Zwar sind die Zeugnisse über Balder nur spärlich, aber sie lassen ihn immerhin noch als eine lichtspeudende, jugendliche Gottheit erkennen. Baldery ags. Bealdor, an. Baldr ist von der Wurzel bal mit betontem tr—Suffix gebildet und bezeichnet den leuchtenden, Licht verbreitenden (gr. (pa).-ös licht). Idg. bhaltos bedeutet sowohl hell schimmernd, glänzend, wie schnell, kühn; beide Bedeutungen sind vielleicht auch für Balder anzunehmen (der kühne Licht- oder Glanzspender). Die alten englischen Königsgenealogien nennen als Vodens Sohn Baldaeg oder Balder. Baldaeg = der helle Tag, Glanztag, ist ein Beiwort Balders und bestätigt das Wesen und den Namen des Gottes. Auch aus dem westfränkischen Worte Bald-revert = der gleich Balder leuchtende ergibt sich derselbe Name mit der gleichen Bedeutung.
Unsere Kenntnis vom Mythus des Gottes bei den hochdeutschen Stämmen beschränkt sich im wesentlichen auf den zweiten Merseburger Zauberspruch:
Dem Zauberspruche, der beim Stillen des Blutes und Verbinden der Wunde seine Wirkung ausüben soll, geht eine kurze mythische Erzählung vorauf. Wie Wodans Spruch bei Balders Roß die Genesung erzielte, so soll es das (dreimalige) Hersagen des ganzen Liedes bei irdischen Pferden, die erkrankt sind; die Bemühung des Menschen wird unter göttlichen Schutz gestellt. Der erste Teil versetzt uns also auf mythischen Boden, der zweite enthält den eigentlichen Zauber, das Ganze dient zur praktischen Nutzanwendung.
Das Lied schildert einen Ritt der himmlischen Götter. Zwei Reiter, von vier Göttinnen begleitet, fahren zu Walde, d. h. reiten auf die Jagd: Wodan und Balder, Sinthgunt und Sunna, Volla und Frija. Unterwegs erleidet Balders Fohlen einen Unfall. Die Göttinnen versuchen dem Übel abzuhelfen; wie die germanischen Frauen die Wunden des Kriegers verbinden, sind ihre himmlischen Gegenbilder heilkundig gedacht. Aber ihre Kunst ist hier umsonst; erst Wodan gelingt es.
Vier Hauptpunkte treten hervor: der Ritt Phols und Wodans, die Verletzung von Balders Pferde, die vergebliche Besprechung des Schadens durch vier Göttinnen, endlich das helfende Eingreifen Wodans.
Die Vorstellung, daß die Lichtgötter ihren Weg reitend zurücklegen, ist uralt. „Grüß dich Gott, du heiliger Sonntag, ich sich dich dort herkomraen reiten“, beginnt ein alter Segen, und ein anderer aus Schwaben: „Sei mir willkommen, Sonnenschein, wo reitst du hergeritten?u Wenn das Fohlen, das Balder besitzt, nicht einfach das Streitroß bedeutet, so weist es auf eine jugendliche Lichtgottheit hin, eine Erscheinung des frühen Morgens. Das Straucheln des Pferdes hat also guten Sinn. Wenn der junge Lichtgott das Ende seines Weges erreicht, wird sein Roß lahm. Umgekehrt ist das Roß im Märchen, das die Sonne am Anfang ihrer Laufbahn reitet, schwarz, später grau, am Morgen dagegen weiß und glänzend.
Balder ist also nach dem Merseburger Spruche ein Lichtgott, mag man an das Zwielicht, das erste Aufleuchten des Tages oder an den Taggott selbst denken. Dann kann die Bein Verrenkung des Pferdes und dessen Heilung nur den täglichen Ritt des Lichtgottes zur Unterwelt, seinen Fall und seinen neuen Aufgang bedeuten. Befremdend ist, daß Wodan, der alte Nacht- und Sturmgott, den Lichtgott begleitet; man erwartet eher: der Gott des Zwielichtes und sein Vater Tius, der Tagesgott, reiten auf lichten Rossen am Morgenhimmel empor. Mit gutem Grunde hat man daher angenommen, daß die Heilung zu einer Tat Wodans umgedichtet sei, nachdem dieser sich zum Hauptgott aufgeschwungen hatte.
Die auffallende Reihenfolge, daß Wodan an zweiter Stelle genannt wird, sowie das starke Hervorheben „der es wohl verstand“ zeigen, daß er seinen Platz erst später in diesem Liede erhalten hat.
Füllet, die Üppige, auf römisch-germanischen Votivsteinen der Gardereiter aus der Zeit von 132—141 vielleicht Fortuna genannt, ist eine Hypostase der Frija, die Spenderin der Fruchtbarkeit; hier ist sie als Schwester aufgefaßt. Sie war in der Urzeit die Gemahlin des Himmelsgottes Tius, bis der nächtige Stürmer Wodan ihn stürzte und sein Reich und seine Gattin an sich riß. Frija- Volla muß also in dem Spruche als Wodans Gemahlin aufgefaßt werden; mithin muß Sunna-Sinthgunt in einem besonderen Verhältnisse zu Balder stehen. Sunna be deutet die Sonne, die Sonnengöttin, eigentlich ist sie dieselbe wie Frija; Sinthgunt} ihre Hypostase, ist gleichfalls als Schwester aufgefaßt, zwischen Sunna und Sinthgunt muß ein Zusammenhang bestehen. Es ist unmöglich, zwischen den reitenden Tagesgottheiten sich eine Nacht- oder Mondgöttin vorzustellen,
die Kampf jungfrau, die Nacht für Nacht waudelt(Sinnachtguntl. oder die streitbare Walküre, die vor der Türe der Totenhalle ihren Posten hat. Sindgund ist die wandelnde, eilende Göttin, die Gefährtin der eilenden Sonnengöttin, oder sie ist die Göttin, die ihren Weg erkämpfen muß, die zum Kampfe aus-geht. Aus den Eigenschaften der Frija und Sunna sind also selbständige Göttinnen entstanden. Ist aber Sinthgunt-Sunna ursprünglich ein Wesen, wie Volla-Frija, und gehört letztere als Gemahlin zu Wodan, so muß unbedingt ein mythisches Verhältnis zwischen Sinthgunt und Balder obwalten. Wie der Himmelsherr und die Himmelskönigin ein Paar bilden, so muß der junge Tag oder das Zwielicht und die Sonnengöttin zusammen gehören. Darauf deutet auch der sachliche Zusammenhang. Der Ritt der Götter erfolgt offenbar in einer gewissen Reihenfolge. Es kann nicht Zufall sein, daß Sinthgunt, die doch an Macht hinter Frija zurücktritt, zuerst Balders Fohlen zu Hilfe eilt und an erster Stelle unter den vier Göttinnen genannt wird. Sie muß an Balders Seite reiten, wenn sie zuerst den Unfall wahrnimmt. Ihr folgt ihre Schwester Sunna, dann das Schwesternpaar Volla und Frija und endlich Wodan. Dem Gatten Verhältnis Wodan-Frija entsprechend, muß Sinthgunt als Balders Gemahlin gedacht sein.
Ist aber Sinthgunt ein Beiname der Sunna, Volla ein solcher der Frija, so liegt es nahe, auch in Phol einen Beinamen des Gottes Balder zu sehen. Daß er nicht ein neuer Gott sein kann, zeigt der Zusammenhang. Er wird bei der Besprechung nicht weiter erwähnt, während doch Wodan, der schon in der ersten Zeile genannt war, noch einmal mit Namen auftritt. Das Beiwort ist lediglich aus metrischen Gründen für Balder selbst eingesetzt: Phol gab zu fuhren den fehlenden Stabreim.
Phol ist der Starke, Kräftige. Die mit Phol zusammengesetzten Namen zeigen, daß Phol und Balder sich durchaus entsprechen; ob als Brüder oder als Namen eines Gottes, mag dahin gestellt bleiben, der Merseburger Zauberspruch faßt sie jedenfalls als eine Gottheit auf. In Thüringen, unfern der Saale, finden wir Pholes-bruimo, jetzt Pfuhlsborn; Baldebrunno (Baldersbrunno) in der Rheinpfalz ist zweifelhaft. Von Pfuhlsborn geht die Sage, daß dort ein dem Götzen Pfui geweihter Tempel gestanden habe, der an der noch jetzt vorhandenen Quelle seinen Sitz hatte. Einem Baldenhain (Baldershain) entspricht vielleicht, einem Balderes leg (Hain) bestimmt ags. Poleslöah. jetzt Polsley: es gab also heilige Haine, die Balder-Pol geweiht waren. Ein Baltheresberghe wird 744 erwähnt; ein Polesworth liegt in Warwickshire. In einer zwischen 744 — 788 verfaßten Urkunde wird ein bayer. Ort Pholesouwa erwähnt, jetzt Dorf Pfalsau bei Passau; ein Pfalsau liegt auch an der Melk (Niederösterreich); uni 1138 wird ein Ort Pholespiunt genannt (piunt = eingehegter Garten oder Acker, Feldstück), jetzt Pfalzpoint an der Altmühl; in Pholeschirichün heißt es in den Urkunden von St. Gallen 855.
Das zweite Zeugnis für Balder ist zwar viel älter, aber weit unsicherer und noch dürftiger in seinem Inhalt als der doch auch nur Andeutungen gebende II. Merseburger Zauberspruch. Tacitus berichtet (Germ. 43): ..Bei den Nahamarvalen (südlich von Thorn und Bromberg) wird ein Hain uralter Götterverehrung gezeigt. Ein Priester in weiblicher Tracht steht dem Heiligtume vor, doch nennen die Berichterstatter als Götter, römisch aufgefaßt, Castor und Pollux. Dies das Wesen der Gottheit, ihr Name Alkis; obgleich es keine Bilder von ihnen gibt, verehrt man sie doch als Brüder, als Jünglinge Tacitus schildert hier den gemeinsamen Kult der van-dilisch-gotisehen Stämme, Pfleger und Hüter des Stammes-heiligtums sind die Nahanarvali. Tacitus hebt einmal das rein Germanische dieses Kultes hervor, sodann, daß die Ge-samtvorstellung, die er von diesen Göttern bekam, ihn an Castor und Pollux erinnerte: die beiden germ. Gottheiten sind auch Brüder und Jünglinge wie die griech. Dioskuren, aber es sind germanische Götter.
Aus den Worten des Tacitus läßt sich nicht ersehen, welcher Kasus Alcis ist, ob Dativ. Plur. von Alci oder Alcae, Nom. Sing, oder Nom. Flur. V Alces, got. alkeis erklärt man als die „lyeuchtendeu“, „Glänzenden“ (ags. eolh-sand Bernstein) oder als die „Schützer“; aber aus Iautgeschichtlichen Gründen ist ein Zusammenhang mit ahl „beschützen“, ags. ealgian, got. ahls (geschützter Ort = Tempel), lett. elks „Abgott“, gr. dkabcelv, ahn) undenkbar. Vielleicht sind die Alkis ein germanischer Dual, *Alki = „die Boten“ oder „Werber“ (lit. Aigis „Lohnmann, Bote“).
Wie die Seranonen bei den Erminonen, so sind die Nahanarvali bei den vandilischen Völkern Mittelpunkt der Kultusgemeinschaft. Da ihr Name nur bei Tacitus vorkommt, wird er mit dem Kultus und der Mythologie Zusammenhängen. Er ist vielleicht ein hieratischer Kultname, d. h. das Volk nannte sich nach der Gottheit, zu deren besonderem Dienst es von den andern Stämmen bestellt war. Die Nava-ner-vali werden als die erklärt, die sich die in der Schlacht zu tötenden Männer aussuchen (got. naus der Tote, ner Mann, dvr’jQ, waljan wählen), oder „die viel und oft töten und schlachten.“ Oder man deutet die Nahanarvali als die, die genug Wundmale aufzuweisen haben, Krieger von erprobter Tapferkeit (ahd. narwa Narbe, got. ganohs, ahd. ganögi), oder als die Totenkämpfer oder die Manngewaltigen.
Von diesen nordostgermanischen Dioskureu wissen wir außer der dürren Notiz bei Tacitus leider nichts; und was man durch kühne Rekonstruktion aus zerstreuten Trümmern und durch Vergleich mit andern indogermanischen Dioskuren-Mythen wieder hergestellt hat, ist geistvoll und blendend, aber doch nur das Erzeugnis eines modernen Mythologen. Allenfalls darf man annehmen, daß die Deutschen das Zwielicht als jugendliche, streitbare, rossebändigende Götter verehrt haben, wie die indischen Avins, die griechischen Dioskuren und die lettischen „Gottessöhne“. Ein deutscher Mythus aber von der Werbung des Himmelsgottes durch die Dioskuren um die Sonnenjungfrau, von der Untreue der Brüder, die durch Schätze die Gunst der Göttin gewinnen, und von ihrem schimpflichen Tode durch die Hand des erzürnten Gottes, ist in keiner Weise erkennbar, sondern ist nur eine wundervolle philologische Dichtung. Angenommen selbst, daß Balder wirklich einer der taciteischen Alkis ist, so hilft das doch zu einem tieferen Verständnis des Gottes nicht im geringsten weiter, wenn man sich auf das Tatsächliche beschränkt Und nur sehr vorsichtig darf man die Frage aufwerfen, ob vielleicht der Priester in weiblicher Tracht, der dem Heiligtume-der brüderlichen Alkis Vorstand, als Stellvertreter der Göttin (Sinthgunt-Sunna) aufzufassen istV Der Priester, der die Göttin Nerthus auf ihrer Umfahrt begleitete, war höchst wahrscheinlich der Vertreter ihres göttlichen Gemahles; ebenso fuhr bei den Schweden eine Priesterin mit der lebensgroßen bekleideten Bildsäule Freys auf einem Wagen im Lande umher, und es heißt geradezu, daß die Priesterin in wirklicher Ehegemeinschaft mit dem Gotte Frey lebte.
Text aus dem Buch: Deutsche mythologie in gemeinverständlicher darstellung (1906), Author: Paul Herrmann.
von Kunstmuseum Hamburg
Siehe auch:
Deutsche Mythologie – Seelenglaube und Naturverehrung
Deutsche Mythologie – Der Seelenglaube
Deutsche Mythologie – Die Seele als Atem, Dunst, Nebel, Schatten, Feuer, Licht und Blut
Deutsche Mythologie – Die Seele in Tiergestalt
Deutsche Mythologie – Die Seele in Menschengestalt
Deutsche Mythologie – Der Aufenthaltsort der Seelen
Deutsche Mythologie – Der Seelenkultus
Deutsche Mythologie – Zauberei und Hexerei
Deutsche Mythologie – Der Maren- oder Alpglaube
Deutsche Mythologie – Schicksalsgeister
Deutsche Mythologie – Der Mütter- und Matronenkultus
Deutsche Mythologie – Naturverehrung
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Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Elfen und Wichte
Deutsche Mythologie – Die elfischen Geister – Zwerge
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Deutsche Mythologie – Die Riesen – Name und Art der Riesen
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Deutsche Mythologie – Name und Zahl der Götter
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Deutsche Mythologie – Mythenansätze und Mythenkreise – Der Feuergott
Deutsche Mythologie – Mythenkreise – Licht und Finsternis. Gestirnmythen.
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Deutsche Mythologie – Der Kultus – Gottesdienst, Gebet und Opfer
Deutsche Mythologie – Der Kultus – Opferspeise
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Deutsche Mythologie – Der Kultus – Der Götterdienst itn Staatsverbande
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Deutsche Mythologie – Tempelfrieden
Deutsche Mythologie – Tempelschatz
Deutsche Mythologie – Götterbilder
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Der Anfang der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Die Einrichtung der Welt
Deutsche Mythologie – Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt – Das Ende der Welt