bildet die Voraussetzung, von der aus er die Enge und Beschränktheit der gesellschaftlichen Kultur, der willkürlichen menschlichen Satzungen bekämpft.
Der transzendentale Idealismus bildet auch an diesem Punkte die Grenzscheide der Zeiten und die Grenzscheide der Geister. Wie er in theoretischer Hinsicht eine „Revolution der Denkart“ in sich schließt, so entzieht er auch dem praktisch-metaphysischen Begriff der „Vollkommenheit“, der bisher die gemeinsame Grundlage der philosophischen Systeme gebildet hatte, den Boden. Beide Leistungen gehören in ihrer allgemeinen geistesgeschichtlichen‘ Tendenz zusammen. Der Kritik der theoretischen Erkenntnis entspricht die Kritik der theoretischen Gottesbeweise, insbesondere des bekanntesten und populärsten unter ihnen: des teleologischen Beweises. Das „Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ ist damit ein für allemal fcstgestellt. Die theoretische Vernunft kann sich mit ihren Begriffen nicht mehr vermessen, ein Bild der „besten Welt“ zu entwerten und dem Ich seine Stelle in dieser Welt anzuweisen. Diese Konsequenz der kritischen Lehre ist Kleist freilich, als er mit den Schriften Kants zuerst bekannt wurde, nicht sogleich zu deutlichem Bewußtsein gekommen. Er entnimmt aus diesen ‚ Schriften — aus der „Anthropologie“ und der „Religion inner- ‚ halb der Grenzen der bloßen Vernunft“ — bezeichnender Weise zunächst diejenigen Lehrstücke, in denen Kant eher als der Vollender, wie als der Zerstörer der Aufklärungsphilosophie erscheinen konnte. Kants Lehre vom „praktischen Veruunft-glauben“ und seine Abweisung aller transzendenten Begründung der sittlichen Gebote schienen in dieser Richtung zu liegen. Aber in dem Maße, als Kleist nun weiterhin — gleichviel von welcher Seite her und auf wessen Anregung hin — zu dem eigentlichen originalen Sinn und Gehalt des kritischen Idealismus vordrang, mußte auch die Kluit zwischen dieser Lehre und seiner bisherigen Welt- und Lebensansicht ihm deutlich werden. Was jetzt von ihm gefordert wurde, war der Verzicht auf jene unmittelbare Einheit des Theoretischen und Praktischen, des Denkzusammenhangs und des sittlichen Weltzusammenhangs, die bisher die naive Voraussetzung all seines Denkens gebildet hatte. Man begreift, wie diese Forderung, nachdem er sie einmal in ihrer vollen Schärfe erfaßt hatte, Kleist aufs tiefste erschüttern mußte. Denn nun war für ihn die moralische Begreiflichkeit der Welt überhaupt aufgehoben. Die „Wahrheit“, die wir mit unserem Verstände theoretisch einzusehen vermögen, hatte zum mindesten ihren universellen, ihren kosmischen Sinn eingebüßt Die Struktur des Alls, der „Plan der Vorsehung“ bleibt für uns in undurchdringliches Dunkel gehüllt Der Geist, der über die Welt herrscht — so schreibt Kleist später einmal an Rühle — kann im tiefsten Grunde seines Wesens kein böser Geist sein; aber er ist und bleibt ein unbegriffener Geist. Die Last dieser Unbegreiflichkeit hat Kleist von nun ab tiefer und tiefer empfunden. Die traditionelle Optimismus seiner Jugendphilosophie wandelt sich jetzt in die ihm eigene dichterische, in die eigentlich tragische Weltanschauung. ln allen seinen Dichtungen, iir den Schroffensteinern und im Kohlhaas, in der Penthesilea, in der Marquise von O . . ., im Erdbeben von Chili ist dieser neue Ton vernehmbar. Die Menschen bei Kleist, die dichterischen Gestalten, in denen er sein eigenes Wesen am tiefsten ausgeprägt hat, streben alle leidenschaftlich nach Klarheit; — sie fordern diese Klarheit als ihr sittliches Grundrecht. „Gott der Gerechtigkeit“ — so ruft Sylvester in den „Schroffensteinern“ aus — „Sprich deutlich mit dem Menschen, daß er ’s weiß auch, was er soll!“ Aber dieser Rui bleibt ungehört, Sylvester muß erfahren, daß ein grausiger Zufall, ein sinnlos-tückisches Geschick mit ihm gespielt hat: „’s ist abgetan, wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen!“ … Die Welt wird dem Menschen, der Mensch wird sich selbst zum Rätsel, weil Gott es ihm geworden ist. Keine Anstrengung des Denkens vermag dieses Rätsel zu entwirren: wir können nur versuchen, ins Unbewußte hinabzugleiten und in ihm Vergessenheit zu finden. Sonst waren die Augenblicke“ — so schreibt Kleist in der Zeit der intellektuellen Krise, im Mai 1801 — wo ich mich meiner selbst bewußt ward, meine schönsten — jetzt muß ich sie vermeiden, weil ich mich und meine Lage fast nicht ohne Schaudern denken kann.“ Aber dieses Bestreben, ins Unbewußte unterzutauchen und in ihm vor den unlöslichen Widersprüchen des Seins und des Denkens Rettung zu finden, bleibt bei Kleist von den eigentlich romantischen Tendenzen nichtsdestoweniger klar geschieden. Auch die Romantik verkündet die Lehre von der Irrationalität des Seins, vorTder-Ohnmacht des Denkens, die Wirklichkeit zu erfassen. Aber was Kleist als einen harten Verzicht empfand, der ihn im Innersten erschütterte: — das bedeutet für sie nur die Gelegenheit, sich in freier Ironie über die Welt der Dinge und ihre angebliche Notwendigkeit zu erheben. Sie schwelgt in dem ] Gefühl der Unbegreiflichkeit des Seins, sie sucht es auf und steigert es, — weil sie darin erst der ganzen Macht der künstlerischen Phantasie bewußt zu werden glaubt. Von solchem ästhetischen Illusionismus ist Kleist weit entfernt. Was den Romantikern nur die willkommene Handhabe zu einem überlegenen Spiel der Einbildungskraft war: — das führt ihn zu einem tragischen Zusammenbruch seiner selbst und seiner inneren Welt. Es ist bezeichnend, daß die Romantik, trotz aller theoretischen Bemühungen und Spekulationen über die Tragödie, kein wahrhaft großes tragisches Kunstwerk geschaffen hat. Sie liebte es auf die unergründliche Dialektik des Seins, auf die „Lehre vom Gegensatz“ hinzuweisen; aber sie hat eben durch diese ihre ironisch-skeptische Gesamthaltung dem Gegensatz selbst seine Schärfe und seinen tragischen Ernst genommen. Kleist hingegen ist ganz erfüllt von diesem Ernst. Er sucht nicht die mystischen Schauer des Unbegreiflichen, nicht das Ineinander- , spielen und das Verschwimmen aller Formen der äußeren und inneren Welt: sondern er stellt beide Welten in klarem und scharfen Umriß gegeneinander, um darin freilich ihre Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit um so tiefer und leidvoller zu empfinden. In diesem Verhältnis des Innern und Aeußern, in dieser Stellung von „Seele“ und „Welt“, liegt erst der abschließende Zug von Kleists gedanklicher und dichterischer Gesamtansicht. Die romantische Phantasie drängt dahin, nicht nur das objektive, sondern auch das subjektive Sein aufzulösen; nicht nur die reale Bestimmtheit der Welt, sondern auch die Bestimmtheit des Ich preiszugeben. Wie in einer schwebenden und traumhaften Dämmerung gehen hier die Gestalten des Außen und Innen, die Bilder des Seins und die Bilder des seelischen Geschehens ineinander über. Die Bestimmtheit des Tragischen aber fordert die volle Bestimmtheit des Ich, fordert die Einheit und Geschlossenheit des Charakters und der Persönlichkeit. Diese Geschlossenheit ist es, die der Dichtung Kleists ihre Eigenheit gibt. Gegenüber aller Verwirrung des Weltlaufs, gegenüber aller unbegriffenen und im letzten Grunde unbegreiflichen Gewalt des Schicksals behauptet sich hier die innere Welt in ihrer Klarheit, ihrer Reinheit und Sicherheit. In dieser Hinsicht stellen alle dichterischen Gestalten Kleists den Kampf dar, den er selbst unablässig gegen Welt und Schicksal geführt hat. Von ihnen allen gilt, was er einmal von der Penthesilea gesagt hat: daß in ihr sein innerstes Wesen, der ganze Schmerz zugleich und der ganze Glanz seiner Seele liege. Die unbedingte und unbeirrbare Gewißheit des Gefühls, das sich niemals völlig im Wirrsal des äußeren Geschehens verliert, sondern sich aus diesem Chaos immer wieder in seinem eigenen unverbrüchlichen Gesetz herstellt, gibt die‘ durchgängige und einheitliche Richtung des tragischen Grundprozesses bei Kleist. Auch der Erzähler Kleist verweilt mit Vorliebe bei dieser Dialektik; bei diesem Gegensatz zwischen der Verwirrung der äußeren und der unaufheblichen und unzerstörbaren Ordnung der inneren Welt. Als Kohlhaas die letzte Bestätigung des Unrechts, das ihm widerfahren ist, erhalten hat, da zuckt in ihm „mitten durch den Schmerz die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigene Brust nunmehr in Ordnung zu sehen“. Die tragische Rückwendung aber liegt darin, daß er in dem Augenblick, da er dieser inneren Ordnung äußere Geltung zu verschaffen sucht, wieder der Gewalt, dem Unrecht und der unbegreiflichen Verkettung des Aeußeren verfällt. Statt die Welt zu retten und einzurenken, verwirrt und vernichtet er das eigene innere Sein. Sein Rechtgefühl, „das einer Goldwage glich“ wird jetzt zu einer „Schwärmerei krankhaftester und mißgeschaffener Art“, die ihn und die Welt um ihn her zerstört.
Von einer anderen Seite her erblicken wir den gleichen tragischen Prozeß dort, wo er sich uns nicht im Tun, sondern im Leiden darstellt — wo die innere Welt, statt zu versuchen, ihre Regel dem äußeren Sein und Geschehen aufzuprägen, sich rein in sich selbst zurückzieht und sich damit in sich selbst herstellt. Wir legen diesen Gegensatz nicht bloß durch eine äußerliche begriffliche Reflexion in die dichterischen Gestalten Kleists hinein: sondern er selbst hat ihn empfunden und mit überraschender Schärfe ausgesprochen. Vom Käthchen von Heilbronn sagt er einmal, daß es die „Kehrseite der Penthesilea“ sei: ein Wesen, das eben so mächtig sei durch gänzliche Hingebung, als jene durch Handeln. Und er wiederholt diese Aeußerung und gibt ihr eine noch bestimmtere begrifflichepigrammatische Zuspitzung in einem Briefe an Collin: „wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein; sie gehören ja wie das-j- und— der Algebra zusammen und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Bezeichnungen gedacht“. Diese Entgegensetzung ist keine einmalige und zufällige,, sondern sie geht durch die gesamte Kleistische Dichtung hindurch. So gewinnt die Marquise von O … bei allem Unbegreiflichen, das sie umgibt, die innere Ruhe und Sicherheit wieder, indem ihr Verstand, „stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen gibt“. Hierin erst offenbart sich ihr wahrhaftes, rein innerlich gerichtetes Heldentum. Und derselbe Zug ist es, der offenbar ein Grundmotiv für Kleists Konzeption der Erzählung „der Zweikampf“ gebildet hat. Den Stoff für diese Novelle hat Kleist aus der Chronik Froissards geschöpft — und er hat ihn in der „Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs“, in den „Berliner Abendblättern“ in wesentlich unveränderter Gestalt nacherzählt. Aber eigentliche dichterische Form gewann für ihn dieser Stoff erst durch das neue Moment, das die Kleistische Erzählung hinzubringt: durch die Kraft, mit der Littegarde das Gefühl, das in ihrer Brust lebt, „wie einen Felsen emportürmt“ und es gegen Himmel und Erde, gegen den vernichtenden Schuldbeweis des göttlichen Urteils selbst behauptet. Auch das Gottesurteil gewährt keine zweifellose und sichere Antwort; sondern es wird, als Rekurs auf ein äußeres Beweismittel, selbst in die Fragwürdigkeit und Zweideutigkeit alles Aeußeren verstrickt. Aber indem, auch dieser höchsten Macht und Autorität gegenüber, die innere Welt nicht an sich selber irre wird, entdeckt sich ihr damit der wahrhafte Mittelpunkt, vor dem aus sich nun die Klarheit über Inhalt und Sinn des Geschehens wiederherstellt. Nicht dem Verstände, nicht der Abwägung der „Beweisgründe“, gibt sich der unbegriffene Geist der in der Welt waltet, zu erkennen. „Wo liegt die Verpflichtung der höchsten göttlichen Weisheit — so sagt Friedrich im »Zweikampf zu Littegarde — die Wahrheit, im Augenblick der glaubensvollen Anrufung selbst, anzuzeigen und auszusprechen?“ Die geheimnisvolle innere Ordnung läßt sich durch kein zudringliches Fragen und Forschen enträtseln; — dem Menschen muß es genügen, wenn er, indem er sich unter sie gefangen gibt, die Sicherheit des eigenen Selbst bewahrt. Auch Alkmenes Gestalt und Alkmenes Geschick stellt sich für Kleist im Lichte dieser Gesamtahschauung dar: — und von ihr aus empfängt seine Behandlung des Amphitryon-Stoffes erst ihr unverkennbar eigenes Gepräge, gewinnt sie dasjenige, was Kleist von Moliere scheidet und was den Kleisfschen „Amphitryon“ zum Werk eines großen tragischen Dichters macht.
Auch das Verhältnis Kleists zu Goethe und der Gegensatz zwischen beiden läßt sich von diesem Punkt aus genauer verstehen. Wenn Nietzsche sagt, daß Goethe sich von Kleist ab-gewandt habe, weil er an ihm das Tragische, die „unheilbare Seite der Natur“ empfand, während er selbst „konziliant und heilbar“ war, so ist in diesem Urteil nur der Gegensatz selbst, nicht das geistige Motiv, aus dem er zuletzt stammt, bezeichnet. Dieses Motiv liegt vielleicht darin, daß Goethe nicht nur in der Zeit des vollendeten Klassizismus, sondern von den ersten Anfängen seiner dichterischen Entwicklung an der Welt und der „Natur“ von einer ganz anderen Seite her naht, als Kleist. Ihm wird die Welt im pantheistischen Naturgefühl des Lyrikers lebendig und von innen her verständlich: — und was dieses Gefühl ihm gegeben hat, das wird ihm später in der Arbeit der wissenschaftlichen Forschung, in der fortschreitenden Vertiefung der „scientia intuitiva“ die er vom Ganzen des Seins und Werdens erringt, Zug für Zug bestätigt. So empfindet er alles, was ihm als Dichter oder als Forscher gelingt, als die unmittelbare Bewährung jenes ersten Grundgefühls: als eine „aus dem Innern am Aeußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit erahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt“. Und diese Harmonie des Goetheschen Weltgefühls wird nun in der klassischen Zeit zu einer Forderung, zu einem unbedingten Postulat der ästhetischen Theorie Goethes erhoben. Die Kraft und Größe, wie die sachliche Schranke dieser Theorie liegt in diesem Zusammenhang begründet. „Suchet in euch — so ruft Goethe einmal den jungen Künstlern zu — „so werdet ihr alles finden, und erfreut euch, wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine Natur liegt, die Ja und Amen zu allem sagt, was ihr in euch gefunden habt!“ Eine solche Natur, ein „Draußen“ zu finden, das seiner inneren Forderung wahrhaft entsprochen hätte: dies bleibt Kleist versagt. Er sieht, seit er auf die ersten unreifen Versuche einer theoretischen Theodizee verzichtet hat, nur die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Gesetz der inneren und dem der äußeren Welt, zwischen dem Gefühl und der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“. Denn was ihn fesselt, ist nicht das Bild der Natur, zu deren Fülle und deren „großartiger Konsequenz“ sich Goethe aus aller Verworrenheit des menschlichen, des sozialen Seins immer wieder geflüchtet hatte; sondern ihn bewegt von Anfang an das menschliche Geschick in seiner Unbegreiflichkeit, in seiner Irrationalität und seinem Widerspruch. Mit so vollendeter gegenständlicher Deutlichkeit Kleist in seinen Briefen und seinen Erzählungen jeden Zug seiner Menschen und jeden kleinsten Zug des objektiven Geschehens hervortreten läßt, so sparsam, so verschlossen und kärglich ist er mit jedem Ausdruck unmittelbarer lyrischer Naturempfindung. Wenn er einmal — wie im Erdbeben von Chili — ein vollendetes landschaftliches Gemälde schafft, so soll auch dies ihm nur einen augenblicklichen lichten Hintergrund bilden, von dem sich die tragische Verwirrung menschlicher Schicksale um so schärfer abhebt. Aber wenn Goethe sich von diesem Kleistischen Bilde des Seins abwandte, — wenn er in ihm nur Hypochondrie und selbstquälerische Störung der „ewigen Harmonie des Daseins“ sah, so war dieses Urteil freilich einseitig und ungerecht; denn es ahnte nichts von dem seelisch-geistigen Gesamt-zusammenhange, aus welchem die dichterische Welt Kleists herauswuchs und durch den sie bestimmt bleibt.
Wir betrachten indes hier diese Grundform der Kleistsdien Dichtung nur insoweit, als sich in ihr zugleich der fundamentale Wandel in seiner theoretischen Grundanschauung widerspiegelt. Man begreift jetzt, was die Erschütterung, die Kleist durch die kantische Philosophie erfahren hat, auch für seine dichterische Entwicklung bedeuten mußte. Hier erst war er an dem einheitlichen Telos der Welt, das seine erste jugendliche Philosophie noch unbekümmert vorausgesetzt hatte, irre geworden: hier erst sah er sich, auch von der Seite der theoretischen Reflexion her, zu jenem durchgängigen Dualismus geführt, der bei ihm das tragische Grundmotiv bildet. Seine Gedankenwelt wird erst jetzt zum adäquaten Ausdruck seiner ursprünglichen seelischen Stimmungswelt. Auch seine Sprache und sein Stil gewinnen von nun ab eine neue Prägung. Noch verwertet er in seinen Briefen, in den Bildern, die er braucht, die Aufzeichnungen seines „Ideenmagazins“: aber die bewußte verstandesmäßige Absichtlichkeit, mit der er zuvor versucht hatte, wissenschaftlich-theoretisches Material in Material der Anschauung und der bildenden Phantasie umzumünzen, tritt von jetzt ab mehr und mehr zurück. In dem Maße, als das Gefühl sich des eigenen Gesetzes und der eigenen Unergründlichkeit bewußt wird, gewinnt es auch seine eigene Sprache und Ausdrucksform. Was Kleist erfahren hatte, schien der völlige Zusammenbruch seiner intellektuellen Welt zu bedeuten: aber aus ihm rang sich nun seine Gefühls- und Phantasiewelt erst wahrhaft durch und stellte sich in ihrer Bestimmtheit und individuellen Eigentümlichkeit in objektiven künstlerischen Gestalten dar.
Ist Kleist nach der Epoche, in der er enttäuscht und verzweifelt alles Wissen von sich warf, nochmals zu Kant und seinen Schriften zurückgekehrt? Es gibt dafür, soviel ich sehe, keinen unmittelbaren und zweifellosen Beweis; aber eine Reihe äußerer und innerer Anzeichen deutet in der Tat darauf hin. Die Briefe Kleists werden freilich in bezug auf allgemeine theoretische Fragen immer schweigsamer und bieten immer geringeren Ertrag. Die breite Diskussion theoretischer Einzelprobleme, die den ersten Jugendbriefen Kleists eigentümlich ist, verschwindet in dem Maße, als Kleist sich mehr und mehr als Dichter erkennt und die neuen künstlerischen Pläne und Aufgaben von ihm Besitz nehmen. Immerhin zeigen seine kleineren Prosa-Aufsätze — von denen insbesondere die in Königsberg verfaßte Abhandlung „Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ auch ein wahrhaft theoretisches Meister- und Kabinettstück ist, — daß allgemein-psychologische und philosophische Fragen ihn noch vielfach beschäftigen. Eine Stelle des letzteren Aufsatzes, in der, unter Berufung auf Kant, auf die Sokratische „maieutische“ Kunst, auf die „Hebcammen-kunst der Gedanken“ hingewiesen wird, zeigt, daß Kleist damrds die kurz zuvor erschienenen, von Rink herausgegebenen Kan-tischen Vorlesungen über Pädagogik gelesen haben muß.1) Später wird in einer Rezension der .„Berliner Abendblätter“ eine Kantische. angeblich der „Kritik der Urteilskraft“ entnommene Aeußerung erwähnt, daß der menschliche Verstand und die Hand des Menschen zwei auf notwendige Weise zueinander gehörige und aufeinander berechnete Dinge seien. Reinhold Steig hat in seiner Ausgabe von Kleists kleinen Schriften, dieser Stelle, die in der „Kritik der Urteilskraft“ tatsächlich nicht aufzufinden ist, die Kantische Herkunft überhaupt absprechen wollen: — in Wahrheit handelt es sich jedoch um eine bekannte Aeußerung Kants in der Anthropologie, die Kleist hier in freier Weise wiedergibt. Das Zitat ist daher als solches freilich irrig; aber schon dieser Irrtum spricht dafür, daß Kleist die „Kritik der Urteilskraft“ wirklich gekannt haben muß. Auch aus seinem äußeren Lebensgang wird man es für sehr wahrscheinlich halten müssen, daß er zur Kantischen Lehre im einzelnen und im ganzen, noch oft zurückgeführt wurde. Der Kreis, in den er, im Jahre 1805, in Königsberg eintrat, mußte für ihn eine solche Rückkehr fast unvermeidlich machen. Kant selbst war im Jahre zuvor gestorben; aber noch lebten diejenigen, die bis in sein höchstes Alter hinein, mit ihm in vertrautem Verkehr gestanden und die seine Persönlichkeit und Lehre noch aus unmittelbarer eigener Anschauung kannten. Mit dem Kriegsrat Scheffner trat Kleist, wie in Scheffners Selbstbiographie berichtet wird, kurz nach seiner Ankunft in Königsberg in näheren Verkehr; — und sein Studium der Staats- und Kommunalwissenschaften führte ihn dem Manne zu, der von allen Freunden Kants das tiefste Verständnis für sein geistiges Wesen und für das Ganze seiner Lehre besaß. Christian Jakob Kraus war von Kant selbst stets als eines der ersten spekulativen Genies geschätzt worden; Kants Biographen berichten, daß er ihn an Schärfe und Tiefe des Geistes mit Kep*ler zu vergleichen liebte. Nur Kraus’ peinliche Gründlichkeit und die bis zum Hypochondrischen gesteigerte Gewissenhaftigkeit, mit der er alle seine Arbeiten immer von neuem nachprüfte und umformte, ehe er sich zu ihrer Herausgabe entschloß, haben ihn an der Abfassung größerer theoretischer Werke gehindert und ihn schließlich ganz ins praktische Feld gedrängt. Gewohnt auf intellektuellem Gebiet stets mit den höchsten Maßstäben zu messen, war er für sich selbst mehr und mehr jener „Misologie“ verfallen, die Kant schon frühzeitig an ihm bemerkt und beklagt hatte. Immerhin wird man annehmen dürfen, daß Kleist aus den Vorlesungen eines solchen Lehrers auch. manche tiefere und allgemeinere intellektuelle Anregung empfangen hat. Auch zu dem Manne, der jetzt in Königsberg den philosophischen Lehrstuhl Kants inne hatte, war Kleist, kurz nachdem er dort eingetroffen, in nahe Beziehungen getreten. Durch eine eigentümliche Verkettung der Umstände fand er in Traugott Wilh. Krug den Gatten seiner früheren Verlobten, Wilhelminens v. Zenge; und nach Ueberwindung der ersten Befangenheit kam es zwischen ihm und dem Krug’schen Hause bald zu einem täglichen vertrauten Verkehr. Daß hierbei zwischen Kleist und Krug auch philosophische Fragen zur Sprache kamen und daß Kleist dadurch mehr als bisher in die Einzelheiten der Kan-tischen Lehre eingeführt wurde, darf man vielleicht vermuten. Denn Krug war zwar in keiner Hinsicht ein selbständiger und schöpferischer Denker; aber er war immerhin ein getreuer Hüter des Kantischen geistigen Erbguts, das er festzuhalten und als Ganzes gegenüber den Spekulationen der Nachfolger zu behaupten suchte.
Bedeutsamer freilich als alle diese Erwägungen, die sich nur auf äußere Beziehungen stützen und die daher lediglich hypothetischen Wert besitzen, sind alle jene Momente, die in Kleists Schriften auf ein näheres Verhältnis zur Philosophie und insbesondere zur idealistischen Lehre hinweisen. Daß er der Entwicklung dieser Lehre gefolgt ist, ja daß er in sie mit einer eigenen und originalen gedanklichen Wendung eingegriffen hat: dafür enthalten namentlich Kleists spätere Abhandlungen aus den „Berliner Abendblättern“ mancherlei Belege. „Du schreibst mir“ — so heißt es z. B. in dem bekannten „Brief eines Malers an seinen Sohn“ — daß du eine Madonna malst und daß dein Gefühl dir, für die Vollendung dieses Werkes, so unrein und körperlich dünkt, daß du jedesmal, bevor du zum Pinsel greifst, das Abendmahl nehmen möchtest, um es zu heiligen. Laß dir von deinem alten Vater sagen, daß dies eine falsche, dir von der Schule, aus der du herstammst anklebende Begeisterung ist . . . Der Mensch, um dir ein Beispiel zu geben, das in die Augen springt, gewiß, er ist ein erhabenes Geschöpf; und gleichwohl in dem Augenblick, da man ihn macht, ist es nicht nötig, daß man dies mit vieler Heiligkeit bedenke. Ja derjenige, der das Abendmahl darauf nähme, und mit dem bloßen Vorsatz ans Werk ginge, seinen Begriff davon in der Sinnenwelt zu konstruieren, würde unfehlbar ein äußerliches und gebrechliches Wesen hervorbringen; dagegen derjenige, der in einer heitern Sommernacht ein Mädchen ohne weitere Gedanken küßt, zweifelsohne einen Jungen zur Welt bringt, der nachher auf rüstige Weise zwischen Erde und Himmel herumklettert und den Philosophen zu schaffen gibt.“ Hier ist neben dem Spott über eine verfehlte Tendenz in der bildenden Kunst die ironische Wendung gegen Fichtes Philosophie unverkennbar; wie denn in der Abwehr des Versuchs „den Begriff vom Menschen in der Sinnenwelt konstruieren“ zu wollen, sogar die Fichte’sche Terminologie, in parodistischer Nachahmung, sich vernehmen läßt. Bestimmter und in einem weit positiveren Sinne tritt sodann der Zusammenhang mit der gleichzeitigen Philosophie zutage, wenn Kleist, in der gedanklich-tiefsten und originellsten Abhandlung, die er geschaffen, in dem Aufsatz „Ueber das Marionettentheater“ seine eigene ästhetische Grundansicht entwickelt. Es sinjj Motive und Grundzüge der Kantischen und der Fichte-Schellingschen Philosophie, die hier überall die latente Voraussetzung bilden und denen Kleist freilich in der Anwendung auf das ästhetische Sonderproblem, das ihn beschäftigt, eine neue Bedeuutng und eine überraschende Konsequenz abgewinnt.
Kants „Analytik des Schönen“, wie sie sich in der „Kritik der Urteilskraft“ darstellt, findet ihren letzten Abschluß in der Lehre vom Genie. Das „Genie“ ist für die transzendentale Kritik der Ausdruck der ästhetischen Gesetzlichkeit selbst. In ihm herrscht nicht Willkür, sondern die höchste Regel; aber eine Regel, die nicht in der Reflexion und im abgezogenen Wissen, sondern nur im Schaffen selbst hervortritt. Es waltet unbewußt gleich der Natur selbst _ während das, was es hervorbringt, doch ein in jedem kleinsten Teile zweckvolles Ganze ist und daher als Werk der höchsten künstlerischen „Absicht“ erscheint. Es herrscht in ihm eine eigene Notwendigkeit — aber diese Notwendigkeit wird sofort zerstört, sobald wir versuchen, sie in die Form des Begriffs zu bringen und sie in abstrakt-allgemeinen Vorschriften auszusprechen. So treten in ihm Individualität und Allgemeingültigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Bewußtes und Unbewußtes in ein durchaus neues Verhältnis. Die Lehre, die Kant hier in methodischer Absicht aufstellt,‘ um die transzendentale Eigengesetzlichkeit des Schönen und der Kunst von der Gesetzlichkeit der Erkenntnis und des Willens kritisch abzugrenzen, wird für Schelling sodann zum eigentlichen Anfangsund Endpunkt, zum A und O der idealistischen Spekulation. Er verknüpft sie mit dem Gedanken der „produktiven Einbildungskraft“, aus dem heraus Fichte den Gegensatz von „Ich“ und „Nicht-Ich“ zu deduzieren und in all seiner Bestimmtheit genetisch zu entwickeln versucht hatte. Auch das, was wir das Sein, was wir die Welt der Dinge nennen, entsteht uns nach Fichte nur in einer unbewußten Schöpfertätigkeit. Diese Tätigkeit ist notwendig, sofern sie in unbedingten Gesetzen der Intelligenz gegründet ist und jegliche Einmischung der Willkür, die nur im eingeschränkten empirischen Ich ihre Stelle hat, schlechterdings ausschließt: — aber sie ist zugleich im höchsten Sinne als frei zu bezeichnen, da es nur das eigene ursprüngliche Wesen der Intelligenz ist, das sich in ihr ausprägt In einer gesetzlichen Stufenfolge entsteht auf diese Weise für das Ich der Inhalt seiner Empfindungswelt, entstehen die Formen von Raum und Zeit, entsteht die Welt der Körper, als der materiellen Objekte und die Mannigfaltigkeit der empirisch-psychologischen Subjekte. Fichte selbst hatte bereits — wenngleich nur in einem gelegentlichen Apercu — von diesem Punkte aus eine Brücke zur ästhetischen Spekulation zu schlagen versucht. Die Eigenart der Kunst — so spricht es eine Bemerkung im „System der Sittenlehre“ aus — besteht darin, daß sie „den transzendentalen Standpunkt zum gemeinen“ (d. h. zum natürlichen) macht. In der Kunst ist das, was auf dem Gebiete der Theorie und der begrifflichen Erkenntnis, auf dem Gebiet der eigentlichen Wissenschaftslehre, das eigentliche Problem bildet, unmittelbar aufgedeckt und aufgelöst. Die Eigentümlichkeit des theoretischen Ich, die die Wissenschaftslehre als solche zu begreifen und die sie als notwendig einzusehen sucht, besteht darin, daß sich ihm sein unbewußtes Produzieren in das fertige Produkt einer Welt verwandelt: in ein Produkt, das uns, so lange die transzendentale Reflexion uns noch nicht über seinen Ursprung aufgeklärt hat, als ein absolut selbständiges und fremdartiges Sein erscheinen muß. In der Kunst hingegen stellen wir zwar gleichfalls eine Welt der Anschauung objektiv vor uns hin: aber dies geschieht derart, daß wir sie dabei zugleich als die unsere, als ein Werk der produktiven Einbildungskraft wissen. Und von hier führt nun unmittelbar der Weg zu jener spekulativen Umgestaltung des Geniebegriffs weiter, die wir in Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ vollzogen sehen. Die genetische Methode des Schellingschen Idealismus zeigt uns, wie die „Natur“ sich stufenweise zum „Geist“ entfaltet, wie das „Unbewußte“ zum „Bewußtsein“ sich emporringt. Aber nachdem nun dieser Gesamtprozeß durchlaufen ist, stellt sich auf der obersten Stufe des Geistes selbst wieder eine eigentümliche Rückwendung ein. Die höchste geistige Tätigkeit erhebt sich ebenso hoch über das bloß reflektierende Bewußtsein, wie dieses reflektierende Bewußtsein sich über die bewußtlose Natur erhob. Das Ende des Prozesses kehrt zum Anfang zurück: das Schaffen des Genies steht, als unbewußtes, wieder der Natur gleich, während es sich als vollendeter Ausdruck des spezifisch-geistigen Tuns von ihr zugleich charakteristisch unterscheidet. —
Von diesen allgemeinen Prämissen aus begreift man erst ganz die besondere These, die Kleists Aufsatz über das Marionettentheater durchführt. Auch Kleist scheidet das Wesen der künstlerischen Tätigkeit scharf und bestimmt von allem begrifflichen, allem bloß reflektierenden Bewußtsein. Dieses letztere wirkt freilich, so lange wir uns gleichsam in der Mitte des ästhetischen Gebiets halten, so lange wir das künstlerische Durchschnittstalent und seine Leistung betrachten, überall als Faktor mit. Aber weit entfernt, den eigentlichen Gehalt der künstlerischen Leistung zu begründen, greift es in sie vielmehr störend und verwirrend ein. Alle echte künstlerische „Grazie“ beruht auf der Naivität, beruht also auf den Ausschluß der Reflexion. Wir müssen unter oder über ihr stehen, wir müssen die Reflexion entweder noch nicht erreicht oder sie wieder hinter uns gelassen haben, um der höchsten ästhetischen Forderung zu genügen. Das mechanisch-unbewußte Tun und die höchste geistige Spontaneität, — die Marionette und das Genie, sind in dieser Hinsicht für uns Ausprägungen ein und derselben Wahrheit. In dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, tritt die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervor. „Doch so wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so daß sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewußtsein hat; d. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott. Hier liegt der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander greifen. Wir müssen vorwärts, wir müssen die ganze Bahn der Erkenntnis durchmessen, um zuletzt wieder in den Stand der Unschuld zurückzukehren. „Das Paradies fet verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“. —
Freilich mußte sich in eben dieser epigrammatischen Wendung für Kleist wiederum das Unbefriedigende zeigen, das jeder bloß dialektischen Bezeichnung und Lösung der fundamentalen geistigen Probleme anhaftet. Die Antithese zur Reflexion, die hier aufgestellt ist, gehört selber noch ganz dem Gebiet und den Mitteln der Reflexion an. Ueber dies Gebiet scheinen wir uns erst wahrhaft erheben zu können, indem wir die Frage vom Denken in das Tun verlegen. Immer bestimmter nimmt Kleist, von dem Augenblick an, als die großen politischen Aufgaben der Zeit ihn ergreifen, diese Richtung. An die Stelle des Grnbelns und Spekulierens, an die Stelle der theoretischen Besinnung über allgemeine Ziele und Aufgaben, soll das entschlossene, auf das nächste praktische Ziel gerichtete Handeln treten. Hier wenn irgendwo muß die eigentliche Lösung der Konflikte des Daseins gesucht werden. Immer wieder wird in den „Berliner Abendblättern“ dieses Thema variiert: es findet sich ebenso in den „Betrachtungen über den Weltlauf“, wie in der Paradoxe „von der Ueberlegung“, in der parodistischen Aufstellung eines „allerneusten Erziehungsplans“ wie in der Betrachtung über „Wissen, Schaffen, Zerstören, Erhalten“ wieder.1) Im Tun allein liegt die Rettung; das Tun aber kann nicht warten, bis das Wissen mit seinen Erwägungen und Bedenken zu Ende gelangt ist. Es muß glauben und wagen; es muß in den Gang der Dinge eingreifen, unbekümmert darum, ob sich die Wirkung und der Erfolg dieses Eingreifens im voraus berechnen läßt Das aber ist eben das Grundübel der Deutschen, daß sie dieses unmittelbar befreiende Tun mehr und mehr verlernt haben. Ihr Verstand hat — wie es im „Katechismus der Deutschen“ heißt —, durch einige scharfsinnige Lehrer einen Ueberreiz bekommen; sie reflektieren, wo sie empfinden oder handeln sollten. Daß auch diese Bemerkung Kleists — so befremdlich dies vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag — in erster Linie auf Fichte zielt, kann kaum zweifelhaft sein; es wird durch die Epigramme, die Kleist im „Phoebus“ gegen den „Pädagogen“ Fichte und seinen Plan einer neuen Nationalerziehung gerichtet hat, unmittelbar bestätigt. Alle ,Pädagogik“ erschien Kleist jetzt nur noch wie ein beschwerlicher Umweg. Der Mensch braucht nicht erst durch eine ausgeklügelte Erziehung „gebildet“, er braucht nicht durch irgendwelches philosophische System, das doch stets von fragwürdigem Wert bleibt, künstlich gemodelt zu sein: es genügt, ihm die Bahn des entschlossenen Handelns zu weisen und ihn alsdann getrost den eigenen Kräften zu überlassen. Auf welch schwankender Grundlage stünde auch das Gebäude des menschlichen Glückes und die Zukunft des menschlichen Geschlechts, wenn es auf der Wahrheit irgendwelcher abstrakter Theorien beruhte! „Wie mißlich würde es mit der Sittlichkeit aussehen, wenn sie kein tieferes Fundament hätte, als das sogenannte gute Beispiel eines Vaters oder einer Mutter, und die platten Ermahnungen eines Hofmeisters oder einer französischen Mamsell. — Aber das Kind ist kein Wachs, das sich in eines Menschen Händen zu einer beliebigen Gestalt kneten läßt: es lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und eigentümliches Vermögen der Entwicklung und ein Muster aller innerlichen Gestaltung in sich.“ Man sieht, bis zu welchem Grade Kleist, der einst selbst ein so fanatischer Pädagoge gewesen war, jetzt allen Theorien gram geworden ist, sofern sie beanspruchen, den Vorrang vor dem Leben und Tun zu besitzen und beides nach ihrem Muster zu bilden. Daher bot ihm auch die so energische und aktive Richtung der Fichteschen Lehre kein Genüge. Fichtes System wollte im eigentlichen und radikalen Sinne Philosophie der Tat sein, aber es schien eben darum die Tat wieder durch die Philosophie zu ersetzen; es schien das Reflektieren über das Tun zum Ausgangspunkt und zur Bedingung des Tuns selbst zu machen. Der Politiker Kleist war es, der sich jetzt gegen diese Forderung des Theoretikers einer nationalen Politik wandte. Nehmen wir übrigens an, daß Kleist schon früher mit Fichte bekannt geworden war — daß die „Bestimmung des Menschen“ es gewesen war, die einst in ihm die entscheidende geistige Krise hervorgerufen hatte, so würde dadurch auch auf seine spätere Haltung gegen Fichte neues Licht fallen. Er hätte dann an sich selbst die zerstörende Kraft erfahren, die der theoretische Radikalismus besitzt, wenn er unmittelbar ins Leben eingreift und die Gesamtrichtung des Lebens zu bestimmen sucht: — und aus diesem Erlebnis heraus wandte er sich nun immer energischer gegen die bloße Spekulation und verwies ihr gegenüber, auf den unmittelbaren praktischen Entschluß und die praktische Tat als einziges Heilmittel.
Aber eben die nationalen und politischen Tendenzen, die Kleist jetzt ganz erfüllten, scheinen ihm nun auf der andern Seite ein neues Verständnis für die Ethik Kants und für ihren entscheidenden Gnindgedanken: für die Gleichsetzung von Autonomie und Freiheit eröffnet zu haben. Für diese letzte eingreifende Wandlung, die Kleists Verhältnis zu Kant erfahren zu haben scheint, läßt sich freilich aus den Briefen Kleists kein unmittelbares Zeugnis anführen. Aber die Dichtung Kleists spricht hier eine um so deutlichere und überzeugendere Sprache. Nur wer den Stil und Charakter dieser Dichtung völlig verkennt, könnte freilich daran denken ihr irgendwelche allgemeine philosophische „Ideen“ unterlegen und sie aus ihnen „erklären“ zu wollen. Aber wie der „Prinz von Homburg“ verglichen mit Kleists früheren dramatischen Werken, mit dem Guiscard und den Schroffensteinern, mit Käthchen und Penthesilea, einen völlig eigenen und neuen Stimmungsgehalt besitzt — so spricht sich in ihm unverkennbar auch eine neue geistige Gesamthaltung aus. Die tragische Problematik selbst hat sich hier vertieft und erweitert. Auch die Tragik des Prinzen von Homburg geht, wie die aller Kleistischen Gestalten, auf die „Verwirrung des Gefühls“ zurück, die er in sich erlebt. In dem Augenblick, in dem er sich im höchsten Triumphgefühl des Sieges und in leidenschaftlicher Liebe und Hingebung dem Kurfürsten naht, sieht er sich von diesem zurückgestoßen — sieht er sich der starren und fühllosen Strenge des Gesetzes überantwortet. Vergebens versucht er, in der Unterredung mit Hohenzollern, dem Unbegreiflichen den Glauben zu versagen, _ versucht er, den Tatsachen zum Trotz, sich auf sein innerstes Gefühl vom Kurfürsten zurückzuziehen: im Anblick des offenen Grabes bricht die Selbstgewißheit dieses Gefühls zusammen. Und nun ist alles andere, was seinem Leben Wert und Gehalt gab, zugleich vernichtet. Es ist ein tragisches Paradoxon, aber ein Moment von höchster psychologischer Wahrheit und Kraft, daß in diesem Augenblick, in welchem er allen ideellen Gehalt des Daseins versinken sieht, das Gefühl des Daseins selbst, der bloße Lebenstrieb als solcher in ihm um so mächtiger hervorbricht. Er klammert sich an die nackte Existenz, als das einzige, was ihm geblieben ist; er begehrt nur noch das Leben, ohne Inhalt und Zweck, im Kreis herumzujagen, bis es am Abend niedersinkt und stirbt. Denn noch begreift er die Macht, die ihm gegenübersteht, nur als eine physische Macht, der er seinen ungebrochenen und unbedingten physischen Lebenswillen entgegenstellt. Der Brief des Kurfürsten erst bringt die Peripetie, ln dem Moment, da der Prinz sich selber zur Entscheidung aufgerufen fühlt, ist diese Entscheidung bereits gefallen. Denn jetzt naht ihm sein Geschick nicht mehr als ein dunkler Zwang, gegen den er sich mit allen Kräften des individuellen Seins und der individuellen Empfindung zur Wehr setzt. Er versteht die Gewalt, der er unterliegt; und dieses Verständnis ist mit ihrer freien Anerkennung gleichbedeutend. In dem Gegensatz zwischen Ich und Welt, wie er sich sonst in der Dichtung Kleists darstellte und entfaltete, ist jetzt ein neues Motiv zur Geltung gelangt. Den Kleist’schen Helden war, gleichviel ob sie diesen Gegensatz leidend oder tätig auffaßten, ob sie sich gegen die „Einrichtung der Welt“ leidenschaftlich erhoben oder sich ihr unterwarfen, dennoch der eine Zug gemeinsam: daß sie sich der Welt als einem durch und durch Rätselvollen und Irrationalen gegenüber fanden. Sie konnten sich ihr mit ihrem Verstand gefangen geben und sich ihr in schweigender Duldung unterordnen; aber der unbedingten Klarheit und Sicherheit des Innern blieb doch stets das Aeußere, blieben Schicksal und Welt als dumpfe und unbegritfene Mächte, die den Menschen bestimmen, gegenüberstehen. Im Prinzen von Homburg aber stellt sich ein neues‘ Verhältnis der Grundmomente her, aus denen der tragische Gegensatz und die tragische Entscheidung hervorwachsen. Auch hier steht die individuelle Welt des Gefühls gegen eine „objektive“ Macht; aber diese Macht gehört selbst einer anderen Ordnung, als bisher, an. Es ist nicht die Objektivität des Seins und Geschehens, sondern die des Sollens, die den einzelnen bestimmt und bindet. Diese Objektivität aber kann nicht anders überwunden werden, als indem das Individuum sie frei anerkennt und sie damit in ihrem wahrhaft notwendigen Grunde begreift. „Des Gesetzes strenge Fessel bindet nur -den Sklavensinn, der es verschmäht“: wo die Forderung, die an den Willen des Individuums ergeht, in diesen Willen selbst aufgenommen wird, da hat sie ihre äußerliche zwingende Gewalt verloren.
Und nicht nur im Prinzen von Homburg selbst, sondern auch im Kurfürsten vollzieht sich eine analoge, wenngleich entgegengerichtete Entwicklung: und aus dem Gegeneinander dieser beiden inneren Bewegungen geht erst der eigentliche dramatische Grundprozeß hervor. Wie der Kurfürst zuerst dem Prinzen gegenübertritt, — da ist er nichts anderes als der Hüter und der Vollstrecker des objektiven Gesetzeswillens. Nur von dem reinen Inhalt des Gesetzes selbst, nur von seiner unbedingten und unbeugsamen Forderung ist die Rede; — nicht von dem Subjekt, an welches die Forderung ergeht. Nun aber, in dem Gespräch mit Natalie, offenbart sich mit einem Male, wie in dieser rein-sachlichen Haltung, in diesem Richterspruch, der ohne Ansehen der Person ergeht, auch der Anspruch und das tiefere Recht der freien Persönlichkeit verletzt ist. Und von dieser Einsicht erfährt nun auch die so geschlossene und festgefügte Welt des Kurfürsten eine innere Erschütterung. „Verwirrt“ und „im äußersten Erstaunen“ hört er den Bericht Nataliens an. In diesem Moment begreift und fühlt er, wie die Aufgabe des Rechts erst zur Hälfte erfüllt ist, wenn nur die objektiv rechtliche Ordnung als solche hergestellt und ihrem Gebot genügt wird. Wie er den Sieg verwarf, den Zufall und Willkür ihm errungen haben, so verwirft er jetzt auch eine Form des Rechtsspruchs, die auf Willkür gegründet scheint, weil sic sich an den passiven Gehorsam, statt an die eigene Hinsicht und an das subjektive Gefühl des Rechts selbst wendet. Hier erfaßt er die neue Aufgabe, die er von jetzt ab sich selbst und dem Prinzen gegenüber durchführt. Der eigentlich sittliche, nicht der physische Vollzug des Gesetzes liegt nicht in der tatsächlichen Vollstreckung des Urteilsspruches; er gehört nicht der Welt des Geschehens und Daseins, sondern der Welt des Bewußtseins an. Sobald im Bewußtsein des Prinzen die klare und sichere Entscheidung gefallen ist, bedarf es keiner weiteren rechtlichen Zurüstungen mehr: denn nur aus dem Mittelpunkt des Willens und der freien Persönlichkeit geht der wahrhafte, der eigentlich gesicherte Bestand der Gesetzesordnung selbst hervor.
Zwischen dem Kurfürsten und dem Prinzen aber steht Kottwitz, — und für ihn freilich gilt jene dialektisch-dramatische Entwicklung nicht, die sich in beiden vollzieht Denn er ist ganz aus einem Guß: er ist am Anfang, was er am Ende ist. Für ihn gibt es keinen Gegensatz zwischen dem. was sein Gefühl, was sein Herz und dem, was das Gesetz ihm gebietet: denn was er als seine Pflicht erkennt, das ist zugleich der Inhalt seiner Liebe und seiner freien Hingabe. So stellt sich hier, in der unmittelbar-konkreten Einheit der Persönlichkeit, die wahrhafte Synthese zwischen der objektiven Notwendigkeit des Pflichtgebots und dem Recht der freien Subjektivität her. Das ‚ Gesetz stellt die allgemeine Regel des Handelns auf; aber die Anwendung dieser Regel, die letzte Entscheidung darüber, was sie im gegebenen einzelnen Fall erheischt, kann nur aus der Kraft und aus der Selbstverantwortung des Individuums heraus erfolgen. Kein bloßes Schema, keine ein für allemal feststehende Schablone kann das Ich dieser ursprünglichen selbstverantwortlichen Entschließung entheben. Die Szene, in der Kottwitz vor dem Kurfürsten diese Grundanschauung verteidigt, ist ganz individuell, ganz dramatisch gestaltet; — sie entspringt aus der konkreten Anschauung der Situation und der besonderen Charaktere. Aber nichtsdestoweniger gewinnt diese Szene zugleich eine allgemeine ideelle Prägung. Die Rechtfertigung des Prinzen und seiner Tat geht wie von selbst in die Darlegung jenes „spitzfindigen Lehrbegriffs der Freiheit“ über, den Kott-witz nun vor dem Kurfürsten entfaltet. Von neuem zeigt sich darin, wie stark und einheitlich das dramatische Grundthema des „Prinzen von Homburg“ in den mannigfachsten Variationen durch alle besonderen Gestalten hindurchwirkt:
„Willst du das Heer, das glühend an dir hängt
Zu einem Werkzeug machen, gleich dem Schwerte
Das tot in deinem goldnen Gürtel ruht?
Der ärmste Geist, der in den Sternen fremd,
Zuerst solch eine Lehre gab! Die schlechte,
Kurzsicht’ge Staatskunst, die, um eines Falles,
Da die Empfindung sich verderblich zeigt,
Zehn andere vergißt, im Lauf der Dinge,
Da die Empfindung einzig retten kann!
Schütt’ ich mein Blut dir, an dem Tag der Schlacht,
Für Sold, sei’s Geld, sei’s Ehre, in den Staub?
Behüte Gott, dazu ist es zu gut!
Was! meine Lust hab’, meine Freude ich.
Frei und für mich, im stillen, unabhängig,
An deiner Trefflichkeit und Herrlichkeit,
Am Ruhm und Wachstum deines großen Namens!
Das ist der Lohn, dem sich mein Herz verkauft!“
Worte dieser Art, die ganz aus der unmittelbaren leidenschaftlichen Empfindung hervorquellen, wird man gewiß nicht als bloße dramatische Umschreibung irgendwelcher abstrakten „philosophischen“ Grundüberzeugungen deuten wollen. Und doch ist unverkennbar, daß Kleist jetzt, mitten in der Reinheit der künstlerischen „Gestaltung, zugleich in einer neuen Gedankenwelt steht, die ihn bestimmt und bewegt. Der Name Kants drängt sich hier unwillkürlich auf. Denn wer außer Kant hatte in dieser Schärfe und Klarheit den Gegensatz zwischen „Willen“ und „Willkür“, zwischen den wechselnden Antrieben des „subjektiven“ Affekts und der Objektivität und Notwendigkeit des allgemeinen und allgemeingültigen Gesetzes verkündet? Es braucht hier kaum der besonderen Hinweise: denn es handelt sich liier um das einheitliche immer wiederkehrende intellektuelle Motiv, aus dem das Ganze der Kantischen Ethik hervorgegangen ist. „Verstand, Witz und Urteilskraft — so heißt es in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ — und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgesetzen Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist.“ Dieser sittliche Grundwert des „Charakters“ kann nur im Widerstreit zu dem Spiel der Affekte und Gefühle gewonnen werden, die, so edel, so erhaben sie sich auch dünken mögen, sich doch zuletzt als bloße „Anwandlungen“ und „Aufwallungen“ ohne dauernde und fortwirkende Kraft erweisen. Von hier aus nimmt Kant den Kampf gegen die Willkür, den Ueberschwang und die Schwärmerei jeder bloßen Gefühlsbestimmung auf, durch den er — wie Goethe geurteilt hat — die Moral, die vor ihm schlaff und knechtisch geworden war, wieder in ihrer übersinnlichen Bedeutung aufrichtete und die Epoche von der Weichlichkeit zurückbrachte, in die sie versunken war. „Das ist noch nicht die echte moralische Maxime unseres Verhaltens, die unserem Standpunkte unter vernünftigen Wesen, als Menschen, angemessen ist, wenn wir uns anmaßen, gleichsam als Volontäre, uns mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht hinwegzusetzen und als vom Gebote unabhängig bloß aus eigener Lust das tun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nötig wäre. Wir stehen unter einer Disziplin der Vernunft und müssen in allen unseren Maximen der Unterwürfigkeit unter derselben nicht vergessen, ihr nichts zu entziehen oder dem Ansehen des Gesetzes (ob es gleich unsere eigene Vernunft gibt) durch eigenliebigen Wahn dadurch etwas abkürzen, daß wir den Bestimmungsgrund unseres Willens, wenngleich dem Gesetze gemäß, doch worin anders, als im Gesetz selbst und irf der Achtung für dieses Gesetz setzten.“ Hier ist das Moment bezeichnet, das für Kant, nach der psychologischen Seite hin, als die eigentliche Lösung der grundlegenden Antithese zwischen der Objektivität und Unbedingtheit des reinen Gesetzes und den subjektiven, menschlichen Triebfedern des Handelns erscheint Die Achtung vor dem Gesetz gehört selbst der Sphäre des Gefühls an: aber sie ist kein „pathologisches“ sondern ein rein ..praktisches“ Gefühl. Sie geht nicht aus der sinnlichen Rezep-tivität, sondern allein und ausschließlich aus der intellektuellen und sittlichen Spontaneität hervor. Kraft dieses ihres Ursprungs geht sie niemals auf Sachen, sondern jederzeit nur auf Personen. Und in diesem ethischen Grundbegriff der Person entdeckt Kant nun das neue Korrelat zum reinen Gesetzesbegriff: ein Korrelat, kraft dessen dieser selbst erst seinen vollen Gehalt und seine spezifisiche Eigenart gewinnt. Im Prinzip der Autonomie des Handelns geht der Gedanke des Selbst mit dem Gedanken des Gesetzes in eins zusammen. „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen . . . Der praktische Imperativ wird also folgender sein: handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
Vergegenwärtigt man sich diesen allgemeinen gedanklichen Umriß der Kantischen Ethik und stellt man ihm die dichterische Anschauungs- und Stimmungswelt des „Prinzen von Homburg“ gegenüber, so treten die feinen und tiefen Beziehungen, die zwischen beiden obwalten, sogleich zutage. Es bedarf hier keiner ins einzelne gehenden Parallelisierung: ja gerade eine solche würde das wahre geistige Verhältnis nur unzureichend und oberflächlich bezeichnen. Denn der „Prinz von Homburg“ ist ebensowenig als irgend ein anderes Kleistisches Werk, ein Thesenstück. Die Dialektik, die in ihm wirksam ist, ist durch und durch dramatische Dialektik, die nicht von Tendenzen und Ideen, sondern von Gestalten und Charakteren ausgeht. Aber eben in der Art, wie Kleist jetzt seine Menschen und ihre inneren Gegensätze sieht, prägt sich ein neuer Zug, eine veränderte Stellung zu der Gesamtheit der Lebensprobleme und der großen Lebensentscheidungen aus. Wir glauben zu erkennen, wie die Kantische Lehre bei’dieser inneren Wandlung mitgewirkt hat; — aber freilich hat hierbei ihre eigene Grundform eine bezeichnende Umgestaltung erfahren. Auf der Grundlage des Kantischen Pfliditbegriffs erwächst bei Kleist, im Zusammenhang mit den Antrieben der Zeit und mit seinen eigenen politischen Wünschen und Forderungen, eine neue konkrete Form des Allgemeinen: die Allgemeinheit eines neuen nationalen und eines neuen Staatsgefühls.
So glauben wir zu sehen, wie das, was Kleist mit Kant verbindet und was ihn von Kant trennt, nicht auf einen einzelnen Moment seines Lebens beschränkt bleibt, sondern wie dieses Verhältnis der Anziehung und Abstoßung in allen Lebensphasen, wenngleich in verschiedener Stärke und Deutlichkeit, wiederkehrt. Noch einmal tritt hier deutlich hervor, was Kants Philosophie, nicht als schulmäßiges System, sondern als unmittelbar lebendige geistige Macht für ihre Zeit bedeutet hat. Man hat von Kleist gesagt, daß er sich von den „Klassikern“ der deutschen Literatur, von Goethe, Schiller, Herder dadurch unterscheide, daß diese nicht nur als Künstler, sondern auch als vorbildliche Typen gewirkt hätten, die uns auf ein gemeinsames ideales Ziel der Bildung hinweisen. „Kleist gehört gar nicht zu den Förderern dieser dauernden Renaissance als ein Mann, der nie den Göttern der Vergangenheit oder der Gegenwart gedient, der nie eine Erziehungstendenz oder eine Humanitätsidee vertreten hat.“1) In der Tat wird man den eigentlichen Maßstab für Kleist, für sein Wesen und seine Dichtung immer nur seiner Individualität selbst, nicht der allgemeinen Entwicklung der deutschen Geistes- und Bildungsgeschichte entnehmen können. Das Gesetz und die innere Norm seiner Künstlerschaft steht dieser großen Entwicklungslinie als ein Eigenes und Selbständiges gegenüber. Auch wenn man versucht hat, das Ganze von Kleists Dichtung aus dem „metaphysischen“ Lebensgefühl, das in ihm wirksam war, zu begreifen und abzuleiten, so ist doch das Gefühl, auf das man hier hinzielt, so eigener Art und gehört so rein und völlig der Sphäre des Künstlers an, daß es sich sofort zu verdunkeln und zu verwirren scheint, wenn man versucht, es in die abstrakte Begriffssprache, in die Kategorien und Termini der systematischen Philosophie zu übersetzen. Aber gerade weil Kleist in dieser Weise abseits steht, empfindet man um so stärker die Beziehungen, die nichtsdestoweniger zwischen ihm und der großen intellektuellen Bewegung der Zeit bestehen. Für die tiefe Wirkung, die insbesondere die Kantische Lehre in allen geistigen Lebenskreisen geübt hat, ist gerade die Kraft, mit der sie auch in das Leben und Schaffen dieses Einsamen eingegriffen hat, der ihr eher zu widerstreben, als sie zu suchen schien, ein überzeugender Beweis.
Text aus dem Buch: Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie (1919), Author: Cassirer, Ernst
von Kunstmuseum Hamburg